Wer ist Jude?

Eigentlich klingt es recht einfach. Die Antwort auf die Frage, wer Jüdin oder Jude ist, lautet aus halachischer Perspektive, also auf Basis der Religionsgesetze: Jeder Mensch, der eine jüdische Mutter hat.

Alternativ dazu gibt es noch die Möglichkeit zum Giur (hebr. Übertritt, Konversion). Die Konversion zum Judentum ist ein langwieriger Prozess, der die ernsthafte Absicht der Kandidaten voraussetzt. Im Unterschied zum Christentum oder Islam ist das Judentum keine missionierende Religion.

Doch das war nicht immer so. In der Torah als auch in anderen Teilen des Tanachs sowie einigen späteren Schriften wird bis hinein in das 2. Jahrhundert die Zugehörigkeit zum Volk Israel über die Patrilinearität definiert. Das zeigt sich auch daran, dass männliche Protagonisten in der biblischen Überlieferung immer wieder Verbindungen mit nichtjüdischen Frauen eingegangen waren, was nie als Problem angesehen wurde. So nahm Moses mit Zippora die Tochter eines midianitischen Priesters zur Frau und unter König Davids Gattinnen befand sich ebenfalls eine Philisterin. Auch galten die Kinder aus solchen Ehen stets als Juden.

Offensichtlich gewann die mütterliche Abstammungslinie erst viele Jahrhunderte später an Bedeutung. Eine These für diese Entwicklung, die selbstverständlich nicht von einen Tag auf den anderen geschah, sondern sich über einen längeren Zeitraum vollzog, lautet, dass die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Juden und dem mächtigen Römischen Reich der Grund seien. Oftmals wurden in diesen Konflikten Jüdinnen von römischen Legionären vergewaltigt. Deshalb sei es mitunter schwierig gewesen, die Vaterschaft eines Kindes zu kennen. Weil man aber immer wusste, wer die Mutter ist, habe sich schließlich die Matrilinearität durchgesetzt. Doch weil der Nachwuchs aus einer Beziehung zwischen einem nichtjüdischen Vater und einer jüdischen Mutter selbst noch in den Schriften des 3. Jahrhunderts wenig schmeichelhaft als „Mamser“ (hebr. Schandfleck) bezeichnet wird, muss es wohl andere Gründe zu geben.

So scheint das matrilineare Prinzip bereits in einigen älteren Schriften angelegt gewesen zu sein. Zum Beispiel lässt sich in einem Traktat der Mischna, der ersten wichtigen Sammlung religionsgesetzlicher Überlieferungen, folgende Textstelle finden: „Dein Sohn von einer Israelitin heißt ‚dein Sohn‘, dein Sohn von einer Nichtjüdin heißt aber nicht ‚dein Sohn‘, sondern ihr Sohn.“ (Kidduschin 68b). Demnach hätte bereits die Torah von den Kindern einer jüdischen Mutter und eines nichtjüdischen Vaters als Juden gesprochen. Zum umgekehrten Fall, also dem Sohn oder der Tochter eines jüdischen Mannes und einer nichtjüdischen Frau, gibt es aber keine Aussagen. Aus diesem Umstand heraus zogen die Rabbiner dann den Schluss, dass es eine Matrilinearität im Judentum schon immer gegeben hätte. Nur über die Gründe, warum man sich dazu entschied, sukzessive zu genau diesem Prinzip zu wechseln, äußern sie sich nicht.

Während in der Orthodoxie, aber auch im Konservativen Judentum an dem Prinzip der Matrilinearität so gut wie gar nicht gerüttelt wird, sieht es bei dem vor allen in den Vereinigten Staaten wichtigen Reform-Judentum – andere Bezeichnungen sind Liberales oder Progressives Judentum – etwas anders aus. Dort wird beispielsweise die patrilineare Abstammung seit 1983 anerkannt – vorausgesetzt die Kinder aus Beziehungen zwischen einer nichtjüdischen Mutter und einem jüdischen Vater werden jüdisch erzogen und sind von Anfang an in jüdische Strukturen eingebunden. Nach diesem Muster agieren ebenfalls die meisten anderen reformjüdischen Gemeinden in der Welt. Trotzdem sind in allen drei Strömungen die Diskussionen zu dem Thema noch lange nicht verstummt. Und in der Praxis sieht es so aus, dass orthodoxe oder konservative Rabbiner Giur-Kandidaten mit einem jüdischen Vater deutlich offener gegenüber eingestellt sind, was im Regelfall den Konversionsprozess beschleunigt.

–> Vaterjuden

Bereits in der Frage der Matrilinearität zeigt sich eine Ambivalenz, die die Antwort auf die Frage, wer Jüdin oder Jude ist, dann doch nicht ganz so einfach erscheinen lässt. Denn es ging immer auch um Herkunft und Abstammung. Vor über zweitausend Jahren war man Jude so wie man Assyrer, Ägypter oder Perser sein konnte. Es handelte sich vor allem um eine ethnische Kategorie. Oder anders formuliert: Juden waren die Bewohner eines bestimmten Territoriums, das sie über Jahrhunderte hinweg auch beherrschten. Dass sie eine ganz eigene Religion hatten, stand in diesem Kontext eher im Hintergrund, weshalb auch Konversionen zum Judentum wie sie in der Gegenwart praktiziert werden, damals kaum ein Thema waren. Dies sollte sich erst durch die Erfahrungen in der Diaspora und unter dem Einfluss anderer Kulturen ändern. Das babylonische Exil nach der Zerstörung des Ersten Tempels im 6. Jahrhundert, aber vor allem die Begegnungen mit der hellenistischen und römischen Welt erwiesen sich in diesem Kontext als besonders nachhaltig und prägend.

Nun definierten nicht mehr allein Herkunft oder Abstammung eine Zugehörigkeit zum Judentum, sondern zunehmend auch Sprache oder Lebensstil. Zugleich förderte die jüdische Diaspora, die bereits vor der Zerstörung des Zweiten Tempels durch die Römer im Jahr 70 v.d.Z. durchaus Realität war, die Entstehung von etwas ganz Neuem: Eine Art hybrides Kollektiv, das sowohl ein ethnisches als auch religiöses Selbstverständnis entwickelte und sich über ein eigenes normatives Regelwerk wie Beschneidung, Ritualbad oder Speisegesetze, Feiertage und anderer gemeinsamer Traditionen definierte, und zwar angepasst an die jeweiligen Lebensbedingungen im Exil und nicht gebunden an ein eigenes staatliches Gemeinwesen. Und die Heiligen Schriften sollten in diesem Kontext das werden, was Heinrich Heine einmal als das „portative Vaterland“ bezeichnete.

Damals bereits gab es Konflikte, die sich wie ein roter Faden bis in die Gegenwart hineinziehen. Gemeint ist damit ein Spannungsfeld, das immer wieder dann an Brisanz gewann, wenn eine Zivilisation über besonders starke Integrationskräfte verfügte, weshalb Fragen der Assimilation sowie der Aufgabe, Anpassung oder Aufrechterhaltung von Traditionen nicht nur für das jüdische Leben in einer hellenistisch oder römisch geprägten Umwelt von existentieller Bedeutung waren, sondern ebenfalls im Deutschland des frühen 20. Jahrhunderts oder aktuell in den Vereinigten Staaten. Vor diesem Hintergrund konnte es ohne Relevanz sein, ob sich Juden selbst als ethnische Gruppe oder als Angehörige einer Konfession betrachteten – oder bereits einen anderen Glauben angenommen hatten. Oftmals wurden solche Zuschreibungen ihnen von der Außenwelt aufgestülpt, was einen eigenen Handlungs- und Entscheidungsspielraum mitunter unmöglich machen sollte. Kurzum, andere bestimmten, wer Jüdin oder Jude war, wodurch sich das Judentum über die Herkunft oder gemeinsamen Traditionen hinaus auch der Charakter einer Schicksalsgemeinschaft zu eigen ist.

So gab es bereits im frühneuzeitlichen Spanien das protorassistische Konzept der „Limpieza de sangre“ (span. Reinheit des Blutes), das zwischen Alt- und Neuchristen unterschied und getauften Juden unterstellte, aufgrund ihrer Abstammung weiterhin jüdische Religionspraktiken heimlich weiter zu pflegen – auf der erzkatholischen iberischen Halbinsel ein Verbrechen, das häufig mit dem Tode bestraft wurde. Und in der religionsfeindlichen Sowjetunion gab es in den Ausweispapieren eine Rubrik „Nationalität“. Unabhängig davon, ob beide Elternteile nun jüdisch waren oder nur eines, wurden Personen darunter als „Juden“ gelistet, was nicht unbedingt von Vorteil im Alltagsleben sein konnte. Im nationalsozialistischen Deutschland dann erhielt das Abstammungsprinzip eine mörderische Dynamik. „Volljude“ war ein Person mit mindestens drei jüdischen Großeltern, wer nur eine jüdische Oma oder einen jüdischen Opa hatte, galt als „Mischling zweiten Grades“, was in jedem Fall Ausgrenzung, Diskriminierungen sowie Verfolgung bedeutete.

Auch in Israel wird die Frage, wer Jude ist, mitunter heiß diskutiert. Auf Basis des Rückkehrgesetzes, das jeder Jüdin oder jedem Juden das Recht zuspricht, nach Israel einzuwandern und die Staatsbürgerschaft zu erhalten, gilt bereits als Jude, wer ein einziges jüdisches Großelternteil vorweisen kann. Das hat zu vielen Streitigkeiten geführt, weil auf diese Weise insbesondere Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion im Alltag bei Eheschließungen oder im Fall von Beerdigungen Probleme mit den orthodoxen Autoritäten bekommen, die über Personenstandsfragen exklusiv entscheiden können. Das betrifft immerhin eine Personengruppe von mehr als 300.000 Israelis, die halachisch aus den unterschiedlichsten Gründen eben nicht als Juden gelten.

Aus dem Judentum austreten wie aus der evangelischen oder katholischen Kirche ist übrigens ebenfalls kaum möglich – auch wenn eine Art Ausschluss aufgrund von Ketzerei in der Vergangenheit des Öfteren geschah. Der bekannteste Fall dürfte wohl der des Philosophen Baruch de Spinoza, der aufgrund seiner bibel- und religionskritischen Haltung im 17. Jahrhundert in Amsterdam mit einem Bann belegt wurde. Wer aber als Jüdin oder Jude geboren wird, kann seinen Glauben offiziell wechseln oder in seinem Leben alle Ge- und Verbote wie die Einhaltung des Schabbats oder die Regeln der Kaschrut munter ignorieren. Aus halachischer Perspektive spielt das überhaupt keine Rolle – die Person ist und bleibt Jüdin oder Jude.

–> Vier Fragen zu jüdischer Identität