Was ist Leben?

Von Rabbiner Ezriel Tauber

Das jüdische Volk existiert heute, weil vor langer Zeit ein Mann, unser Stammvater Abraham, Fragen stellte. Wir sind auch da, um Fragen zu stellen. Die erste Frage, die ich fragen möchte ist: Was ist Leben?

Es klingt einfach, doch überlegen wir uns Folgendes: Ich bin sicher, dass Sie fast alle Ihre Geburtstage feiern. Können Sie den Grund dafür erklären? Was soll diese große Aufregung? Sie wurden 30, 35, 40, 45, 50. Es ist ein weiteres Jahr. Sie haben die Umwelt ein bisschen mehr verschmutzt. Können Sie logisch, ohne irgendwelche Religion, das Rationale daran erklären?

Es gibt Menschen, die antworten: “Es geht um Anerkennung“. Ein Geburtstag ist ein Brauch, mit dem man anerkennt, dass ein weiteres Jahr vorbeigegangen ist. Stellen Sie sich vor, dass ein Mensch zum Tod verurteilt worden ist. Er ist verzweifelt und der Richter sagt ihm, dass er keine Angst haben müsse. Er werde in einen Zug gesetzt, der ihn zum elektrischen Stuhl bringt. Entlang der Strecke gibt es 80 Stationen und bei jeder Station gibt es eine Feier.

Was wird dieser Mensch machen? Wird er sagen “O, vielen Dank, Euer Ehren, Sie sind so freundlich?“ Oder wird er mit aller Kraft schreien und Widerstand leisten, bis man ihn in den Zug tragen muss? Und wenn er einmal im Zug ist, wird er dann ruhig sitzen bleiben? Kaum, er wird zuerst versuchen, die Notbremse zu ziehen – erfolglos. Dann wird er versuchen, aus dem Zug zu springen, was ihm aber auch nicht gelingen wird. Was wird er bei der vierzigsten Station machen? Wird er eine Party feiern? Jede Station ist ein Schritt näher zum elektrischen Stuhl!

Es tönt lustig, aber dies ist unsere Situation. In der Minute, in der wir geboren wurden, wurden wir zum Tod verurteilt. Wir wurden in einen Zug gesetzt, der uns im Spital empfangen und später beim Grab abliefern wird. Wir versuchen, diesen Zug zu stoppen, aber es geht nicht. Ist es ein Trost zu sagen: “hab‘ keine Angst, wir haben 70, 80 oder 90 Stationen unterwegs, um eine Feier zu machen.“ Ein Jahr von uns ist gerade gestorben, wir sehen es nie wieder. Weshalb sollten wir feiern?

Sie möchten einen Brauch, eine Form von Anerkennung? Wie wäre es, wenn wir jährlich ein “Scheinbegräbnis“ machen? Es tönt grässlich, aber es macht wenigstens Sinn. So wie wir es jetzt machen, leiden wir 80 Jahre. Am Schluss, wenn schon nichts mehr geändert werden kann, kommt der Rabbiner, um eine Lobrede über uns zu halten. Wir können nicht einmal aus dem Sarg springen, um etwas zu antworten. Hätten wir jedes Jahr ein “Scheinbegräbnis“ gemacht, so hätten wir mindestens 60 oder 70 Lobreden gehört! Vielleicht hätten wir etwas bei uns verbessern können.

Ich mache Spaß, aber mein Ziel ist es, dass Sie zu denken beginnen. Dies ist eine sehr praktische Frage und hat nichts mit Religion zu tun. Weshalb feiern wir Geburtstag? (Einmal hat eine Frau im Plenum geantwortet, “der Grund ist, weil es ein sehr trauriger Tag ist. Wir machen die Feier, damit wir vergessen können, wie traurig es in Wirklichkeit ist.“ Diese Antwort ist mehr als richtig). Wenn Sie so sind wie die meisten Personen, werden Sie wahrscheinlich erfolglos nach einer Antwort suchen.

Glück und Unterhaltung

Lassen Sie mich eine andere Frage stellen. Die gesamte Menschheit, seit Beginn der dokumentierten Geschichte – bis und mit heute, hat immer ein Ziel anvisiert: Glück. Wurde dieses Ziel erreicht? Sind die Leute wirklich glücklich? Sind Sie jemals einer glücklichen Person begegnet; sind Sie selbst glücklich?

Wenn ich diese Frage in einem Saal stelle, strecken normalerweise eine oder zwei Personen ihre Hand auf. Dann sage ich, dass ich glaube, dass diese Personen glücklich sind, aber sie kennen wahrscheinlich die Definition von Glück nicht. Wenn ich die wirkliche Definition gebe, streckt normalerweise niemand mehr auf.

Das Phänomen, dass Menschen nicht glücklich sind, obwohl Glück seit Tausenden von Jahren angestrebt wird, sollte uns die Augen öffnen. Alles andere, das die Zivilisation versucht hat zu erreichen, wurde auch erzielt; man träumte davon, einen Menschen auf den Mond zu bringen – man brachte einen Menschen auf den Mond. Man wollte Krankheiten heilen – die moderne Medizin entstand. Man wollte mehr Komfort – es wurden die entsprechenden Technologien entwickelt. Eine Sache wurde nie erreicht: Eine glückliche Gesellschaft – und dies, obwohl seit Beginn der Menschheit unzählige Philosophen daran gearbeitet haben. Gurus, Priester und Psychologen haben es versprochen, und Politiker haben dieses Ziel zum unübertragbaren Recht erklärt.

Ich gehe sogar so weit zu sagen, dass der Hauptgrund für alle Erfindungen der modernen Wissenschaft, speziell diejenigen der Unterhaltungsindustrie, ist, ein bisschen Glück zu erlangen. Tatsächlich hat die Wissenschaft im letzten Jahrhundert riesige Fortschritte erzielt. Hätten wir vor 150 Jahren jemandem geglaubt, der gesagt hätte, dass man eines Tages einen Film anschauen kann? Es entstand der Schwarzweißfilm, dann der Tonfilm und schließlich der Farbfilm. Hat uns das glücklich gemacht?

Als nächstes sagten die Leute: “Wenn ich nur den Film zu Hause anschauen könnte, das wäre wirklich gut; man müsste nicht mehr anstehen und nicht mehr in einem dunklen Saal sitzen“. Jetzt haben wir Filme zu Hause. Videos, Kabelfernsehen, weltweite Nachrichten – was immer wir auch möchten, können wir sehen. Und wir sind noch immer nicht glücklich.

Weshalb? Vielleicht ist es zu mühsam, vom Fauteuil aufzustehen und das Programm zu wechseln. “Hätte ich nur eine Fernsteuerung, dann wäre ich wirklich glücklich“. Wir haben die Fernsteuerung erhalten und sind immer noch nicht glücklich.

(Jedes Mal, wenn ich nach Israel reise und die Beduinen sehe, bin ich verblüfft darüber, wie sie absolut nichts besitzen – sie leben unter primitivsten Bedingungen, in Zelten ohne Wasser, Elektrizität oder sanitären Anlagen – aber sie haben ein tragbares TV-Gerät!)

Milliarden und Abermilliarden von Dollar – die Nummer eins der amerikanischen Industrie ist Unterhaltung – und die Menschen sind immer noch nicht glücklich. Im Gegenteil, die Menschen sind unglücklicher als früher. Diejenigen, die am meisten von der Unterhaltung abhängig sind, sind diejenigen mit den meisten Depressionen; sie führen das unproduktivste Leben.

Was lernen wir daraus? Wenn wir es genau betrachten, sehen wir Folgendes: Der Grund, warum die Menschheit nie das Ziel einer glücklichen Gesellschaft erreicht hat, ist, weil sie keine wirkliche Definition vom Leben hatte. Wenn diese Definition fehlt, kann man nicht glücklich sein. Darum streben die Leute als Ersatz so intensiv Unterhaltung (sprich Ablenkung) an. Unterhaltung ist in Wirklichkeit eine Möglichkeit, um uns selber auszuweichen. Je mehr wir ausweichen können, desto besser ist die Unterhaltung. Wenn Sie nach einem Wochenende sagen können, “das Wochenende ist vorbeigegangen ohne dass man es gemerkt hat, G”tt sei Dank habe ich vergessen, wer ich bin“ – das war ein gutes Wochenende. In der Wirklichkeit ist Unterhaltung eine Art, uns selbst zu töten. (Es gibt in der modernen Gesellschaft den Ausdruck: “die Zeit totschlagen“, über den ich einmal den Kommentar hörte: “das ist kein Mord, sondern Selbstmord.“) Das Fazit ist: Was die meisten Menschen mit Glück gleichsetzen, ist in Wirklichkeit nichts anderes als der langsame, schmerzlose Prozess eines Selbstmordes.

Wohin ziele ich? Das am wenigsten geschätzte Gut, die am wenigsten geschätzte Erfahrung, ist – Leben.
Wir machen alles, nur um Leben zu ignorieren, um mit etwas anderem beschäftigt zu sein. Wir verdrängen die Tage immer und immer wieder, bis man sich eines Tages in einem Pflegeheim in einem Rollstuhl sitzend findet. Alles, was man dann macht, ist z.B. die Autos zu zählen, die vor dem Fenster vorbeifahren, den Erinnerungen nachzugehen und sich zu sagen “Ist dies der Zweck des Lebens?“

Meiner Meinung nach ist das der größte Fehler, den die Menschen machen. Man diskutiert über Philosophie – Juden diskutieren speziell über den Holocaust, den Staat Israel, Antisemitismus, Geschichte und andere Fragen – nur nicht über die wichtigste Frage: WAS IST LEBEN? Diese Frage ignorieren wir völlig, obwohl sie die Basis von allem ist. Ohne diese Definition ist die ganze Philosophie nur ein Luftschloss.

Wir sind unglücklich, weil wir uns keine Zeit nehmen, um uns mit dem Thema Leben zu befassen. Dies ist der erste Punkt den wir vor allen anderen behandeln müssen.

(Nebenbei gesagt, ich habe über dieses Thema, das in unserem Buch “Choose Life“ behandelt wird, gesprochen, von Nord- bis Südamerika, von Russland bis Europa, von Hongkong bis Bangkok, von Johannesburg bis Jerusalem, mit säkularen und religiösen Menschen, mit den Erfolgreichsten und den Heruntergekommensten, mit Intellektuellen in den Universitäten und den Kriminellen in den Gefängnissen, mit den reichsten und gesündesten sowie mit den ärmsten und kränksten Menschen.) Es ist ein Thema, das jeden anspricht, weil jeder an der gleichen Sache Schuld ist: Alle wissen nicht, was Leben ist und nehmen sich nicht einmal Zeit von der Beschäftigung, “der Welt davonzurennen“, um herauszufinden, worum es dabei geht.

Das Flugzeug

Wenn wir nicht wirklich den Wert des Lebens kennen, können wir damit nicht glücklich sein, egal wie viel Bequemlichkeit und Geräte wir um uns haben. Wenn wir aber andererseits einmal den Wert des Lebens verstehen, können sogar Schwierigkeiten und Not uns nicht davon abhalten, Freude und Begeisterung zu empfinden.

Stellen Sie sich folgendes Szenario vor: Sie kaufen Immobilien in Australien und am nächsten Tag offeriert Ihnen jemand 10 Millionen Dollar mehr. Mit anderen Worten, Sie können wirklich über Nacht 10 Millionen Dollar reicher werden! Es gibt nur eine Einschränkung: Sie müssen innerhalb des nächsten Tages persönlich in Australien sein, sonst ist das Geschäft geplatzt.

Ein Flug nach Australien dauert knapp 25 Stunden, und es gibt pro Tag nur einen Flug. Wenn Sie ihn verpassen, gibt es keine Möglichkeit mehr für Ihren Gewinn. Sie brauchen nur ein Billet, aber alle Plätze sind ausverkauft. Sie probieren deshalb, ein Flugzeug zu mieten, haben aber keinen Erfolg.

Es gibt keine andere Möglichkeit für Sie, als dem Manager 20.000 Dollar auf den Tisch zu legen und zu sagen “ich MUSS diesen Flug nehmen, ganz gleich wie. Setzen Sie mich auf die Toilette, es macht mir nichts aus, aber ich muss auf diesem Flug sein.”

Der Manager nimmt das Geld und sagt dem Hauptsteward “nimm diesen Mann und setze ihn auf die Toilette“.

Sie sind im Flugzeug – ich nenne Sie Passagier A -, wo Sie 25 Stunden auf der Toilette sitzen. Alle zehn Minuten werden Sie hinausgeschickt. Die Menschen schauen Sie an und fragen “was macht dieser Mensch hier?“ Stellen Sie sich dies vor. Dies ist Passagier A.

Auf dem selben Flug ist Passagier B, ein Multimillionär. Täglich fließen Millionen auf sein Konto und er weiß nicht, wie er sie ausgeben soll. Er hat einen miserablen Charakter, seine Frau hat ihn gerade aus der Wohnung geworfen und seine Familie hat ihn verlassen. Niemand fühlt Zuneigung zu ihm.

Er hat eine Idee: “Ich brauche ein wenig Zuneigung und Aufmerksamkeit. Ich kaufe ein Billet für einen Langstreckenflug und werde für ein paar Tage verwöhnt.“ Gesagt, getan: Er kauft ein Billet für die erste Klasse, der rote Teppich wird für ihn ausgerollt und er lässt jeden wissen, dass er Geld im Überfluss hat. Für jedes Glas Champagner gibt er einen 100-Dollar-Schein als Trinkgeld. Alle Stewardessen schwirren um ihn herum wie die Bienen. Er ist der am meisten umschwärmte Passagier der Welt.

Wenn man nun die Passagiere fragt, wer der glücklichste und wer der ärmste Passagier auf dem Flug ist, würde jeder antworten, der Glückliche sei der reiche Mann in der ersten Klasse und der Ärmste sei derjenige auf der Toilette. In Wirklichkeit ist es aber genau umgekehrt. Was macht den Mann in der Toilette zum Glücklichsten und den in der ersten Klasse zum Ärmsten?

….. das Schicksal

Wohin gehen Sie, was ist Ihr Ziel? Der Mann auf der Toilette will sein Ziel erreichen. Er weiß, warum er auf dem Flug ist, und ist bereit, alles dafür aufzuopfern. Der Mann in der ersten Klasse hat kein Ziel. Es spielt keine Rolle, wie es ihm im Moment geht – er ist die ärmste Person.

Meine Damen und Herren, wir befinden uns alle in diesem Flugzeug. Es gibt solche, die fliegen 70 Jahre, andere 80 und andere 90. Aber wir sind alle auf dem gleichen Flug. Eines Tages ist dieser Flug zu Ende.

Was können wir daraus machen? Wir kämpfen um einen Fensterplatz, einen Platz in der Mitte oder am Gang; erste Klasse oder zweite etc., aber keiner von diesen Plätzen macht uns glücklich. Wenn wir aber andererseits herausfinden, was unser Ziel ist, weshalb wir auf diesem Flug sind, dann macht es uns glücklich.

Das magische Wort

Eine Firma hat mehrere Abteilungen, Einkauf, Verkauf, Herstellung, Marketing, Personal und so weiter. Es spielt keine Rolle, wo man ist, aber es gibt ein magisches Wort, das man kennen muss, um erfolgreich zu sein. Dieses magische Wort heißt “Geld“.

Geschäfte sind gewinnorientiert. Ein Geschäftsmann macht Geschäfte, um Geld zu verdienen. Wenn man sich das merkt, macht es keinen Unterschied, in welcher Abteilung man ist – man verdient auf jeden Fall. Wenn Sie im Einkauf sind, dann wissen Sie, wo die Ware am billigsten ist und im Verkauf wissen Sie, wo sie am teuersten verkauft werden kann. Geld ist das magische Wort.

Welches ist das magische Wort im Judentum? Es gibt solche die denken: Maschiach (der Messias), andere denken Schabbat (den Sabbat zu hüten), die Thora zu hüten, Mizwot (Gebote) zu erfüllen, ein heiliger Jude zu sein, dies oder das. Das ist alles wahr, aber es sind nur Werkzeuge, um das endgültige Ziel zu erreichen. Genauso wie im Geschäft “kaufen” und “verkaufen“ die Werkzeuge sind, um das Hauptziel zu erreichen, so sind auch Maschiach, Schabbat etc. nur Werkzeuge, um das Hauptziel des Judentums zu erlangen. Was ist denn das Hauptziel?

Die Antwort ist Kiddusch Haschem, die Heiligung des Namens von G”tt.

Kidusch haSchem

Jitgadal vejitkadasch schme rabba…,
“verherrlicht und geheiligt soll der GROSSE NAME sein…“ (Kaddisch)

Jakiru vejeid’u kol Joschwe Tewel,
“Es soll bei allen Einwohnern der Welt anerkannt und bekannt sein (dass es G”tt gibt).“ (Alenu Gebet)

Es ist unsere Aufgabe, der Welt zu zeigen, dass haSchem (G”tt) existiert. Natürlich bedeutet das mehr als das förmliche Bekenntnis, dass G”tt existiert. Es beinhaltet das Bewusstsein, dass man ständig mit der Präsenz von G”tt lebt und dass man G”tt in allem sieht, das sich ereignet. (Siehe Kapitel 2 und 3.) In der Tat kann der Name von G”tt ständig auf unseren Lippen und nahe bei unserem Herzen sein oder auch sehr weit entfernt. Die Pflege dieses Bewusstseins liegt beim Menschen. Dies heisst Kiddusch Haschem.

Das Gegenteil von Kiddusch Haschem ist Chillul Haschem, die Entweihung von G”tt. Der Sohar betont, dass das Wort Chillul mit dem Wort Chalal verwandt ist, das “Loch“ oder “Vakuum“ bedeutet. Wenn die Menschen G”tt nicht sehen oder verstehen, dann existiert ein Loch oder Vakuum, ein Chillul Haschem. Unsere Aufgabe ist es, dieses Loch zu füllen und der ganzen Welt die Präsenz von G”tt bewusst zu machen.

Kiddusch Haschem heißt so zu handeln, dass es mit der himmlischen Ordnung vereinbar ist und damit das Leben auf der Erde als eine Reflexion des Himmels zu gestalten. So wie im Himmel, so auf der Erde. Von der ganzen Menschheit wird erwartet, so zu handeln. Inmitten der ganzen Menschheit gibt es aber ein Volk, das dazu bestimmt wurde, den Weg zu zeigen: Israel, das jüdische Volk.

“Ich, G”tt, rufe dich in Rechtschaffenheit … dich als Licht der Völker zu machen.“ (Isaiah 42:6)

Nikdaschti betoch bne Jisrael “ich werde in der Mitte des jüdischen Volkes geheiligt werden.“ (Gebet von Rosch Haschana und Jom Kippur)

Israel wurde zum Führer in Sachen Kiddusch Haschem gewählt. Kiddusch Haschem ist daher das magische Wort im “Geschäft“ des Judentums. Es ist das Hauptziel. Es ist sogar mehr als ein Geschäft; im Geschäft arbeitet man am Tag und begibt sich dann in sein privates Leben nach Hause. Das Judentum ist nicht so. Ein Jude beschäftigt sich 24 Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche mit Kiddusch Haschem. Wir haben dafür die Thora, die uns 24 Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche leitet. Wenn wir ein Leben gemäß der Thora leben, dann bringen wir das Bewusstsein der Existenz von G”tt auf die Welt. Das heisst Kiddusch Haschem, die Heiligung des Namens von G”tt.

Strahlen wie Engel

Um dies zu illustrieren, lassen Sie mich die Geschichte eines Ger Zedek, eines zum Judentum Übergetretenen, erzählen, der vor dem Holocaust in der tschechischen Stadt Nitra wohnte. Er trat kurz nach dem ersten Weltkrieg zum Judentum über, als die Situation der Juden extrem schwierig war. Trotzdem wurde er ein richtiger Konvertit und zog eine schöne, sehr religiöse Familie auf. Als die Nazis im zweiten Weltkrieg die Tschechoslowakei besetzten und mit den Deportationen begannen, wollte seine nichtjüdische Familie ihn retten.

“Ich bin ein Jude“, antwortete er, “und ich teile das Schicksal mit all meinen jüdischen Brüdern. Was ihnen passiert, wird auch mir passieren.“

Er wurde schließlich wie alle anderen tschechischen Juden deportiert. Es gibt Augenzeugen die berichten, dass er am Weg in die Gaskammer gesungen und getanzt hat, um G”tt für das Privileg zu danken, zu sterben, weil er Jude war. Wie hat er dieses Niveau von Hingabe erreicht? Was führte dazu, dass er zum Judentum übertrat, als die Bedingungen für Juden so schlecht waren? Ich hörte die Antwort aus erster Hand, von jemandem, der ihn direkt gefragt hat.

Er sagte: “An einem Abend von Jom Kippur, bin ich bei der Synagoge von Nitra vorbeigekommen und sah, wie alle Menschen weiß gekleidet waren. Sie sahen wie Engel aus. Ihre Gesichter strahlten, sie strahlten eine andere Welt aus. Ich realisierte, dass dies die Gesichter meiner jüdischen Freunde waren, mit denen ich das ganze Jahr hindurch geschäftliche Beziehungen hatte. Ich konnte sie kaum erkennen.“ “Wenn eine solche Religion existiert“, sagte ich mir, “die einfache, alltägliche, arbeitende Menschen in Engel verwandeln kann, dann möchte ich dieser Religion angehören.“

Unsere Aufgabe ist es, jeden, der mit uns in Kontakt kommt (einschließlich uns selber), in ein Gefäß zu verwandeln, das die Anwesenheit G”ttes ausstrahlt. Jeder, der einen von uns trifft, sollte sagen: “ Ich möchte wie sie werden.“ Wenn wir nach den religiösen und ethischen Standards der Thora leben und dadurch Freude und Heiligkeit ausstrahlen, dann verwandeln wir die Welt. Das ist die Kraft von Kiddusch Haschem, ein Leben mit einem bewussten Zweck zu leben.

Aus dem Buch „So wie im Himmel, so auf der Erde“ von Rabbiner Ezriel Tauber. Das Buch ist im Jüfo-Zentrum Zürich erhältlich.