Waschti und Esther

Zwei Königinnen – zwei Stadien feministischen Bewusstseins

Von Marianne Wallach-Faller

An Purim wird die Megillat Esther gelesen, in der die Errettung der Juden Persiens durch die jüdische Königin Esther erzählt wird. Da diese Rettung durch eine Frau geschah, wird im Talmud festgelegt: „Frauen sind zum Lesen der Estherrolle verpflichtet, denn sie waren an diesem Wunder beteiligt.“ (Megilla 4a)

Kleine jüdische Mädchen verkleiden sich an Purim gern als Königin Esther – kaum aber als Esthers Vorgängerin, die verbannte Königin Waschti. Dies widerspiegelt die rabbinische Interpretation der beiden Königinnen: Waschtis Verhalten – ihre Weigerung, den betrunkenen Gästen des Königs ihre Schönheit zu zeigen – interpretierten die Rabbinen negativ, während sie Esthers Verhalten idealisierten.

Nun sind aus jenen kleinen jüdischen Mädchen, die sich als Königin Esther verkleideten, manchmal ausgewachsene Feministinnen geworden, die ihrer Verpflichtung, an Purim die Megillat Esther zu lesen, recht kritischen Sinns nachgehen.

Wichtig wird für sie die Begründung, mit der König Achaschwerosch seine Frau Waschti verbannt: «Nicht den König allein hat die Königin Waschti beleidigt, sondern alle Fürsten […] Denn das Wort der Königin wird sich bei allen Frauen verbreiten und ihre Ehemänner in ihren Augen herabsetzen, indem es heissen wird, König Achaschwerosch hat befohlen, die Königin Waschti vor ihn zu bringen, und sie kam nicht» (Esther 1. 16 f.).

Wird die Verbannung Waschtis bekannt, „so werden alle Frauen ihren Ehemännern Ehrerbietung bezeigen, vom Vornehmsten bis zum Geringsten“ (Esther 1. 20). Die jüdische Feministin Mary Gendler dazu: „Männer wurden als Herren ihres Hauses und der Gesellschaft im allgemeinen gesehen […] Die Botschaft kommt durch: Frauen, welche mutig, direkt, aggressiv und ungehorsam sind, sind inakzeptabel. Lobenswert hingegen sind jene Frauen, die bescheiden sind, auf leise Art hartnäckig, und ihre Macht durch die Liebe erhalten, die sie in Männern erwecken.“

Feministinnen entdeckten nun Waschti als Vorbild für ihren Widerstand gegen männliche Autorität, das Patriarchat. Waschti begann ihnen viel besser zu gefallen als Esther, die ihnen als Modell der liebenswürdigen, angepassten und folgsamen jüdischen Frau erschien, die sie nicht mehr sein wollten. Sie wollten aber nicht dasselbe tun wie die Rabbinen, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Sie wollten nicht Waschti weiss und Esther schwarz zeichnen.

Mary Gendler schreibt: «Ich schlage vor, dass Waschti wieder auf den Thron gesetzt wird, zusammen mit ihrer Schwester Esther, damit sie zusammen die Seelen und Handlungen von Frauen leiten. Frauen, welche die Attribute dieser ungewöhnlichen Frauen in sich vereinen – Schönheit gemildert durch Charme, Stolz gedämpft durch Demut, Unabhängigkeit kontrolliert durch herzliche Treue, Mut, Würde – solche Frauen werden ganzheitlicher sein als jene, weiche versuchen, Esther nachzueifern.»

Für Penina V. Adelman sind Waschti und Esther „dynamische Gegensätze“und «verkörpern zwei Stadien feministischen Bewusstseins. Das erste Stadium, durch Waschti symbolisiert, ist ein Stadium des Widerstandes. In diesem Stadium kämpfen Frauen, um ein Selbstwertgefühl zu erlangen, das nicht mehr erschüttert werden kann. Das zweite Stadium, durch Esther symbolisiert, ist ein Stadium politischer Strategien. Gefestigter in ihrer sozialen Stellung, kann Esther langfristige Ziele ins Auge fassen.» Dadurch, dass sie ihren Mann dazu bringt, ihr zu gehorchen, und zwar zum von ihr bestimmten Zeitpunkt, rettet sie nicht nur das jüdische Volk. Sie ist, quasi als Nebenprodukt dieser Rettungsaktion, auch Vorbild dafür, wie sich Frauen gegen die Unterdrückung ihrer Ehemänner wehren können.

Rabbinerin Lynn Gottlieb erinnert, dass Esther Hoffnungsträgerin für die Marranen war. Viele Marranen praktizierten ihr Judentum im Geheimen. „Die Frauen der Marranen-Gemeinden sahen sich als Königin Esther“, indem sie versteckt ein jüdisches Leben führten, während sie nach aussen als Christinnen lebten. „Sie leiteten Gemeindegebete, führten Trauungen durch und entwickelten Rituale rund um das Fasten Esther, welches zu einem Hauptfeiertag der ‚conversos‘ wurde.“

Wenn die Rabbinen Esther auch idealisiert haben, ist sie keine Heilige, da sie nicht zum König geht, um für die Rettung der Juden zu bitten. So lässt ihr Mordechai sagen: «Bilde dir nicht ein, im königlichen Palast allein von allen Juden der Gefahr zu entgehen! Denn wenn du schweigst, so wird Hilfe und Rettung den Juden von einer andern Seite her erstehen; du aber und dein väterliches Haus, ihr werdet zugrunde gehen. Wer weiss denn, ob du nicht um dieser Zeit willen zur königlichen Würde gelangt bist?» (Esther 4. 13–14) Worauf Esther Rettungsstrategien entwickelt. Die orthodoxe Feministin Blu Greenberg: «Es gibt viele engagierte Juden und Jüdinnen, die denken, die assimilierten seien alle verloren. Für immer. Esther riskierte ihr Leben, um ein Volk aus grösster Gefahr zu retten, zu dem sie den Kontakt praktisch verloren hatte.»

Dies sind einige Beispiele, wie heutige jüdische Feministinnen, orthodoxe und liberale, die biblischen Frauen Waschti und Esther sehen – Facetten der «siebzig Gesichter der Tora».

Quelle: Die Frau im Tallit. Judentum feministisch gelesen, herausgegeben von Doris Brodbeck und Yvonne Domhardt, mit einem Vorwort von Eveline Goodman-Thau und Marie-Theres Wacker, Chronos-Verlag Zürich 2000.