Jüdische Geschichtsschreibung im Mittelalter

Von Stefan Middeke

Geschichtstheologischer und historiographischer Rahmen

Das Diasporajudentum im Mittelalter bediente sich des aus der Antike entsprungenen geschichtstheologischen Rahmens mit einer deuteronomistischen Geschichtsauffassung, die in Gott den „Herrn der Geschichte“ und in Israel das auserwählte Volk sah.[1]

Wenn auch vom „relativen Fehlen“[2] einer mittelalterlichen jüdischen Geschichtsschreibung auszugehen ist, so zeigen die wenigen Chroniken weiterhin die Tendenz auf, neue Vorgänge in die etablierte Begriffs- und Vorstellungswelt des bestimmenden „Tun-Ergehen-Zusammenhangs“[3] einzuordnen.[4]

Die peripheren Beispiele jüdischer Historiographie bleiben jedoch die Ausnahme angesichts einer fehlenden kontinuierlichen Tradition der jüdischen Geschichtsschreibung zwischen der Kanonisierung der Bibel und der Vertreibung der Juden von der Iberischen Halbinsel 1492/ 1496.[5]

Sogar der große mittelalterliche Religionsphilosoph Maimonides bezeichnete die Lektüre profaner Geschichtswerke als „Zeitverschwendung“[6]. Jüdische Chroniken dieser Zeit spielten grundsätzlich nur dann eine größere Rolle, wenn sie in religiöser Hinsicht  bedeutsam waren.[7]

Die Probleme der christlichen Geschichtsschreibung des Mittelalters finden sich auch auf die Historiographie des Judentums bezogen. Hauptgegenstand der traditionellen politischen Geschichte waren vor allem die Träger der Macht, nicht soziale Gruppen, sondern charismatische Individuen. Dieser Sachverhalt verdeutlicht die Ursache der kaum vorhandenen allgemeinen jüdischen Historiographie. Betrachteten sich doch die Juden eher als Objekt denn als Subjekt der Politik.[8]

Gleichzeitig lag darin bereits ein Wandel des jüdischen Geschichtsbewusstseins des Mittelalters begründet. Mit dem Exil wurde die Bindung an Zion zur kollektiven, ritualisierten Erinnerung, die von Generation zu Generation weitergegeben wurde.[9] Jenseits der Betrachtung der vereinenden, biblischen Vergangenheit Israels fand nun im Diasporajudentum eine Fokussierung der zersplitterten jüdischen Minderheit auf den begrenzten persönlichen Lebensbereich aus Familie und eigener Gemeinde statt, die auf dem Fehlen einer anderen institutionellen Basis beruhte.[10]

„Traditionsketten“

Für die Bestandswahrung der polyzentrischen jüdischen Diasporagemeinschaft war das identitätsstiftende Gedächtnis an die biblische Heilsgeschichte existenziell. Dies erklärt die Wichtigkeit der Literatur der sogenannten „Traditionsketten“.

In ihnen war die Sukzession der Träger des mündlich tradierten Rechts chronologisch verzeichnet, was der Darstellung der ununterbrochenen Autorität der Lehre diente.[11]

Diese Gelehrtenketten führten einerseits entsprechende Ansätze aus dem spätantiken rabbinischen Judentum fort und entsprachen andererseits der mittelalterlichen Betonung der persönlichen Beziehungen.[12]

Einzuordnen in dieses Genre ist das Sefer Ha-Qabbalah, das „Buch der Überlieferung“, des jüdisch-spanischen Philosophen Abraham Ibn Daud von 1160/ 61, in dem das Bewusstsein für die Verlagerung des geistig-kulturellen Zentrums des Judentums vom Orient ins christliche Europa deutlich wird.[13]

Das Sefer Josippon

Auch im Fall des Sefer Josippon [14] begründet die religiöse Bedeutsamkeit, die ihm zugeschrieben wurde, seine überragende Prominenz als wichtigste nachbiblische jüdische Chronik. Beschäftigte es sich doch mit der schicksalhaften Zeit des zweiten Tempels.[15] Diese klassische Epoche galt gleichsam als Fortsetzung der Bibelhistorie und öffentliche, gesamtisraelitische Vorgeschichte zur Diaspora.[16]

Zwar war diese Zeit vom jüdischen Geschichtsschreiber Josephus Flavius (37/ 38-100) behandelt worden, doch blieb sein in Rom nach dem jüdischen Aufstand des Jahres 70 auf griechisch verfasstes Werk bei den Juden weitgehend unbekannt.[17]

Das Sefer Josippon wurde nun im Mittelalter als ein historisches Dokument betrachtet, das Josephus Flavius persönlich „zum internen Gebrauch der Juden auf Hebräisch“ verfasst habe.[18] So galt es im Schriftstudium von Bibel- und Talmud-Gelehrten als ergänzende Quelle, die uneingeschränkt authentisch Zeugnis über die letzte Periode vor der Zerstörung des zweiten Tempels abgab. [19]

In der Einleitung der weitverbreiteten Neuausgabe von 1510 aus Konstantinopel beschreibt Tam Ibn Yahia das Josippon als Buch „welches die Quelle des Missgeschicks des Hauses Juda offen legt“[20]. Weiter heißt es darin:

„Jedes Wort in diesem Buch ist recht und wahr, und es ist kein Falsch darin. Und das erkennt man daran, daß es von allen nach den Heiligen Schriften verfassten Büchern den Prophezeiungen am nächsten steht, da es vor der Mischna und dem Talmud geschrieben wurde.“[21]

Tatsächlich stammt das Josippon aber wohl aus der Mitte des 10. Jahrhunderts von einem anonymen Autor aus Süditalien. In seiner Arbeit griff er größtenteils auf die lateinischen Übersetzungen der Werke des Josephus Flavius und auf die apokryphen Makkabäerbücher zurück. Durch die Ungenauigkeit des Hegesippus, einer lateinischen Paraphrase der von Josephus auf griechisch verfassten „Geschichte des jüdischen Krieges“, bezog er sich allerdings fälschlich auf Josephus ben Gorion, einen General des Aufstandes, statt auf Josephus Flavius. Da er selbst als Autor ungenannt blieb und ben Gorion unbekannt war, fand schließlich in weiteren Abschriften die Zuordnung der Urheberschaft des Josippons auf Josephus Flavius statt, womit das Buch seinem Erfolg zugeführt wurde.[22]

Historiographie der mittelalterlichen Judenverfolgung

Ohne Vorbild in der rabbinischen Tradition sind die jüdischen historischen Schriften des Mittelalters, die mit der literarischen Würdigung der Judenverfolgungen, die mit den Kreuzzügen eingesetzt hatten, auf den Wandel der geschichtlichen Situation eingingen.[23]

Doch auch diese literarische Neuentwicklung verzichtet nicht darauf, sich für das Gegenwartsverständnis auf archetypische Geschichtsbilder der Bibel zurückzubeziehen. In den vier hebräischen Kreuzzugschroniken des 12. Jahrhunderts findet sich angesichts des Grauens des Massenselbstmords vor dem Hintergrund der Zwangstaufe wiederholt der Vergleich mit dem Isaaksopfer: Ohne gesündigt zu haben, wurden die Märtyrer der Kreuzzugszeit gleich Abraham ob ihrer Reinheit in ihrem Glauben auf die äußerste Probe gestellt. Diese Interpretation stellte eine tröstende Deutung der unbegreiflichen Bestrafung dar.[24]

Andere neue Formen des verschriftlichen Märtyrergedenkens flossen im Mittelalter in die Liturgie der Synagogen ein.[25] Selichot beispielsweise waren Bußgebete, die in dichterischer Form dem Leiden gedachten, die jedoch, meist unklar formuliert, nur dem speziellen Gebrauch der betroffenen Gemeinde dienten.[26]

Eine bedeutendere synagogale Erinnerungsquelle im aschkenasischem Raum waren die gemeindebezogenen Memorbücher. Darin wurden Namenslisten von Märtyrern der Verfolgungen, von berühmten Gelehrten und von verstorbenen Gemeindemitgliedern geführt. Auch dienten die Memorbücher als Gebetssammlung. Zu Gottesdiensten wurden diese rezitiert oder die Märtyrerlisten zum Seelengedenken verlesen.[27]

Das älteste dieser Werke ist das herausragende Nürnberger Memorbuch [28], das als sefer sikkaron, „Buch der Erinnerung“, im Jahr 1296 angelegt wurde und bis 1392 fortgeführt wurde.[29] Neben den üblichen Gelehrten- und Gemeindenekrologien enthält es in seiner Martyrolgie ein umfangreiches Kompendium von Namenslisten der „Ermordeten und Verbrannten“, die die Überlebenden der einzelnen, größtenteils deutschen Gemeinden zum Gedächtnis zusammengetragen haben.[30] In ihnen wurden die Orte und Märtyrernamen der zumeist datierten Verfolgungen zwischen dem ersten Kreuzzug im Jahr 1096 und den Pestpogromen bis 1350 verzeichnet.[31]

Besonders die Liste der zur Zeit der Pest 1348-1350 verfolgten Gemeinden, ist in den meisten Memorbüchern enthalten. Diese Liste fand ebenso wie das spezifische Totengedenken des Gelehrtennekrologiums auch Aufnahme in einige mittelalterliche Machsorim (Gebetbücher).[32]

Weiter: Erinnerungsrituale – Gedenken im jüdischen Kalender

Anmerkungen:
[1] Vgl. Drews, Wolfram: „Koordinaten eines historischen Bewusstseins in der mittelalterlichen jüdischen Historiographie. Das Beispiel des Ahimaaz von Oria“; in: Hoedl, Klaus (Hg.): Historisches Bewusstsein im jüdischen Kontext, Innsbruck 2004, S. 17, 21, 23.
[2] Yerushalmi, Yosef Hayim: „Jüdische Historiographie und Postmodernismus: Eine abweichende Meinung“; in: Brenner, Michael/ Myers, David N.: Jüdische Geschichtsschreibung heute, München 2002, Anm. 2, S. 275; vgl. Yerushalmi, 1988, S. 43.
[3] Drews, Anm. 4, S. 23.
[4] Vgl. Yerushalmi, 1988, S. 48.
[5] Vgl. ebd., S. 52; Funkenstein, S. 25.
[6] Zit. n.: Yerushalmi, 1988, S. 45.
[7] Vgl. ebd., S. 52; vgl. Kap. 3.2.
[8] Vgl. Drews, S. 13; Funkenstein, S. 27.
[9] Vgl. Schatzker, S. 107, Mendes-Flohr, S. 266.
[10] Vgl. Drews, S. 16-18; Ein Beispiel für die Bedeutungszunahme des Familiengedächtnisses im Mittelalter bildet – auch vor dem Hintergrund der sakral-religiöser Aufwertung der Familie durch die Rabbiner – die Familienchronik des Ahimaaz von Oria von 1054, vgl. ebd., passim.
[11] Vgl. Yerushalmi, 1988, S. 43; In ihrer Bedeutung ähnelten die „Traditionsketten“ der christlichen Geschichtsschreibung, die sich bis ins 11. Jahrhundert im Wesentlichen auch auf die Chronologie der Kirchensukzession beschränkte, vgl. Funkenstein, S. 26.
[12] Vgl. Drews, S. 17f.
[13] Vgl. Yerushalmi, 1988, S. 50; Das Sefer Ha-Qabbalah ist eines der wenigen vor 1500 entstandenen historischen Werke, deren bleibende Bedeutung in ihrer Herstellung im blühenden Buchdruck des 16. Jahrhunderts ablesbar wurde, vgl. ebd., S. 52.
[14] Sefer Josippon bedeutet Josephus-Buch, wobei das Wort „Josippon“ judäo-griechischen Ursprungs ist, vgl. Flusser, David: „Josippon“; in: Encyclopaedia Judaica, CD-ROM Edition, Jerusalem 1997.
[15] Vgl. Yerushalmi, 1988, S. 46f.
[16] Vgl. Drews, S. 17f.
[17] Vgl. Yerushalmi, 1988, S. 29.
[18] Ebd., S. 47.
[19] Vgl. Flusser, passim.
[20] Zit. n.: Yerushalmi, 1988, S. 47.
[21] Zit. n.: Ebd., S. 48.
[22] Vgl. Flusser, passim.
[23] Vgl. Drews, S. 17.
[24] Vgl. Yerushalmi, 1988, S. 49-51.
[25] Vgl. Pomerance, Aubrey: „‚Bekannt in den Toren’. Name und Nachruf in Memorbüchern“; in: Hödl, Sabine/ Lappin, Eleonore: Erinnerung als Gegenwart. Jüdische Gedenkkulturen, Wien 2000, S. 33.
[26] Vgl. Yerushalmi, 1988, S. 58.
[27] Vgl. ebd., S. 58; Pomerance, S. 33f.
[28] Der Begriff „Memorbuch“ für diese Werke kam erst ab der Mitte des 17. Jahrhunderts auf, vgl. ebd., S. 34.
[29] Vgl. ebd., S.34; Yerushalmi, 1988, S. 58.
[30] Pomerance, S. 35.
[31] Vgl. Salfeld, Siegmund (Hg.): Quellen zur Geschichte der Juden in Deutschland, Bd. 3, Das Martyrologium des Nürnberger Memorbuches, Berlin 1898, S. 101-230.
[32] Vgl. Pomerance, S. 36, 39.