Ethische Fragen

„Wie soll ich handeln?“ Diese Frage steht auch im Mittelpunkt der jüdischen Ethik, und das bereits seit einigen Tausend Jahren. Die Diskussionen dazu und die Antworten darauf sind eng verknüpft mit der Torah sowie den in der Halacha genannten Verhaltensregeln. Schließlich beschränken sie alle sich nicht nur auf die religiöse Sphäre, sondern geben darüber hinaus ebenfalls Handlungsempfehlungen zu rechtlichen, gesellschaftlichen, aber auch zu ganz alltagsweltlichen Themenfeldern, beispielsweise wenn es um den Schutz des menschlichen Lebens, Fragen der Sexualmoral oder den Umgang mit anderen Menschen in Konfliktsituationen geht.

Ferner entwickelten sich bereits zu biblischen Zeiten Vorstellungen von einem ethischen Handeln, die in späteren Jahrhunderten unter Begriffen wie „Musar“ (hebr. Moral, Ethik) oder „Derech Eretz“ (hebr. Weg des Landes) in einem eigenen literarischen Genre, der sogenannten Musar-Literatur, mitunter recht kontrovers diskutiert wurden, woraus wiederum im Mittelalter und der Neuzeit eine ganz spezifisch jüdische Religionsphilosophie hervorging. Die Grundannahme, die hinter all dem stand, lässt sich vielleicht am Besten auf folgende Formel bringen: Die unzureichende Weisheit des Einzelnen und ein durch seine Lebenszeit zwangsweise beschränkter Erfahrungshorizont machen es für den Menschen geradezu notwendig, auf das kumulierte Wissen einer langen Tradition zurückzugreifen, um die „richtigen“ persönliche Entscheidungen treffen zu können. Vor diesem Hintergrund gewann auch die Frage, ob eine jüdische Ethik nun partikularistisch oder universell sein kann, an Brisanz, wobei die Meinungen dazu sehr unterschiedlich und immer kontextgebunden sind.

Aber nicht zuletzt wird es aufgrund der Existenz verschiedener Strömungen im Judentum manchmal schwierig, eindeutige Antworten auf ethische Fragen der Gegenwart zu finden, die dann für alle auch eine Gültigkeit besitzen. Und selbst innerhalb der Orthodoxie oder dem konservativen und reformorientierten Judentum kann es mitunter recht divergierende Auffassungen zu einzelnen Themen geben. Trotzdem lassen sich Normen und Ideale herausfiltern, an denen sich menschliches Handeln im Rahmen der jüdischen Kultur und Religion ganz generell orientieren sollte. Auch sind diese nie statisch. Neue philosophische, politische, aber auch medizinische, technische und gesellschaftliche Entwicklungen haben stets dafür gesorgt, dass existierende Wertevorstellungen immer wieder hinterfragt und neu verhandelt werden, weshalb dieser Prozess eigentlich nie als abgeschlossen gelten kann.

Tikkun Olam

„Tikkun Olam“ ist ein Begriffspaar, das in den vergangenen Jahrzehnten eine gewisse Konjunktur erlebt hat. Es ist hebräisch und bedeutet so viel wie „Wiederherstellung/Reparatur der Welt“. Seine Wurzeln hat „Tikkun Olam“ in der lurianischen Kabbala, also der jüdischen Mystik des 16. Jahrhunderts. Die Ursprungsidee hinter dem Konzept: Alle Juden können durch die Einhaltung der Mitzwot, womit die 613 Ge- und Verbote im Talmud gemeint sind, sowie regelmäßige Gebete, aber vor allem durch gute Taten nicht nur ihre eigene Seele heilen, sondern ebenfalls einen Beitrag zur Heilung der Welt und des Kosmos beizutragen. Kurzum, und das war das Revolutionäre an diesem Ansatz, jeder Einzelne von uns hat die Möglichkeit, durch sein ganz persönliches Handeln die Welt zu einem besseren Ort und letztendlich perfekt zu machen. Oder anders formuliert: Es liegt nicht allein in der göttlichen Macht, dies zu bewerkstelligen, auch das Individuum hat es in der Hand.

Die überdurchschnittlich hohe Beteiligung von Juden an der Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten gegen Ende der 1960 Jahre sowie ihr gesellschaftspolitisches Engagement in anderen Bereichen sorgten dafür, dass sich das Begriffspaar allmählich aus seinem religiösen Kontext herauslöste und eine weitere, viel wirkungsmächtigere Bedeutungsebene hinzugewann. Denn das Konzept „Tikkun Olam“ beinhaltet das Angebot, ethische Vorstellungen mit alltäglicher Praxis zu verbinden, um so eine bessere Welt zu schaffen, weshalb es übrigens nicht nur für Jüdinnen und Juden so attraktiv wurde. Und es lässt sich auf zahlreiche Bereiche des gesellschaftspolitischen Aktivismus übertragen, unter anderem auf den Naturschutz, den Kampf gegen den Klimawandel oder die Inklusion von marginalisierten Gruppen.

Darüber hinaus bietet das Ganze Jüdinnen und Juden, die ansonsten in ihrem Alltag wenig Berührungspunkte mit den Traditionen oder der Religion haben, die Option, in einem jüdischen Kontext Solidarität zu üben oder sich politisch und sozial zu engagieren. Genau deshalb konnte sich „Tikkun Olam“ auch als eine Art Schnittstelle zwischen säkularen und religiösen Lebensrealitäten so gut etablieren – es ist eben ein äußerst niederschwelliges Konzept. Im Alltag kann das Ganze viele Formen annehmen. Kinder und Jugendliche beschäftigen sich im Rahmen der Vorbereitungen zu ihrer Bar oder Bat Mitzwa mit einem Tikkun Olam Projekt, indem sie für Senioren einkaufen gehen oder Flüchtlingskindern Nachhilfe geben. Und in den jüdischen Gemeinden weltweit, auch in Deutschland, hat sich mittlerweile mit dem Verweis auf „Tikkun Olam“ der jährliche „Mitzvah Day“ etabliert, der mit vielen, sehr unterschiedlichen Aktionen begangenen wird, beispielsweise einen Kindergarten renovieren oder eine Parkanlage säubern.

Frauen im Judentum

Das Verhältnis zwischen den Geschlechtern ist ein zentrales Thema in der jüdischen Ethik. Grundsätzlich werden im Judentum Frauen und Männer als gleichwertige Geschöpfe Gottes angesehen. Auch kennen die Heiligen Schriften einen ganzen Pantheon charakter- und willensstarker Frauen, allen voran Jocheved, die Mutter von Moses oder die mutige Königin Ester, die den Plan des Goßwesirs Haman vereitelt, die Juden in Persien töten zu lassen. Wenn es aber um die Rollenverteilung oder Ausübung der Religion geht, sieht es schon ein wenig anders aus. So ist diese in der Orthodoxie sehr genau festgelegt. Während der gesellschaftliche Status vor allem über den Mann definiert wird, gilt der häusliche Bereich als Domäne der Frau, die zugleich immer auch als Mutter gesehen wird und damit als Fundament eines „jüdischen Hauses“. Das wird nicht nur als ihre Aufgabe, sondern auch als ihr Privileg gesehen, das einhergeht mit einem profunden Wissen um die Traditionen – schließlich ist das Führen eines Haushalts, in dem alle jüdischen Speisevorschriften eingehalten werden, so das dieser als koscher gilt, bereits eine Wissenschaft für sich.

Aber Orthodoxie ist nicht gleich Orthodoxie, weshalb in einigen ihrer Gemeinschaften Frauen wenig zu melden haben, Ehen ausschließlich arrangiert werden und Mädchen keine Ausbildung erhalten. In anderen dagegen ist es üblich, dass Frauen bei der Partnerwahl ein Wörtchen mitzureden haben, zum Studium an die Universität gehen oder einen ganz normalen Job ausüben. Was Frauen in der Orthodoxie aber grundsätzlich von den Männern unterscheidet, ist die Tatsache, dass sie keinen Zugang zum Torah- und Talmud-Studium haben, weshalb eine Jeschiwa, also ein jüdisches Lehrhaus, eine exklusiv männliche Angelegenheit bleibt. Zudem müssen sie in der Synagoge getrennt von den Männern Platz nehmen und verheiratete Frauen erkennt man oftmals an ihrem „Scheitel“, einer Perücke, die ihr Kopfhaar bedecken soll. Auch gibt es eigene Bekleidungsvorschriften, die je nach Gruppierung unterschiedlich ausfallen können, im Regelfall aber Beine und Arme der Länge nach verhüllen – all das soll die „Zniut“ (hebr. Sittsamkeit, Bescheidenheit) zum Ausdruck bringen.

Rabbinerinnen und weibliche Gelehrte aus unterschiedlichen Ländern und Zeiten, Foto: I.am.a.qwerty CC BY-SA 4.0

Im reformorientierten und auch konservativen Judentum sind Frauen den Männern dagegen in jeder Hinsicht weitestgehend gleichgestellt. Das heißt, die Geschlechtertrennung in der Synagoge findet nicht statt, Frauen werden im Gottesdienst ebenso wie Männer zur Lesung der Torah aufgerufen und sie können als Rabbinerinnen und Kantorinnen tätig werden. Auch die Bekleidungsvorschriften werden deutlich lockerer gesehen – selbst wenn das Konzept der „Zniut“ weiterhin Bestand hat, wohl aber unter anderen Vorzeichen. Und noch etwas hat sich in den vergangenen Jahren durchgesetzt: Analog zur Bar Mitzwa, gemeint ist damit der Moment, an dem Jungen ihre Religionsmündigkeit feiern und zum ersten Mal in ihrem Leben zur Lesung der Torah aufgerufen werden, hat sich bei Mädchen die Bat Mitzwa etablieren können – eine neue Tradition, die auch jenseits der reformorientierten und konservativen Judentum langsam an Popularität gewinnt und zur Selbstverständlichkeit geworden ist.

Homosexualität

Alle Religionen hatten mit dem Thema Homosexualität in der Vergangenheit ihre Schwierigkeiten oder haben sie immer noch – das Judentum ist da keine Ausnahme. Sehr wohl aber hat sich das Verhältnis in vielerlei Hinsicht entspannt. Wer sich heute als schwul, lesbisch, bi- oder transsexuell definiert, wird vor allem in den Gemeinden, die dem reformorientierten oder konservativen Judentum nahe stehen, kaum noch auf Schwierigkeiten stoßen. Selbstverständlich geschah dies nicht von Heute auf Morgen, auch hier mussten Vorbehalte und negative Stereotype erst mühsam überwunden werden. Vorreiter dabei waren Juden in den Vereinigten Staaten, was nicht weiter verwundert, weil dort die größte jüdische Gemeinschaft der Welt lebt, die sich schon früh ausdifferenzierte. 1972 bereits gab es in Los Angeles die erste Synagoge, die gezielt Schwule und Lesben ansprach und spätestens seit 1990 gelten homosexuelle Juden im Reformjudentum als gleichberechtigte Gemeindemitglieder. Im Konservativen Judentum wurde diese Wende dagegen erst 2006 vollzogen. Aber auch bei der Frage, ob Schwule und Lesben heiraten dürfen oder Rabbinerinnen und Rabbiner werden können, wurden in den Jahren danach bei beiden Strömungen sukzessiv die allermeisten Hürden beseitigt.

In der Orthodoxie sieht das dagegen noch anders aus. Ganz offiziell lehnt man Homosexualität generell ab, wobei der Sex zwischen zwei Männern als Todsünde gilt. Interessanterweise wird in diesem Kontext nur auf die männliche Homosexualität eingegangen, die weibliche scheint für die religiösen Autoritäten kaum zu existieren, weil sie in der Halacha auch keiner Erwähnung findet. Was aber nicht explizit verboten ist, müsste wie im Fall lesbischer Liebe dann eigentlich erlaubt sein. Doch so weit will man dann auch nicht gehen.

Grundlegend für die negative Haltung ist die Sodom-Erzählung in der Genesis sowie das apodiktische Verbot, „bei einem Manne zu liegen wie bei einer Frau“ (Levitikus 18,22). Doch lassen sich manche der biblischen Geschichten auch anders lesen. Vor allem die Beziehungen von König David zu Jonathan, dem Sohn seines Kontrahenten König Saul, trägt deutlich homoerotische Züge, weshalb sich auf Basis der biblischen Texte ebenfalls Gegenteiliges herauslesen lässt. Und auch die Ablehnungsfront in der Orthodoxie scheint zu bröckeln, wenn beispielsweise prominente Rabbiner aus dem Umfeld der Yeshiva University in New York 2010 empfehlen, dass man Homosexuellen empathischer gegenüber auftreten soll. 2016 äußerten sich ebenfalls einige dutzend orthodoxe Rabbiner in Israel zu diesem Thema und sprachen davon, dass Schwule und Lesben durchaus Aufgaben innerhalb der Gemeinden ausüben dürften.

Queer in Israel

Sexuelle Vielfalt wird in Israel nicht nur toleriert, sondern ist auch gesetzlich geschützt. Im Vergleich zu anderen Ländern geschah das im Rekordtempo. So fielen beispielsweise die Schranken beim Militär erst 1993. Seit 2002 kann man in Tel Aviv seine homosexuelle Partnerschaft eintragen lassen, um in den Anspruch von Vergünstigungen zu kommen, die für heterosexuelle Paare selbstverständlich sind. Nach 2005 wurde ebenfalls die Adoption von Kindern möglich. Auch offen schwul oder lesbisch lebende Politiker gibt es mittlerweile einige. Nur mit dem Heiraten ist es schwierig, weil es keine Zivilehe gibt und in allen Fragen dazu die religiösen Vertreter des Judentums, des Islams und des Christentum exklusiv das Sagen haben. Wer aber beispielsweise in Norwegen oder in Kanada den Bund fürs Leben im Standesort einging, dessen Ehe wird in Israel vom Innenministerium anerkannt, was sowohl für heterosexuelle als auch für homosexuelle Partnerschaften gilt – es ist also machbar, nur der Weg dahin ist etwas komplizierter.

Tel Aviv steht heute im Ruf, eine der LGBTQ-freundlichsten Städte der Welt zu sein. Auf der sogenannten „Pride Parade“ kommen jedes Jahr über 250.000 Menschen zusammen, was auch als Zeichen der gesellschaftlichen Akzeptanz gesehen werden kann. Trotzdem muss zwischen der größten Stadt Israels und der Peripherie unterschieden werden. Ein schwules oder lesbisches Leben stößt in Jerusalem schon mal an seine Grenzen, unvergessen die Bluttat eines ultraorthodoxen Juden an der 16-Jährigen Shira Banki 2015 auf der „Pride Parade“ in der israelischen Hauptstadt. Und auch in den arabischen Kommunen bleibt die Ablehnung von allen nicht-heterosexuellen Beziehungen weiterhin stark.

Leihmütter und künstliche Befruchtung

Generell ist eines der wichtigsten Gebote in der Torah, Kinder zu haben, so dass die Frage nach dem Nachwuchs eine sehr zentrale ist. Kinderlosigkeit gilt im Judentum fast schon als Stigma. Deshalb gibt es in der jüdischen Ethik auch zu den Themen künstliche Befruchtung und Leihmütter rege Diskussionen. Gegen Erstere haben die religiösen Autoritäten wenig Einwände seitens, und wenn ja, beziehen sie sich auf die Art und Weise, wie das Sperma „gewonnen“ wurde, weil ein Vergeuden desselben laut den Heiligen Schriften verboten ist. Und stammen Samen und Eizelle von einem bereits verheiratetem Paar, ist es sowieso kein Problem – schließlich sind beide potenziellen Elternteile ja bekannt.

Anders dagegen die Leihmutterschaft. Da beginnen die Meinungen bereits bei der Beantwortung der Frage, wer am Ende die Mutter ist, auseinanderzugehen. Diejenige, die das Kind austrägt, oder aber die Frau, von der die Eizelle stammt? Oder sind es beide? Und was ist, wenn die Leihmutter nicht jüdisch ist? Muss der Nachwuchs dann erst noch konvertieren? Sogar Erbschaftsfragen können dann relevant werden, falls das so gezeugte Kind den halachischen Status eines „Mamsers“ (hebr. Bastard, außerehelich Gezeugter) haben sollte. Die Tatsache, dass einige Gelehrte wie Rabbi Schlomo Ben Jitzchak, auch Raschi genannt, sagen, dass ein Mann bereits unmittelbar nach der Zeugung Vater ist, eine Frau aber erst bei der Geburt ihres Kindes Mutter wird, zeigt, wie schwer es ist, eindeutige Antworten auf diese Fragen zu finden.

In der Praxis sieht es so aus, dass Israel die Leihmutterschaft für verheiratete Paare via In-vitro-Fertilisation (IVF) als erstes Land weltweit 1996 per Gesetz ermöglichte – die Kosten übernimmt wie bei der künstlichen Befruchtung mitunter sogar die Krankenkasse. Bei dieser Methode können sowohl Eizelle als auch Sperma von den Wunscheltern stammen, weshalb die Leihmutter selbst nicht mit dem Kind, das sie austrägt, verwandt sein muss. Konkret bedeutet dies, dass man auch als Single oder homosexuelles Paar, oftmals mit Hilfe einer Leihmutterschaft via IVF von Frauen aus ärmeren Ländern wie Nepal oder der Ukraine, sich seinen Kinderwunsch erfüllen kann, was mitunter auf Kritik von Frauenrechtlern, aber auch seitens der politischen Vertreter der Orthodoxie stößt, weil es sich bei um Nichtjüdinnen handelt oder Homosexuellen das Recht auf ein Kind abgesprochen wird.

Abtreibung

Aus halachischer Perspektive gilt eine Abtreibung nicht als Mord, sehr wohl aber als Tötung, weshalb sie verboten ist. Diesen kleinen, aber feinen Unterschied hat man gemacht, um das Leben der Mutter zu schützen, sollte dieses durch die Schwangerschaft oder Geburt eines Kindes in Gefahr geraten. Zudem sei ein ungeborener Fötus noch nicht in der ganzen Bedeutung des Wortes „Nefesch“ (hebr. Seele), worunter auch das verstanden wird, was einen Menschen zum Lebewesen macht, so dass die Option der Abtreibung durchaus existiert. Dieser Status ändert sich erst, sobald der größere Teil des Körpers des Kindes sich außerhalb des Mutter befindet, erst ab dann gilt es als gleichwertiger Mensch.

Ein Fötus, der die Gesundheit seiner Mutter physisch und psychisch bedroht, kann halachisch auch als ein „Rodef“ (hebr. Jäger) betrachtet werden, weshalb man sich gegen ihn zur Wehr setzen darf, was letztendlich einen Schwangerschaftsabbruch bedeutet. Dieser ist ebenfalls im Falle einer diagnostizierten Behinderung, die die Eltern, insbesondere die Mutter völlig überfordern würde, eine erlaubte Option. Übrigens ist eine Abtreibung auf Wunsch der Frau auch nach einer durch Vergewaltigung hervorgerufenen Schwangerschaft durchaus legitim.

Tierschutz

Auch der Tierschutz im Judentum ist durch eine Reihe von religiösen Vorschriften geregelt, damit „Za’ar Ba’alej Chajim“ (hebr. Leid von Lebewesen) verhindert werden kann. So verbietet die Torah beispielsweise, einem Esel zu große Lasten aufzubürden oder einen Ochsen bei der Arbeit leiden zu lassen. Untersagt ist ebenfalls der Genuss von Tieren, die auf der Jagd erlegt wurden. Zudem verpflichten die Heiligen Schriften dazu, Tieren gegenüber möglichst respektvoll zu begegnen und ihnen keinen unnötigen Schmerz zuzufügen. Tierrechte selbst kennt die Torah nicht, sehr wohl aber Menschenpflichten. Das wiederum bedeutet, dass es eine From der Erniedrigung ist, wenn sie anderen Lebewesen Leid antun oder sie gar quälen. Umgekehrt erhöht es den moralischen Charakter einer Gesellschaft, wenn sie dem Tierschutz Bedeutung zuspricht.

Trotzdem stellt der Genuss von Fleisch – vorausgesetzt das Tier wurde geschächtet und ist koscher – kein Problem dar. So gehören in den meisten Haushalten nach wie vor fleischige Mahlzeiten am Schabbat oder einem der Feiertage zur Menüfolge. Doch die Stimmen, die zu mehr Verzicht und bewussterem Konsum aufrufen, werden zahlreicher. Vor allem in Israel, wo sich bereits mittlerweile über fünf Prozent der Bevölkerung sich als Veganer bezeichnen, was natürlich in einen Land, dessen Esskultur ohnehin viel frisches Gemüse und Obst oder Humus und Tehina kennt, relativ leicht ist.

Auch beim Thema Tierversuche herrscht weitestgehend Einigkeit darin, dass diese erlaubt sind, weil das Prinzip „Pikuach Nefesch“ (hebr. Rettung aus Lebensgefahr) gilt, das allen anderen Ge- und Verboten ohnehin übergeordnet ist. Aber auch hier heißt es: Unnötiges Leid soll vermieden werden und die Tierversuche müssen Erkenntnisse erbringen, die der Gesundheit von Menschen dienen.

Oft wird in Diskussionen um den Tierschutz die Schechita, also das rituelle Schlachten, erwähnt und der Vorwurf gemacht, dass diese Form der Tötung besonders grausam sei und deshalb verboten werden sollte. Dabei dreht sich alles um die Frage, ob der schnelle Schnitt durch Luft- und Speiseröhre, der das vorgeschriebene Ausbluten ermöglicht, für die Tiere schmerzhafter ist als andere Formen des Schlachtens, wofür es jedoch keine wissenschaftliche Grundlage gibt. Gefordert wird immer wieder ihre vorherige Betäubung – die Tiere gelten dann jedoch nicht mehr als koscher, weshalb dieser Ansatz auf Widerspruch stößt. Mit dem Verweis auf das Wohl der Tiere ist das rituelle Schlachten mancherorten bereits untersagt, wie zum Beispiel in einigen Regionen Belgiens. Historisch betrachtet sind derartige Restriktionen nicht ganz unproblematisch – schließlich gehörte das Verbot der klassischen Schechita im Namen des Tierschutzes zu den ersten antisemitischen Maßnahmen des nationalsozialistischen Deutschlands.

Übrigens sind Schweine auf dem Teller verboten. Als „Ersatzteillager“ hat man deutlich weniger Probleme mit ihnen. So sind Herzklappen von Schweinen durchaus erlaubt, eine Transplantation in den menschlichen Körper, auch den eines Juden, also möglich. Denn auch hier steht das Prinzip „Pikuach Nefesch“ über allem anderen.

Umweltschutz

„Seht euch vor, dass ihr meine Welt nicht verderbt und zerstört. Denn wenn ihr es tut, wird es niemanden geben, der sie nach euch wieder instand setzt.“ Dieser Satz stammt aus dem Midrasch, den Auslegungen der religiösen Texte im rabbinischen Judentum, und ist nur einer von vielen, die sich dem Thema Umweltschutz widmen. Auch die Torah mahnt, nicht sinnlos zu zerstören, was die Natur bereithält, weshalb es schon als Gebot verstanden werden kann, mit Ressourcen umsichtig und sparsam umzugehen. In diesem Kontext lässt sich auch die Schmitta, das gemäß der Torah vorgeschriebene Schabbatjahr für Felder und Obstplantagen, als Umweltschutzmaßnahme verstehen. Ackerland wird dann nicht bestellt, so dass es sich regenerieren kann. Auch in dem Konzept „Tikkun Olam“ sind Ökologie, Recycling und die Sorge um die Umwelt angelegt. In der Gegenwart mehren sich deshalb in allen Strömungen des Judentum Stimmen, die beispielsweise einen nachhaltigen Umgang mit der Natur nicht nur als ein vernünftiges Handeln begreifen, sondern sogar als eine religiöse Pflicht für alle Jüdinnen und Juden.

Organspende

Organspende ist eine Mitzwa – so lautet das Urteil von immer mehr Rabbinern, egal ob sie der orthodoxen, der konservativen oder der reformorientierten Strömung angehören, auch wenn es in Detailfragen weiterhin unterschiedliche Auffassungen geben mag. Zugleich ist dieses Thema ein wunderbares Beispiel dafür, wie traditionelle Einstellungen immer wieder überprüft und vor der Folie neuer medizinischer Erkenntnisse ständig modifiziert und den Realitäten angepasst werden. Früher war Organspende ein großes Tabu im Judentum, weil es verboten ist, eine Leiche zu verstümmeln, und der respektvolle Umgang mit dem Körper eines Toten absolute Priorität hat. Heute dagegen wird auch die ansonsten vorgeschriebene Beerdigung eines Menschen innerhalb von 24 Stunden nach seinem Tod unter Umständen ausgesetzt, wenn Organe entnommen werden können, die anderen wiederum das Leben retten – hier überlagert also das Prinzip von „Pikuach Nefesch“ (hebr. Rettung aus Lebensgefahr) alles andere.

Grundsätzlich besteht im Judentum die Auffassung, dass der Körper eigentlich Gott gehört. Ein Mensch kann nicht einfach frei über ihn verfügen, da der Körper nur eine Art „Leihgabe“ ist, weshalb Verunstaltungen oder grundlose Eingriffe generell verboten sind. Ferner ist es wichtig, zwischen einem Lebendspendenden und einem Toten zu unterscheiden, dessen Organe entnommen werden. Die Weitergabe einer Niere, von Blut oder Knochenmark eines gesunden Menschen an einen Kranken ist relativ problemlos möglich – vorausgesetzt, das Leben des Spenders wird dadurch nicht in Gefahr gebracht. Solche Transplantationen sind übrigens selbst an einem Schabbat erlaubt, weil ein Mensch dadurch vor dem Tod bewahrt wird – „Pikuach Nefesch“ gilt auch in diesem Fall.

Schwieriger ist die Organentnahme bei einem Toten, weil das reformorientierte und das konservative Judentum bei der Frage, ab wann jemand als hirntot gilt, andere Kriterien anlegen als die Orthodoxie. Für sie ist dieser mit dem irreversiblen Ausfall der Spontanatmung verbunden. Für die orthodoxe Strömung dagegen gilt ein Mensch erst dann als tot, wenn seine Herzfunktionen komplett erloschen sind. Doch dafür müssten zuvor alle Geräte abgeschaltet werden, die seine Atmung und den Kreislauf aufrechterhalten, was aber aufgrund des sich danach sofort einstellenden Sauerstoffmangels die Organe des Toten für eine Transplantation unbrauchbar macht. Trotzdem hat sich das orthodoxe Oberrabbinat in Israel 1986 bereits durchgerungen, unter bestimmten Bedingungen Herztransplantationen zu erlauben, wenn die Spender Unfallopfer sind, deren Hirnstammtod nachgewiesen werden kann.

Der israelische Organspendeausweis, die Adi-Karte

Soziale Gerechtigkeit

Verantwortung für den Nächsten zu übernehmen ist im Judentum kein freiwilliger Akt, sondern gilt als Mitzwa, weshalb dem Ganzen ein Pflichtcharakter zukommt. Zedaka (hebr. Wohltätigkeit) kann aber viele Formen des Ausdrucks annehmen. Maimonides, einer der wichtigsten jüdischen Rechtsgelehrten, spricht in diesem Kontext von acht verschiedenen Level von Zedaka: Die unterste bedeutet, mit Unfreundlichkeit einem anderen zu geben, die höchste dagegen heißt, dem Bedürftigen die Möglichkeit zu geben, sich selbständig zu ernähren. All das bezieht sich nicht auf einen Zustand im Jenseits, sondern meint eine ethische Verpflichtung zum Helfen im Hier und Jetzt, die für alle Jüdinnen und Juden gleichermaßen gilt. Zugleich transportiert das Konzept Zedaka einen Gerechtigkeitsgedanken, der auf die Herstellung einer individuellen Autonomie abzielt, also den Zustand einer Abhängigkeit von fremder Hilfe möglichst schnell beenden möchte. Ferner unterscheidet sich Zedaka von der christlichen Sozialethik insofern, dass sie nicht einfach nur einen „Dienst am Nächsten“ und Barmherzigkeit einfordert, sondern eher Gerechtigkeit, was in der Wurzel des hebräischen Wortes bereits angelegt ist. Genau das beinhaltet den Willen, die diesseitige Welt entsprechend positiv zu beeinflussen und auf sie einzuwirken.