Beim Toten

Von Rabbiner S.Ph. De Vries

Es ist geschehen. Der geheimnisvolle Tod ist gekommen. Der Mal’ach ha-Mawet, der Todesengel, ist gegangen und hat das Leben mitgenommen, das wir im allgemeinen als so normal, augenfällig und selbstverständlich betrachten und das uns auf einmal ebenso unerklärlich, so rätselhaft wie der Tod vorkommt.

Vor uns liegt nun eine Hülle, die bis vor kurzem noch von Leben durchdrungen war. Zurück bleibt die Materie, die jetzt leblos ist. Ein Leichnam.

Dieser Leichnam ist jedoch nicht verendet, er ist kein Kadaver. Er war lediglich die Hülle, das Fleisch, das den Menschen darstellte. Einen Menschen, den wir gern hatten, den wir unendlich liebten oder auch nur flüchtig kannten. Aber: einen Menschen.

Ein Mensch – mit allen Tugenden und Mängeln, ein mehr oder weniger gutes Exemplar des Begriffs »Mensch«, ein »Ebenbild« Gottes, das uns fortgesetzt auffordert, uns über das Alltägliche zu erheben und zu versuchen, den höchsten Gipfel der Menschlichkeit zu erreichen, selbst wenn wir bei diesem Versuch wiederholt stolpern. Unser Begriff vom Menschen, der uns als der Maßstab dient, den wir jedem Menschen anlegen können und dürfen, um Vergleiche anzustellen, genau wie wir ihn uns selbst jeden Tag und jede Stunde erneut zur eigenen Prüfung anlegen sollten.

Diese Hülle ist kein Kadaver. Sie hat eine Menschenseele beherbergt, war ein Aufenthalt Gottes. Unsere Ehrfurcht vor der sterblichen Hülle steht nicht der vor dem lebenden Menschen zurück. Denn der Tod hat diese Hülle mit seiner Majestät berührt, und jetzt ist sie wehrlos. Sie liegt in unseren Händen, den Händen der Überlebenden. Wenn wir Feingefühl besitzen, beeinflußt diese Wehrlosigkeit unsere Haltung. Und so sollte es ja auch sein.

Chewrah kadischah

Das sind die Gedanken, die uns leiten, während wir dem Toten die letzten notwendigen Liebesdienste erweisen. Diese Gefühle bewegen die Männer und Frauen der Chewra Kadischa, die dieses Liebeswerk vollbringen. Sie haben den Leichnam schön gerade ausgestreckt. Wenn möglich, legen sie ihn auf den Fußboden. Auf jeden Fall entfernen sie Bettlaken und Decken, weil die Wärme die Verwesung des entseelten Fleisches bis zur Beerdigung beschleunigen würde. Durch Verwesen kommt der Leichnam physisch dem Kadaver nahe. Und der Aasgeruch kann, selbst wenn er von einer menschlichen Leiche stammt, unwillkürlich Gefühle oder Worte und Gebärden verursachen, die nicht mit der Ehre im Einklang stehen, die wir dem Toten schuldig sind. Der tote Körper wird nur mit einem weißen Tuch bedeckt. Schon bald darauf wird er für die Waschung, Reinigung und Einsargung vorbereitet. Auch diese Aufgaben erfüllt die fromme Vereinigung, und zwar sorgen Mitbrüder für die Männer und Mitschwestern für die Frauen.

Hier soll nur ganz kurz angemerkt werden, daß die Toten im modernen Israel im allgemeinen nicht eingesargt, sondern aufgebahrt und in einem schwarzen Leichentuch bestattet werden. Dagegen werden Soldaten, die bei der Verteidigung ihres Landes gefallen sind, meistens im Sarg befördert und auch in ihm beerdigt.

Die Sorge für den Toten wird nicht ausschließlich der Familie überlassen, und der Leichnam bleibt nicht allein. Jemand hütet ihn, Tag und Nacht. In den größeren Gemeinden geschieht das aus diversen Gründen meistens durch einen Gemeindeangestellten, einen Wächter oder eine Wächterin, die nach einem bestimmten Zeitraum, zum Beispiel nach zwölf Stunden, von einem anderen abgelöst werden. Auch am Totenbett wird »studiert«, d. h., die jüdische Lehre wird gepflegt und die entsprechende jüdische Literatur studiert. Aus der Heiligen Schrift werden Abschnitte und Psalter vorgelesen. Manchmal ununterbrochen von dem Augenblick, in dem der Tod eingetreten ist, bis zur Beerdigung. Das ist jedoch nicht überall möglich. Es geschieht in dem Raum, in dem der Leichnam aufgebahrt ist, allerdings nicht direkt vor ihm. Denn er kann sich ja nicht mehr beteiligen, kann die edle Pflicht des »Thorastudiums« nicht mehr erfüllen. Das dürfen wir nicht vergessen, und wir sollten uns hüten, auch in dieser Hinsicht »den Armen zu verspotten«. Wer das tut, sagt der Dichter der Sprüche, »verhöhnt seinen Schöpfer« (Spr. 17, 5). Ebensowenig hüllen wir uns in den Tallith, noch legen wir die Tefillin an.

Auf jeden Fall wird der Raum, in dem der Leichnam liegt, bis zur Beerdigung ehrfürchtig abgeschirmt.

In der Zwischenzeit werden alle Schritte für die Beerdigung getroffen. Auch dabei hilft die zu diesem Zweck gegründete Einrichtung. Sie erledigt eine Reihe von Formalitäten wie das Aufgeben der Todesanzeige beim Standesamt sowie andere, für die die Beerdigungsvereinigung zuständig ist. Sarg und Totenkleid werden vorbereitet. Beide sind schlicht und einfach.

Das gilt sowohl für Männer wie für die Frauen. Schon seit achtzehn Jahrhunderten. Vorher herrschte bei Begräbnissen eine solche Prunksucht vor, daß sich der Mittelstand arm vorkam und die Armen sich schämten und deswegen sogar die Beerdigung ihrer Toten hinausschoben. Damals bestand der Patriarch Gamliel von Jabne, ein jüdisches Zentrum, dessen Blütezeit vom letzten Viertel des ersten bis zum ersten Viertel des zweiten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung reichte, auf dieser schlichten Schmucklosigkeit für sich selbst, die man ihm dann auch zuteil werden ließ. Seither wird diese Sitte unverändert beibehalten und geheiligt. Der Sarg ist eine Kiste aus ungehobeltem weißem Holz. Das Totenkleid wurde aus weißem Linnen hergestellt, dessen Qualität unwesentlich ist. Dem Toten wird keinerlei Schmuck angelegt, genausowenig wie ihm Schmuck oder Wertgegenstände ins Grab mitgegeben werden. Nur was zum Körper gehört, gibt man ihm mit. Auch was zu einem festen Bestandteil davon geworden ist, wie zum Beispiel ein hölzernes Bein. Eine solche Kiste und ein Leichentuch, für einen bestimmten Toten vorgesehen, dürfen nie für eine andere Person noch für einen anderen Zweck verwendet werden. Denn der Tote ist wehrlos und kann nicht mehr um sein Recht kämpfen.

Tachrichim

Viele sorgen schon lange vorher für ihre Sterbekleider. In früheren Zeiten waren die Tachrichim, die Totenkleider, ein fester Bestandteil der Aussteuer. Auch heute legen Menschen, wenn sie älter werden, diese Bekleidung bereit, fertigen sie selbst an oder lassen sie anfertigen. Ist sie nicht bereit, was meistens der Fall ist, sorgt die Chewra Kadischa dafür. In kleinen Gemeinden treten die Frauen jedesmal zusammen, wenn jemand stirbt, und nähen im Haus des Toten alles Notwendige. Viel ist es nicht: eine Mütze oder Haube, eine Hose, ein Hemd, ein Gürtel, ein Beffchen und ein Paar Socken. Für die Frauen werden die entsprechenden Frauenkleider vorbereitet. Alles aus ganz gewöhnlichem Leinen, einfach zugeschnitten und mit der Hand ordentlich, aber nicht besonders fein genäht. In größeren Gemeinden sind solche Kleidungsstücke fast immer vollständig vorrätig. Zu diesem Zweck treten die aktiven Mitglieder der Vereinigung jedesmal zusammen, wenn der Vorstand der Frauen es für notwendig hält. Für diese Arbeiten verwendet man heute auch schon eine Nähmaschine, aber noch nicht überall und oft. Immer und überall gibt es noch genug Frauen, die auf diesen Liebesdienst nicht verzichten möchten.

Taharah

Sobald alles vorbereitet ist, kommen Männer für den Verstorbenen und Frauen für die Verstorbene, um den Leichnam zu waschen, und zwar tatsächlich als auch als symbolische Reinigung. Ein Brett wird über ein Gestell gelegt und der Leichnam behutsam und ehrerbietig daraufgelegt. Mit der gleichen achtungsvollen Rücksicht wird er entkleidet, falls das nicht schon vorher geschah. Dabei ist der Körper stets völlig mit einem großen Laken bedeckt. Auch beim Waschen. Mit einem Topf wird lauwarmes Wasser über den Körper gegossen, und alle Teile werden vorsichtig gewaschen.

Behutsam wird der Tote auf die eine, dann auf die andere Seite gelegt, und auch der Rücken wird nicht vergessen. Ebenso werden Hände, Fuße sowie die Nägel behandelt. Alles in feierlicher Stille. Vor dem Waschen sagen alle zusammen ein Gebet. Während der ganzen Behandlung des Leichnams unterrichtet ein Kantor oder eine andere Person, ebenso werden Psalter vorgetragen. Zum Schluss findet die Tahara, die eigentliche rituelle Reinigung, statt. Mit Wasser, das schon vorher bereitgestellt wurde, wird der auf dem Rücken ausgestreckte Körper dreimal zu den folgenden Bibelworten begossen »Denn an diesem Tage geschieht eure Entsühnung, daß ihr gereinigt werdet, von allen euren Sünden werdet ihr gereinigt vor dem Herrn« (3 Mose 16,30)

Dann wird der Leichnam schonend getrocknet und ihm das Totenkleid angezogen Da alle Beteiligten dann meistens geübt sind, geht alles glatt und ordentlich vor sich. Diesen Dienst überwacht ein Leiter der Vorsitzende oder ein anderes Vorstandsmitglied der Chewra Kadischa. Bei den Frauen ist das natürlich die Aufgabe der Vorsitzenden oder ihrer Stellvertreterin. Der Leiter beehrt jeweils zwei der Anwesenden mit einer Handlung, die als Mizwa, Pflicht und Ehrenfunktion, betrachtet wird. Auch nahe Verwandte und andere Familienangehörige können, falls sie es wünschen, dem Toten einen letzten Liebesdienst erweisen und beim Waschen, Reinigen und Ankleiden seines Leichnams helfen.

Der Sarg steht bereit für den Toten Boden und Wände sind mit einem großen Laken ausgelegt. Ist der Tote ein Mann, wurde auch sein Tallith im Sarg ausgebreitet und wird gleich den Toten umhüllen Jetzt wird der Leichnam hochgehoben und in den Sarg gelegt, wozu die Anwesenden zum Abschied von dem Toten den folgenden Bibelvers sagen »Du aber, Daniel, geh hin, bis das Ende kommt, und ruhe, bis du auferstehst zu deinem Erbteil am Ende der Tage« (Dan 12, 13)

Dann wird der Deckel auf den Sarg gelegt und dieser vorläufig verschlossen. Manchmal auch schon endgültig. Vorher wird jedoch noch feierlich Erde aus dem Heiligen Land in den Sarg gestreut. Auch vor der Beerdigung ist das möglich, aber in vielen Orten wartet man damit doch bis zur Beerdigung.

Alle, die bei diesem letzten Liebesdienst am Toten mitgewirkt haben, danken dem Leiter der Zeremonie für die Mizwot, mit deren Erfüllung sie beehrt wurden. Nachdem alles geordnet und das Zimmer des Toten wieder ganz aufgeräumt ist, verlassen sie es mit dem beruhigenden Gefühl der erfüllten Pflicht.

Vor der Beerdigung

Erde aus dem Heiligen Land: keine Phantasie, keine Mystifikation. Es gibt tatsächlich etwas Sand, der aus dem Land Israel stammt und von dort überall, wo es Juden gibt, das heißt, in die ganze Welt, geschickt wird.

Praktisch überall liegt also ein Säckchen Erde aus Eretz Israel, d. h., dem Land Israel, bereit, wenn der sterblichen Hülle eines Kindes Israels die letzte Ehre erwiesen wird. Behutsam werden nochmals die Augen zugedrückt, falls sie sich geöffnet haben. Denn schlafen wird der Tote, im Staub schlafen bis zum Tag des großen Erwachens. Der mit der Erde aus Israel gefüllte Beutel wird geöffnet. Feierlich wird jedem, der bei den Vorbereitungen für die Beerdigung geholfen hat, etwas davon gegeben. Alle streuen die Erde auf das Gesicht des Toten, auf sein Sterbekleid und um ihn herum. Dazu sagen sie die Bibelworte: »… und wird … entsühnen das Land seines Volks!« (5. Mose 32, 43).

Jeder, der nicht im Land der Väter leben konnte und sich sein Leben lang damit begnügen mußte, daran zu denken, dafür zu beten, sich beim Beten in seine Richtung zu wenden, dafür Spenden zu geben und, wenn möglich, für es zu arbeiten, möchte doch gern seinen Lebensabend dort verbringen, um seine Lebenssonne in diesem Land untergehen zu sehen und dort begraben zu werden. Wem es nicht gelingt, im Staub der Erde der Stammväter zu ruhen, der läßt sich so beerdigen, daß er das Gesicht dem Land der Väter zuwendet. Und auch etwas Staub aus dem Heiligen Land bedeckt den Toten.

Vor allem in letzter Zeit schicken viele Menschen ihre teuren Toten nach Israel. Selbst wenn sie schon vorher anderenorts beerdigt wurden. Das ist möglich und auch erlaubt. Obwohl es durchweg verboten ist, Leichen auszugraben und es dem jüdischen Empfinden zuwiderläuft, die Ruhe des Toten zu stören, gelten diese Einwände nicht, wenn eine erneute Beisetzung in Eretz Israel beabsichtigt ist. Manche, die nicht die Möglichkeit haben, ihrem teuren Toten ihre Liebe und Ehre in dieser höchsten Form zu erweisen, bemühen sich, dem geliebten Toten mindestens im Sarg ein Bett auf israelischer Erde zu bereiten.

Deshalb fehlt das Symbol eines Häufchens Erde aus dem Boden der Stammväter fast nirgends.

Dieser feierliche Akt wird heute meistens direkt nach der Reinigung des Toten und seiner Einsargung vorgenommen. Früher fand er fast immer — und auch heute ist das zum Teil noch der Fall — vor der Beerdigung auf dem Friedhof statt. Dann wird der Sargdeckel noch einmal kurz entfernt und das Kopfende freigelegt. Ein Leinenbeutel, der zu den Tachrichim, der Totenbekleidung, gehört und mit ihr angefertigt wurde, wird mit Sand aus dem frisch geschaufelten Grab gefüllt. Kinder, Trauernde und Verwandte helfen, den Beutel zu füllen. Er wird dem Toten als Kopfkissen unter den Kopf gelegt. Dann wird er mit Erde aus Israel bestreut: Der Tote soll auf und in Staub ruhen.

Bevor der Sarg endgültig geschlossen wird, löst man auch die Zizith von einem der Zipfel. Jetzt hat das Symbol ausgedient, denn es ist für das Leben bestimmt, das jetzt zu Ende gegangen ist. Mit den Zizith, die für das religiöse Leben bestimmt sind, wird kein Toter beerdigt. Das käme »einen Armen verspotten« gleich.

Wird der Sarg nochmals auf dem Friedhof geöffnet und ist es eine Tote, nehmen die Frauen alle notwendigen Handgriffe für die Beerdigung vor. In letzter Zeit hat sich jedoch der Brauch durchgesetzt, schon im Haus alles für die Beerdigung Notwendige zu erledigen. Dadurch unterbleibt das erneute Öffnen des Sargs. Gleichzeitig wurden damit auch die Schwierigkeiten beseitigt, die mit diesem Öffnen und der mindestens teilweisen Freilegung eines Leichnams zusammenhingen, bei dem der Verwesungsprozess schon eingesetzt hat.

Ner tamid

Im Trauerhaus oder im Trauerzimmer eines Krankenhauses wird neben den Leichnam ein brennendes Licht gestellt, das sofort nach dem Verlöschen des Lebenslichts angezündet wurde. Es symbolisiert die Seele, die noch im Raum weilt. »Eine Leuchte des Herrn ist des Menschen Geist«, heißt es in den Sprüchen (20, 27). Solange noch der Körper in unserer Mitte weilt, glimmt auch der Geist des teuren Verstorbenen für uns weiter.

Nach der Reinigung, wenn der Sarg geschlossen und mit dem schwarzen Sargtuch bedeckt wurde, stellen wir dieses kleine Licht auf den Sarg, und zwar ans Kopfende: Blickt nicht die Seele aus den Augen des Menschen? So harrt die sterbliche Hülle des Augenblicks, in dem sie an ihre letzte Ruhestätte gebracht wird.

Die Bräuche sind in dieser Hinsicht in den verschiedenen Ländern und Gemeinden leicht unterschiedlich. In manchen Orten haben sich auch etwas eigentümliche Sitten entwickelt. Wie könnte das auch anders sein? Das Ritual wird schließlich vor allem durch Praxis und Beobachtung überliefert. Was der Mensch nun seinen Vorfahren, denen er Vertrauen entgegenbringt, abgesehen hat, macht er ihnen als gut und richtig nach. Selbst wenn er sich nicht nach dem Zweck erkundigt hat, der ihm deshalb nicht erklärt wurde und dessen Sinn er daher auch nicht versteht. Aber warum muß eigentlich alles verstandesgemäß erfaßt werden, vor allem, wenn es sich um das große Geheimnis des Todes handelt? Und die Menschen verzichten“ nicht so schnell auf ihre örtlichen Bräuche. Hier wohl am wenigsten. Dann würde sie möglicherweise der Gedanke quälen, daß es dem Toten an irgendetwas fehlt, daß sie ihre Pflichten, ihm Ehre zu bezeugen, vernachlässigt haben.

Eine Reihe solcher örtlichen Bräuche konnte der Verfasser selbst beobachten. So hat er zum Beispiel erlebt, wie der irdene Topf, mit dem die Tahara, die rituelle Reinigung, durchgeführt wurde, am Ende in Scherben geschlagen und neben den Toten in den Sarg gelegt wurde. Auch kleine Stücke auf die Augen, damit sie geschlossen bleiben. Die Gründe dafür konnte niemand dem Verfasser erklären. So hat der Beobachter, der Außenstehende, ausgezeichnet Gelegenheit, über die Bräuche um den Toten diverse Betrachtungen anzustellen.

Anderenorts beobachtete er, dass neben der Bahre ein Schüsselchen mit Caffee, gemahlenen Kaffeebohnen, stand. Wenn die Bahre für ihren letzten Gang zum Friedhof aufgehoben wurde, wurde dieses Schüsselchen auf dem Boden in Scherben zerbrochen. Das wurde als Symbol für alles Vergängliche oder einen unheilbaren Bruch erklärt.

Der Verfasser sieht das jedoch anders. Seiner Ansicht nach hatte man im Laufe der Zeit das Bedürfnis, mit dem Duft des Kaffees den Leichengeruch u vertreiben. Eine aus vielen Gründen lobenswerte Maßnahme. Damit wird die Ehrfurcht vor dem Toten durch nichts beeinträchtigt, auch nicht durch eine unbeabsichtigte Gebärde. Außerdem wird alles, was für den Toten verwendet oder auch nur für ihn bestimmt ist, für uns unantastbar. Und es versteht sich wohl von selbst, daß der Kaffee nicht weiter verwendet wird. Aus diesem gleichen Grund wird auch das Schüsselchen vernichtet. Genau wie der irdene Topf, der bei der Reinigung verwendet wurde, ebenfalls in Scherben geschlagen wird. Diese Scherben werden dem Toten mit ins Grab gegeben. Kann der Leichnam noch irgendeinen Nutzen daraus ziehen, um so besser. Wo immer eine Chewra Kadischa ihren Liebesdienst am Toten ausübt, besitzt sie die dazu notwendigen Werkzeuge, die sie für ihre Tätigkeit braucht. Sie sind ausschließlich für diesen Dienst bestimmt und werden selbstverständlich nie wieder für etwas anderes verwendet. Der Topf, meistens ist es eher ein kleiner Behälter aus Metall, gehört zu dieser festen Ausrüstung und wird nicht vernichtet. Aber selbst dort, wo es geschieht, ist von einem Totenkult noch längst nicht die Rede. Nichts liegt dem Judentum ferner als Totenverehrung. Wenig wird wohl so hoch in Ehren gehalten und mit solch einer aufrichtigen Frömmigkeit umhegt wie die sterbliche Hülle eines Menschen, der seinen letzten Schlaf tut.

–> Taharah
Vom Waschen und Reinigen des Leichnams und vom Gebet, welches diejenigen verrichten sollen, die sich mit der Bestattung des Toten beschäftigen.

Quelle: Jüdische Riten und Symbole, von S. Ph. De Vries, Marixverlag, Neuauflage 2005, Neu übersetzt und bearbeitet von Miriam Magall

Dieses Buch gilt sowohl für Juden als auch für Nichtjuden noch immer als das Standardwerk über die jüdische Religion, über die Bräuche und Vorschriften innerhalb des jüdischen Alltags.

Aus den Wurzeln der Tradition erklärt Rabbi S. Philip de Vries, der 1944 im Konzentrationslager Bergen-Belsen ermordet wurde, Riten, Symbole, Feiertags- und Alltagsbräuche, Übungen und Gebete, um das Judentum, seine historischen und moralischen Hintergründe sowie seine Glaubensformen Juden und Nichtjuden verständlich zu machen.