Biblische Erinnerungstradition

Von Stefan Middeke

Grundlagen der biblischen Heilsvergangenheit

Im Volke Israel hat sich im Gegensatz zu anderen Völkern und Religionen in der Antike das Bewusstsein ausgeprägt, nicht mythischer Zeit zu entstammen, sondern jungen Ursprungs zu sein.[1] An die Stelle des kosmischen Kampfes der Götter und der Kräfte der Natur trat nun der Gedanke der Begegnung des Menschen mit Gott in der Geschichte, „in angespannter Dialektik von Gehorsam und Rebellion“.[2]

Gott offenbart sich dem Glauben nach von Beginn an aktiv handelnd in der Geschichte und wird so zum „Gott der Väter“.[3] Man schreibt ihm Eingreifen entweder auf die Taten der Menschen kraft seines Geistes oder mit „Zeichen und Wundern“ zu und kompensiert zugleich den Makel der eigenen geschichtlichen Jugendlichkeit durch das Bewusstsein, als auserwähltes Volk Gottes unter seiner beständigen Führung zu stehen.[4]

Die Herausführung aus Ägypten wird dabei zum Sinnbild für die Schließung des „Ewigen Bundes“ Israels mit Gott, des Kerns der biblischen Heilsvergangenheit.[5]

Neben der Gotteserkenntnis durch seine Taten in der Geschichte ist die Bedeutung der Theodizee eine weitere revolutionäre Neuerung des jüdischen Glaubens. Statt die Macht Gottes am Erfolg seiner Anhängerschaft zu messen, manifestiert sich seine Allmacht darin, die Großreiche Ägypten, Assyrien und Babylonien als „seines Zornes Rute“ zu benutzen um durch sie Israel zu züchtigen und zu läutern (Jes. 10,5-7).[6]

Das Erinnerungsgebot

Die Deutung der Geschichte als Theophanie rechtfertigt den identitätsstiftenden, biblischen Imperativ an das Volk Israel, der Vergangenheit zu gedenken und sie nicht zu vergessen. Nicht weniger als 169 Mal wird das Verb zachar (erinnern) in der Bibel gebraucht.[7]

Dieses „Gebot des Erinnerns“ begründet das jüdische Kollektivgedächtnis und verwurzelte es in der religiösen Tradition. Es gilt dabei nicht originär dem historischen Aspekt der biblischen Geschichtsschreibung.[8]

Die Auswahl der Erinnerung erfolgt entsprechend der öffentlich erlebten Wahrnehmung von Taten Gottes in der Geschichte des Volkes Israel.[9] Besonders im Auszug aus Ägypten manifestiert sich ein „Identitätsstiftungspakt“, der die Traditionalisierung der Hauptelemente der jüdischen Geschichte in sich trägt. Die wiederkehrenden Motive von Exil und Minderheitendasein, Unterdrückung und Assimilationsdruck in der Extraterritorialität und schließlich das Motiv der Befreiung lassen den Exodus nicht als historisches Ereignis, sondern vor allem als „Erinnerungsfigur“ im Gedächtnis überleben.[10]

Die biblische Aufforderung extraterritoriale Geschehnisse – ob nach der Rückkehr ins gelobte Land oder in der Babylonischen Gefangenschaft – zu erinnern, fundiert eine Gedächtnistradition, die auch in der Diaspora die Bindung an die „Orte der Väter“ bewahrt. Hauptwerkzeuge zur Umsetzung des biblischen Erinnerungsgebots sind dabei neben der mündlichen Weitergabe insbesondere das Gedenken durch Liturgie und Ritual. [11]

Kanonisierung der biblischen Vergangenheit

Die biblischen Schriften stellen eine herausragende Ansammlung historischer Quellen dar, die nahöstliche Literatur des ersten Jahrtausends v.u.Z. bis ins zweite Jahrhundert v.u.Z. umfassen. Dennoch wurden sie nicht von Historikern sondern „von Priestern und Propheten geprägt“.[12]

Schon vor der Kanonisierung der Heiligen Schriften durch die Rabbiner in Jabne (etwa im Jahre 100 unserer Zeit) entfalteten sie ihre Wirkung. Durch ständige, sich wiederholende, öffentliche Lesung wurde der Pentateuch, die Tora, für die Juden in Palästina und Babylonien zum Allgemeingut.[13]

Die Kanonisierung der Bibel nach der Zerstörung des zweiten Tempels, hieß die Herstellung von Normativität, Autorität und Hochverbindlichkeit der heiligmäßigen Endgestalt der Schrift als organischem Ganzen.[14]

Die mit der Diaspora einhergehenden Traditionsbrüche erhöhten die Bedeutung des Verschriftlichten.[15] An Stelle des altorientalischen Rechtskönigtums verkörperte die Tora die rechtssetzende Autorität indem Gott selbst in ihr als Gesetzgeber auftrat. Das Gesetz wiederum wurde durch die biblische Geschichte als „normativer Vergangenheit“ im Kanon determiniert.[16] Damit wurde diese Vergangenheit der Zeit enthoben und als allgemeingültige Autorität verewigt.[17]

Zugleich hatte das Verbot der Idolatrie die Verehrung der Tora gefördert. Die „Gesetzesrolle“ ersetzte also nicht nur den König, sondern symbolisierte als Kultbild auch den Tempel.[18]

Schriften, die nicht in den Kanon miteinbezogen wurden, wie im Besonderen die Makkabäerbücher, fielen über lange Zeit der Bedeutungslosigkeit anheim.[19]

Rabbinische Geschichtsvorstellung

In talmudischer Zeit, nach der Zerstörung des zweiten Tempels, betrachteten sich die Rabbiner als Erben der Propheten. Doch während die Propheten auch Ereignisse des Zeitgeschehens gedeutet hatten, konzentrierten sich die Rabbiner auf die Lehren aus der biblischen Vergangenheit als Schlüssel zur Heilszukunft der messianischen Erlösung des jüdischen Volkes. Ziel der Geschichte aus rabbinischer Sicht ist die Errichtung der irdischen Gottesherrschaft. [20]

Die Zeit des Exils wurde als eine intermediäre Epoche betrachtet, in der es galt, sich durch bibelexegetische Sinnsuche und Gesetzesbefolgung für den Tag des Weltendes vorzubereiten, da gemäß der apokalyptischen Literatur die Errettung bloß auserwählten Seelen vorbehalten blieb.[21]

Zeitgenössische Vorgänge fanden hauptsächlich dann Beachtung, wenn sie von „messianischem Aktionismus“ geprägt waren.[22] Die Gegenwart war für die Juden Teil des göttlichen Planes, in dem Einzelheiten der Profangeschichte nur nachrangige Details darstellten.[23]

Ebenso wie bei der Babylonischen Gefangenschaft im sechsten Jahrhundert v.u.Z., sah man die Ursache für die Eroberung Jerusalems im Jahre 70 und das anschließende Exil in der eigenen Sünde und nicht etwa bei den Römern. Diese Geschichtsvorstellung der Theodizee fand weit über das Mittelalter hinaus auf die Auseinandersetzung mit anderen Reichen Anwendung.[24]

Die Gegenwart lag für die Rabbiner in der fernen Vergangenheit erklärt. Nach ihrer Vorstellung war in der Bibel „die Struktur der ganzen Geschichte offenbart“.[25]

Bedeutende Ereignisse der Zeitgeschichte unterlagen der deutlichen Tendenz, unter vertrauten historischen Archetypen subsumiert zu werden. Da die biblische Geschichte als zeitlos und universell gültig betrachtet wurde, ließen sich ihre Gesetze in die Gegenwart projizieren und beliebig überzeitliche Parallelen zur erinnerten Vergangenheit aufziehen.[26]

Eine ahistorische, die Zeitgrenzen verwischende Vermischung der Geschichte zur anschaulichen Auslegung der Heiligen Schriften findet sich in der talmudischen Literatur insbesondere in der rabbinischen Haggada. [27]

Weiter: Jüdische Geschichtsschreibung im Mittelalter

Anmerkungen:
[1] Vgl. Funkenstein, Amos: Jüdische Geschichte und ihre Deutungen, Frankfurt a.M. 1995, S. 21.
[2] Yerushalmi, Yosef Hayim: Zachor: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis, Berlin 1988, S. 20f.
[3] Vgl. ebd., S. 21.
[4] Funkenstein, S. 56f.; Vgl. ebd., S. 21.
[5] Vgl. Assmann, Jan: „Israel und die Erfindung der Religion“; in: Ders.: Das kulturelle Gedächtnis, München 1999², S. 201f.
[6] Vgl. Funkenstein, S. 58, 72.
[7] Yerushalmi, 1988, S. 17.
[8] Vgl. ebd., S. 17, 22f.
[9] Vgl. ebd., S. 23.
[10] Assmann, 1999, S. 200f.
[11] Vgl. ebd., S. 213; Schatzker, Chaim: „Eingedenken – das Gedächtnis der oder in der jüdischen Tradition“, in: Hödl, Sabine/ Lappin, Eleonore: Erinnerung als Gegenwart. Jüdische Gedenkkulturen, Wien 2000, S.107-108; Vgl. Kap. 4.
[12] Yerushalmi, 1988, S. 25. Echte Historiographie findet sich allein in der biblischen Geschichte der Königszeit, in der Gott als nur indirekt eingreifend gezeigt wird, Funkenstein, S. 57f.
[13] Vgl. Yerushalmi, 1988, S. 27-29.
[14] Vgl. Assmann, Jan: Religion und kulturelles Gedächtnis, München 2000, S. 82.
[15] Vgl. ebd., S. 88.
[16] Ebd., S. 85.
[17] Vgl. ebd., S. 86, 100.
[18] Vgl. ebd., S. 97f.
[19] Vgl. Yerushalmi, 1988, S. 28; Die niedrige Bewertung der Überlieferung aus hasmonäischer Zeit durch die Rabbiner hatte einen Ursprung in damaligen religiösen Auseinandersetzungen der Rabbiner mit den Hasmonäern (Makkabäer).
[20] Vgl. ebd., S. 34f.
[21] Vgl. ebd., S.27; Funkenstein, S. 22; Hoedl, Klaus: „Einleitung“; in: Ders. (Hg.): Historisches Bewusstsein im jüdischen Kontext, Innsbruck 2004, S. 9.
[22] Yerushalmi, 1988, S. 37; vgl. ebd., S. 38.
[23] Vgl. Funkenstein, S. 26.
[24] Vgl. Yerushalmi, 1988, S. 35; Mendes-Flohr, Paul: „Zion und die Diaspora“; in: Nachama, A./ Schoeps, J./ Voolen, E. van: Jüdische Lebenswelten; Mohnheim 1991, S. 261.
[25] Vgl. Yerushalmi, 1988, S. 34; vgl. ebd., S. 46f.
[26] Vgl. ebd., S. 48f.
[27] Vgl. ebd., S. 30-33.