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Zum Wochenabschnitt PARASCHAT JITHRO (Schmot 18.1 – 20.23)

Von Zwi Braun

„Und Mosche stieg auf, zu Gott hin, da rief ihm Gott vom Berge zu: Also sage dem Hause Jakows und berichte den Söhnen Israels“ (Schmot 19, 3).

Warum werden hier zwei verschiedene Gruppen des Volkes angesprochen, Bet Jakow, das Haus Jakows und Bne Jisrael, die Söhne Jisraels?

In allen Zeiten…

Ibn Esra verweist auf eine Erklärung, welche unter Bet Jakow die am Sinai Anwesenden, und unter Bne Jisrael die zukünftigen Generationen versteht. Dies würde dem Bund entsprechen, den Gott am Ende der vierzigjährigen Wüstenwanderung mit der neuen Generation schließt: „Und nicht mit euch allein schliesse Ich diesen Bund und diesen Eid, sonden mit dem, der hier mit uns heute steht vor Gott, unserem Gotte, und mit dem, der nicht hier mit uns heute ist“ (Dew. 29, 13-14).

Die Torah wurde am Sinai dem jüdischen Volk und all seinen zukünftigen Generationen gegeben. Die Pflicht jüdischer Eltern besteht darin, das ewige Wort Gottes den Kindern zu vermitteln und sie im Sinne der jüdischen Tradition zu erziehen. Jede Generation lebt mit ihren eigenen Fragestellungen und Problemen, doch die Tora enthält für jedes Zeitalter die ihm gemässe Antwort: „Blättere in ihr und blättere in ihr, denn alles ist in ihr enthalten“ (Pirke Awot 5,22).

In allen Wegen…

Im Kommentar „Or Hachajim“ des Rabbi Chajim ben Atar werden Bet Jakow und Bne Jisrael als zwei Gruppen interpretiert, die sich in ihrem geistigen Verständnis voneinander unterscheiden, gleichsam das einfache Volk und die Gruppe der Gelehrten und der Weisen. An beide soll Mosche sich wenden, doch auf eine Art und Weise, die ihrem Auffassungsvermögen entspricht. Der Midrasch Rabba (5, 9) führt diesen Gedanken weiter aus und bezieht sich auf den Vers der Psalmen (29, 4), wo von der Stimme Gottes, welche mit Kraft ertönte, die Rede ist.

Jeder der am Sinai Anwesenden empfing die göttliche Offenbarung in der ihm angemessenen Art und Weise. Die Weisen entsprechend ihrer „Kraft“, d.h. ihrem Verständnis, junge Menschen anders als lebenserfahrene, ältere Personen. Die Torah hat jedem von uns ihre persönliche Botschaft mitzuteilen, spricht jeden von uns an, und Aufgabe eines Mosche, Aufgabe der geistigen Führer des Volkes zu allen Zeiten ist es, den Inhalt und das Vermächtnis der jüdischen Lehre jedem einzelnen seiner Kapazität gemäss zu vermitteln.

Im Kiddusch, der Schmone Esre und dem Tischgebet von Schawuot ist die Rede von „Sman Matan Toratenu“, der Zeit der Übergabe unserer Tora und nicht von „Sman Kabbalat Toratenu“, der Zeit der Empfängnis unserer Tora. Rabbi Menachem Mendel von Kozk erklärt dies mit dem soeben dargestellten Gedanken. Jeder bekam dieselbe Tora, doch das Verständnis und die Bereitschaft sie zu akzeptieren waren individuell sehr verschieden. Daher sprechen wir von der uns allen gemeinsamen „Ubergabe“.

Escheth Chajil – Unsere Frauen

Eine dritte Möglichkeit, Bet Jakow und Bne Jisrael zu verstehen eröffnet wiederum der Midrasch, von Raschi zitiert und von S.R. Hirsch aufgenommen: „Denn Bet Jakow, der Familie, und insbesondere den Trägern des Familienlebens, den Frauen soll dieser Grundgedanke in das Gemüt hineingesprochen und erläutert werden; den Söhnen Israels, in dieser Gegenüberstellung speziell den Männern, soll er vollständig vergegenwärtigt werden.“

Tatsächlich finden wir in der talmudischen Literatur, dass Rabbi Jossi seine Frau als „sein Haus“ bezeichnete (Schabbat 118b), weil er in ihr den Mittelpunkt des Familienlebens sah.

Warum wendet sich Gott mit der Tora zuerst an die jüdische Frau? Weil sie in erster Linie für die Erziehung der Kinder von klein auf besorgt ist. In ihren Händen ruht von der Wiege des Neugeborenen an der Auftrag, die ewigen Werte der Tora weiterzugeben, denn „was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“. Am Vorbild der Mutter lernt das Kind zuerst jüdische Werte kennen und wächst mit ihnen auf. Daher räumt hier die Tora der Frau Priorität ein.

Quelle: Zwi Braun, 3 Minuten Ewigkeit. Aktuelle Betrachtungen zum Wochenabscbnitt und zu den jüdischen Feiertagen, Morascha Zürich