Von Stefan Middeke
Das kollektive Gedächtnis der Juden im Mittelalter wurde weitestgehend durch die Erinnerung an die „heilige“ biblische Geschichte bestimmt, deren Sinngebung im Zeugnis des Bundes Israels mit dem in der Geschichte handelnden Gott bestand. In ihrer Erinnerung lag die Identitätsbewahrung des jüdischen Volkes begründet.
Nach dieser Zeit wurde Geschichte kaum mehr schriftlich fixiert. Dieser Umstand hatte eine Ursache in der Diasporasituation, die eine gesamtjüdische „offizielle“ Geschichtsschreibung verhinderte. Stattdessen fand eine verstärkte Konzentration auf das eigene, gemeinde- oder familienbezogene Umfeld statt, das im wachsenden Maße im Mittelalter judenfeindlicher Verfolgung ausgesetzt war.
Jedoch wurde die biblische Vergangenheit zur Überwindung der Gegenwart mit dieser in alltäglichen Bezug gesetzt. Die Einhaltung der mündlich und schriftlich überlieferten Gesetze, gemäß der rabbinischen Auslegung, wurde als Voraussetzung für die Heilszukunft des kommenden Reiches Gottes auf Erden verstanden. Dieser geschichtstheologischen Auffassung entsprechend galt nur die Geschichte für bedeutsam, die in Verbindung mit der messianischen Zukunft zu bringen war. Die normative Kraft der biblischen Heilsvergangenheit wurde dadurch gefördert und man suchte und fand in ihr Erklärungsmuster für das gegenwärtige Geschehen.
Die starke Gewichtung der jüdischen Zeit in Palästina begründete auch den überragenden Erfolg des Sefer Josippons im Mittelalter, das dieser Epoche zugeordnet wurde.
Die kollektive Bindung an die Zeit vor der Zerstörung des zweiten Tempels fand vor allem in den Festtagen Ausdruck. Diese aktualisierten in Form des ritualisierten Gedenkens die persönliche Verbindung mit dem Schicksal Israels und boten durch die Erneuerung des Bewusstseins des göttlichen Heilshandelns Hoffnung in der persönlichen Verfolgungssituation des Mittelalters.
Literatur
Allerhand, Jacob: „Liturgie und Brauchtum“; in: Jandrasits, Johann (Hg.): Judentum im Mittelalter, Eisenstadt 1978, S. 60-90.
Assmann, Jan: „Israel und die Erfindung der Religion“; in: Ders.: Das kulturelle Gedächtnis, München 1999², S. 196-228.
Assmann, Jan: Religion und kulturelles Gedächtnis, München 2000.
Drews, Wolfram: „Koordinaten eines historischen Bewusstseins in der mittelalterlichen jüdischen Historiographie. Das Beispiel des Ahimaaz von Oria“; in: Hoedl, Klaus (Hg.): Historisches Bewusstsein im jüdischen Kontext, Innsbruck 2004, S. 13-28.
Flusser, David: „Josippon“; in: Encyclopaedia Judaica, CD-ROM Edition, Jerusalem 1997.
Funkenstein, Amos: Jüdische Geschichte und ihre Deutungen, Frankfurt a.M. 1995.
Galley, Susanne: Das Jüdische Jahr. Feste, Gedenk- und Feiertage, München 2003.
Hoedl, Klaus: „Einleitung“; in: Ders. (Hg.): Historisches Bewusstsein im jüdischen Kontext, Innsbruck 2004, S. 7-11.
Joseph, Max: „Purim“; in: Jüdisches Lexikon, Band IV/ I, Berlin 1927, S.1182-1186.
Mayer, Reinhold (Hg.): Der babylonische Talmud, München 1978 (4).
Mendes-Flohr, Paul: „Zion und die Diaspora“; in: Nachama, A./ Schoeps, J./ Voolen, E. van: Jüdische Lebenswelten; Mohnheim 1991, S. 257-284.
Metzger, Thérèse/ Metzger, Mendel: Jüdisches Leben im Mittelalter, Fribourg 1982.
Myers, David N.: „Selbstreflexion im modernen Erinnerungsdiskurs“; in: Brenner, Michael/ Myers, David N.: Jüdische Geschichtsschreibung heute, München 2002, S. 55-74.
Pomerance, Aubrey: „‚Bekannt in den Toren’. Name und Nachruf in Memorbüchern“; in: Hödl, Sabine/ Lappin, Eleonore: Erinnerung als Gegenwart. Jüdische Gedenkkulturen, Wien 2000, S. 33-53.
Salfeld, Siegmund (Hg.): Quellen zur Geschichte der Juden in Deutschland, Bd. 3, Das Martyrologium des Nürnberger Memorbuches, Berlin 1898.
Schatzker, Chaim: „Eingedenken – das Gedächtnis der oder in der jüdischen Tradition“, in: Hödl, Sabine/ Lappin, Eleonore: Erinnerung als Gegenwart. Jüdische Gedenkkulturen, Wien 2000, S. 107-114.
Yerushalmi, Yosef Hayim: Zachor: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis, Berlin 1988.
Yerushalmi, Yosef Hayim: „Jüdische Historiographie und Postmodernismus: Eine abweichende Meinung“; in: Brenner, Michael/ Myers, David N.: Jüdische Geschichtsschreibung heute, München 2002, S. 75-94.