Erinnerungsrituale – Gedenken im jüdischen Kalender

Von Stefan Middeke

Die Weitergabe der gemeinschaftsstabilisierenden, öffentlichen Erinnerung geschah bei den Juden im Mittelalter weniger über die Geschichtsschreibung. Vielmehr dienten weiterhin hauptrangig Liturgie und Ritual der Erhaltung des kollektiven jüdischen Geschichtsbewusstseins. Das Erinnerungsgebot fand in Alltagsgebräuchen, wie denen des Schabbats, und mehr noch in den alljährlich wiederkehrenden, in überlieferter Form vollzogenen Festzeremonien eine Ausformung. [1]

Die großen biblischen Gedächtnisfeste

Im Mittelpunkt des jüdischen Kalenderjahres standen die hohen biblischen Wallfahrtsfeste Pessach, das Laubhüttenfest und das Wochenfest. Ursprünglich waren diese ältesten Feste kultische Feiern im Zyklus des Erntejahres, doch wurden sie im Laufe der Zeit zu Gedenkfeiern für den Auszug aus Ägypten, den Aufenthalt in der Wüste und die Gesetzgebung am Sinai.[2]

Sukkot, das Laubhüttenfest, war neben Pessach das wichtigste dieser Feierlichkeiten im biblischen Festkalender. Die eigentliche Bedeutung Sukkots als Erntedankfest zu Beginn der Regenzeit trat wie bei den anderen Feiertagen hinter die exilgeschichtlich-theologische Deutung zurück und machte es zum Erinnerungszeichen an Israels Wanderung durch die Wüste.[3]

In der rabbinischen Betrachtung war die Laubhütte, die Sukka, das „Sinnbild für den göttlichen Schutz überhaupt“.[4] Der vergegenwärtigenden Bewusstwerdung dieses Beistands diente das Ritual des Hüttenbaus, das gerade auch in der veränderten, judenfeindlichen Situation des Mittelalters eine typologische Identifikation mit der biblischen Epoche bedeutete, als „die ganze Gemeinschaft, die aus der Gefangenschaft zurückgekehrt war, Laubhütten errichtete“ (Neh. 8.17).[5]

Schawuot, das Wochenfest, war, hinter den beiden anderen Festen im Ritus zurückstehend, ursprünglich auch ein Erntefest zum Ende der Getreideeinholung. Nach der Zerstörung des zweiten Tempels erfuhr es ebenfalls eine Uminterpretation durch die Rabbiner und gedenkt seitdem der Übergabe der Tora am Sinai.[6]

Pessach ist das jüdische Fest, an dem das aktualisierende Moment des Rituals für das kollektive Gedenken am Deutlichsten wird.[7] Wie Sukkot und Schawuot folgt Pessach der biblischen Aufforderung, die Gedenktage zu befolgen (Dtn. 16.3). Und wie diese, tauschte es seinen agrarischen Bezug gegen einen historischen Bezug aus. Statt als Frühlingsfest den Beginn des Erntejahres zu würdigen, symbolisierte das Pessachfest nun den Anfang des Bundes Gottes mit Israel.[8]

Weit ausgeprägter sind jedoch die Vorschriften zum Festvollzug, in dessen Verlauf in Liturgie und Festmahl der Auszug „aus dem Sklavenhaus“ Ägypten szenisch nachvollziehbar wurde (Ex.13.3-8). Der Idee der Verschmelzung von Vergangenheit und Gegenwart bei diesem Fest findet im Talmud folgenden Ausdruck:

„In jeder einzelnen Generation ist ein Mensch verpflichtet, sich selbst so zu betrachten, als ob er aus Ägypten gezogen sei, denn es heißt: Du sollst es deinem Sohn an jenem Tage also erzählen: Um des willen, was der Herr für mich getan hat, als ich aus Ägypten zog.“[9]

Mit der Vergegenwärtigung der Großtaten Gottes in der Geschichte war die Aussage impliziert „Ägypten ist überall“. Damit war Pessach im Mittelalter zu einem Fest der Zuversicht und der erneuerten Hoffnung in das Heilshandeln Gottes geworden. Diese messianische Erwartung gipfelte am Ende der Pessach-Zeremonie in dem Segensspruch: „Nächstes Jahr in Jerusalem“.[10]

Chanukka

Neben den großen biblischen Feiertagen erlangten im Mittelalter Chanukka und Purim große Popularität als Befreiungsfeste, die ebenfalls an das göttliche Eingreifen in der Geschichte erinnerten. Ihr volkstümlicher Charakter wurde besonders dadurch gefördert, dass sie als Halbfeste das Arbeiten nicht verbieten.[11]

Das Lichterfest Chanukka war eingerichtet worden um der Wiedereinweihung des gereinigten Tempels durch Judas Makkabäus zu gedenken. Dabei hatten die Rabbiner nicht den erfolgreichen Aufstand der Makkabäer seit 167 v.u.Z. gegen die seleukidische Herrschaft zum Mittelpunkt dieses einzigen nachbiblischen Feiertages gemacht, sondern das sagenhafte Wunder, dass das Öl des letzten nicht entweihten Kruges statt wie üblich einen Tag, genau die acht Tage lang brannte, die man zur Herstellung neuen Öls benötigte.[12]

Im Mittelalter nahmen die acht Tage des Lichterfests, an denen abends je ein neues Licht entzündet würde, den Charakter von familiären Freudentagen an, die mit der Fokussierung der Erinnerung auf die Befreiung Grund zur Tröstung und religiösen Hoffnung gaben.[13]

Purim

Das Motiv der Befreiung bediente auch Purim. Durch die Identifikation mit positiv konnotierten Geschehnissen der biblischen Geschichte lag im Mittelalter die Popularität des Halbfestes Purim gleichfalls in der Aussicht auf die Bewahrung vor der Verfolgung begründet.

Purim feierte die wundervolle Errettung der Juden in Persien. Es folgt darin gleich den hohen Festen dem Erinnerungsgebot der Heiligen Schriften (Est. 9,20-28).

Der biblischen Legende nach gelang es der schönen Jüdin Esther, der Gemahlin des persischen Königs Ahasver (Xerxes), mit Hilfe ihres Vormundes, des Juden Mordechai, die geplante Vernichtung der Juden durch Haman, den zweiten Mann im Staate, aufzudecken und durch tapferes Auftreten den Zorn des Königs gegen die Planer des Komplotts zu entfachen. Diese wurden zu Tausenden von den Juden umgebracht während die Juden selbst nun Schutz erhielten.[14]

Historisch lässt sich diese fantastische Geschichte nicht belegen. Zu wenig plausibel  sind ihre Zusammenhänge und zu ungereimt deren Zuordnung in die Herrschaftszeit Xerxes I. im fünften Jahrhundert v.u.Z.[15] Für die Juden jedoch stellte die Geschichte der Esther-Rolle, der Megilla, die zu Purim in der Synagoge verlesen wurde, historische Ereignisse dar, deren Struktur in die Gegenwart übertragbar war. Der Konflikt zwischen Esther und Mordechai auf der einen Seite und Haman auf der anderen Seite symbolisierte den exemplarischen Überlebenskampf Israels gegen die Übermacht des Bösen. So wurde jeder neue Unterdrücker zu Haman und der Jude, der der Katastrophe zu entgehen suchte, zu Mordechai.[16]

Umso gewichtiger ist die Bedeutung des mythischen Sieges für die Juden im Mittelalter. Da Purim nicht bloß ein Fest der Erinnerung an die Bewahrung vor Unterdrückung durch göttlichen Beistand war, sondern das Gedenken darüber hinaus sogar auf das göttliche Heilsversprechen der Beschützung vor der drohenden Vernichtung lenkte, wurde es zum jüdischen Freudenfest schlechthin.[17]

Im Mittelalter prägte das Purimfest viele variable regionale Bräuche aus. Ob durch seinen vermuteten Ursprung im babylonisch-persischen Neujahrskarneval bedingt oder vom christlichen Karneval beeinflusst, nahm das mittelalterliche Purim mit fröhlichem Festmahl und Umzügen einen deutlich karnevalistischen Charakter an.[18] Dem befreienden Erinnerungsmoment dieses Errettungsfestes war auch der Umstand zu verdanken, dass Purim der einzige Tag im jüdischen Festkalender war, an dem man sich frei zu trinken erlaubte.[19]

Auf das archetypische Modell der Esthergeschichte ist zurückzuführen, dass nach neuerlichen Errettungssituationen aus einer bestimmten Gefahr oder Verfolgung ihrer zum Gedenken „zweite Purimfeste“ entstanden. Seit dem Mittelalter wurden solche lokalen oder sogar familiären Sonderpurims nach dem typologischen Vorbild des ursprünglichen Purimfestes begangen. Beispiel dafür sind die Anfertigungen von Festrollen, im Stile der Esther-Rolle, die der Erinnerungsbewahrung dienten.[20]

Die Aufnahme besonderer jährlicher Fasttage in den Kalender war eine weitere Reaktion auf die verschlechterte Lage der Juden im Mittelalter. Sie waren ein Instrument zum Gedenken an die spezifische Verfolgung. So erinnerte der 20. Siwan der Verbrennung der Juden in Blois nach dem ersten Ritualmordvorwurf in Kontinentaleuropa im Jahre 1171 und wurde zunächst in Frankreich und dem Rheinland gefeiert. Durch die aschkenasische Wanderung nach Osteuropa verbreitete er sich aber auch dort und ging in das kollektive Gedächtnis ein.[21]

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Anmerkungen:
[1] Vgl. Yerushalmi, 1988, S. 42; Schatzker, S. 107-109.
[2] Vgl. Galley, Susanne: Das Jüdische Jahr. Feste, Gedenk- und Feiertage, München 2003, passim.
[3] Vgl. ebd., S. 86.
[4] Ebd., S. 92.
[5] Vgl. ebd., S. 88f., 94f.; Funkenstein, S. 59f.
[6] Vgl. Galley, S. 152-158.
[7] Vgl. Yerushalmi, 1988, S. 56f.
[8] Vgl. Galley, S. 135f.
[9] Mischna Pesachim, 10,5; zit. n.: Mayer, Reinhold (Hg.): Der babylonische Talmud, München 1978 (4).
[10] Vgl. Metzger, Thérèse/ Metzger, Mendel: Jüdisches Leben im Mittelalter, Fribourg 1982; S. 269f.; Allerhand, Jacob: „Liturgie und Brauchtum“; in: Jandrasits, Johann (Hg.): Judentum im Mittelalter, Eisenstadt 1978, S. 87f.
[11] Vgl. ebd., S. 87.
[12] Vgl. Yerushalmi, 1988, S. 38; Galley, S. 103-108.
[13] Vgl. Metzger, S. 260.
[14] Vgl. Galley, S. 119. Die Bezeichnung „Losfest“ für Purim, lässt sich in der Legende auf die Bestimmung des Tages der Vernichtung durch ein Los (Pur) zurückführen, vgl. ebd., S. 119.
[15] Vgl. ebd., S. 120.
[16] Vgl. ebd., S. 121; Allerhand, S. 87; Yerushalmi, 1988, S. 48; Der Gedanke des universalen Kampfes wird unterstrichen durch die genealogische Ableitung Mordechais von Saul und Hamans von Agag, dem König der Erzgegner Israels, der Amalekiter, Galley, S. 120f.
[17] Vgl. Metzger, S. 261; Im Jüdischen Lexikon von 1927 heißt es, in der Purim-Geschichte spräche sich „das Vertrauen auf die Unzerstörbarkeit des j. Volkes aus, auf die Israel in jeder Not sichere Hilfe, und die Pflicht, bis zur Selbstaufopferung für das eigene Volk einzutreten (Est. 4:14). Ohne solchen Glauben und solche Hingabe hätten sich die J. in den Zeiten schwerster Gefahr für ihre Existenz nicht behaupten können. Die Haman-Geschichte hat die J. in finsteren tagen vor Verzweiflung bewahrt, so oft auch J.-Feinde an ihrem Untergang gearbeitet haben. Der P.-Gedanke in diesem Sinne (…) war während des ganzen MA (…) im j. Herzen lebendig.“, Joseph, Max: „Purim“; in: Jüdisches Lexikon, Band IV/ I, Berlin 1927, S. 1184.
[18] Vgl. Galley, S. 121-126. Die Verbindung des Purimfestes zur antiken babylonischen Lebenswelt ist auch in den Namen Esther und Mordechai ablesbar, die offensichtlich von den babylonischen Gottheiten Ischtar und Marduk abgeleitet wurde, vgl. ebd., S. 120.
[19] Vgl. ebd., S. 122f.; Metzger, S. 261; Eine talmudische Aufforderung lautet: „Ein jeder ist verpflichtet sich an Purim so zu berauschen, bis man zwischen den Sätzen ‚Verflucht sei Haman’ und ‚Gesegnet sei Mordechai’ nicht mehr zu unterscheiden vermag.“, Megilla, 7b; zit. n.: Mayer.
[20] Vgl. Yerushalmi, 1988, S. 59f.; Galley, S. 126.

[21] Vgl. ebd., S. 60-64; Nach den Kosakenpogromen des Jahres 1648 wurde der 20. Siwan zum Gedenktag für auch diese Katastrophe, vgl. ebd., S. 62f.