Warum gegen Juden?

Warum war schon Awraham, der erste Vertreter des ethischen Monotheismus, Ziel von Hass und Diffamierung. Warum stieß König Nimrod diesen Mann, den seine Nachbarn als Mann des Friedens und der Verständigung ehrten, in den glühenden Ofen?

Auf solche Fragen kann es keine Antwort geben, es kann nur Versuche geben Gedanken zu ordnen, die Zeichen zu erkennen – um sich und andere besser zu schützen. Schon die Torah lehrt, dass es Antisemitismus geben wird. Im Talmud (Shab. 69) heißt es: „Warum wurde die Torah auf einem Berg mit dem Namen Sinaj übergeben? Weil ‚Sinah‘, der große Hass auf die Juden, von Sinaj ausgeht.“ (Sinah, der hebräische Ausdruck für Hass, wird fast genauso ausgesprochen wie Sinaj).

Schon nach dieser Erklärung hat der Hass nichts mit den Juden zu tun. Der Sinaj ist nicht ihr Berg, er liegt absichtlich nicht im Lande Israel, sondern im Niemandsland, in der Wüste. Israel wanderte am Berg nur vorbei und erhielt dort die Torah. Die Torah hat Israel nicht geschrieben, noch nicht einmal gelesen, bevor es sie annahm. Die dort Versammelten, die Torah spricht von 600.000*, sagten nicht „wir werden sehen was darin steht und dann überlegen ob wir sie annehmen“, sondern sie sagten „wir werden sie annehmen und dann anhören“.

Bevor die Torah empfangen wurde, richteten die Menschen ihr Leben nach subjektiven Konzepten von Gut und Böse und nach Machtverhältnissen. Am Sinaj wurde dem jüdischen Volk gesagt, dass es einen G’tt gibt, der an die Menschen moralische Anforderungen stellt. Man kann nicht leben, wie es einem gerade nützlich erscheint oder in blinder Erfüllung der Befehle anderer; es gibt eine höhere Autorität, vor der wir Rechenschaft ablegen müssen.

Die Torah lehrt, dass G’tt von uns nicht einfach Gehorsam und Opfer fordert, sondern die Übernahme von Verantwortung. Der Auszug aus Ägypten war nicht nur ein Fort von der Sklaverei, sondern auch ein Hin zur Freiheit.

Der Mensch als Geschöpf „nur um ein Weniges geringer als G’tt“ (Ps.8.6.) verleugnet in der Unterordnung unter andere nicht nur seine eigene Würde, sondern auch die seines Schöpfers: denn „G’tt sprach: Machen wir den Menschen in unserem Bild nach unserem Gleichnis!… G’tt schuf den Menschen in seinem Bilde“…

Bereits aus diesen knappen Worten im Schöpfungsbericht folgt die Gleichheit aller Menschen. Jeder ist ein einmaliges Werk G’ttes. „Wir haben alle Einen Vater, uns hat Ein G’tt erschaffen“, sagt der Prophet Malachi.

Diese Lehre erschütterte vor Jahrtausenden traditionelle Gepflogenheiten und Machtverhältnisse, und sie erschüttert die Welt auch heute! Zu jeder Zeit erschreckt sie die in Gehorsam und Mitläufertum vor sich hin Schlummernden, genauso wie sie die machtversessenen Tyrannen aller Epochen bedroht.

Or laGojim – Licht für die Völker

Ob G’tt die Torah Israel gab oder ob nur Israel die von G’tt angebotene Torah annahm ist eine Frage auf die es viele, auch witzige, Antworten gibt. Tatsache ist, dass Israel die Torah annahm und sie bis heute hochhält. Nach dem Verlust der materiellen Heimat wurde die Torah zum „geistigen Vaterland“ der Juden. Sie war über die Jahrtausende hinweg oft das einzige was das jüdische Volk besaß.

G’tt wählte für seine Torah ein Volk ohne Macht und Reichtum. Ein geknechtetes Sklavenvolk. Israel war nicht das Klügste noch das Größte unter den Völkern. Moses wusste wenig im Vergleich zum Oberpriester der Ägypter. Hätte G’tt die Torah den Ägyptern gegeben, so hätte sie im Glanz Ägyptens weithin gestrahlt. Die Griechen hätten sie verbreitet mit grandiosen Ideen und intellektuellem Zauber. Hätte er sie den Römern gegeben, so hätten sie die Gesetze durchgesetzt, mit Streitwagen und Brechstangen.

Eine rabbinische Erläuterung besagt, G’tt habe an Israel drei Eigenschaften bewundert: Zedek, Bajschanuth, Rahamim, den Sinn für Gerechtigkeit, die schüchterne Bescheidenheit und die Fähigkeit zum Mitleid. Interessant ist, dass die Anfangsbuchstaben dieser Eigenschaften das Wort ZaBaR ergeben, die hebräische Bezeichnung für die im Lande Israel geborenen der neuen Zeit.

G’tt vertraute seine Lehre also nicht einem großen Volk an, sondern „dem geringsten unter den Völkern“. Und er wusste, dass ein solches Volk mit diesen Eigenschaften sich nicht über die anderen Völker erheben würde. Er musste sogar wissen, dass ein solches Volk, mit solchen Eigenschaften, Zedek, Bajschanuth veRahamim, kaum in der Lage sein dürfte die Inbesitznahme des „versprochenen Landes“ mit den damals üblichen Ausrottungsfeldzügen durchzuführen.

Er hat dies zwar geboten: „Rotte sie aus, die sieben Völker aus dem Land das ich dir geben werde“ und diese Zeile der Torah wird auch immer wieder gerne als Beleg für die jüdische Grausamkeit angeführt. Trotzdem ist klar, dass ein solcher Genozid nie stattfand. Dies ist nicht erst klar, seit archäologische Befunde dies eindeutig beweisen, sondern schon in der Torah selbst angelegt.

Die Torah besteht nicht nur aus der sogenannten „schriftlichen Torah“, oft als „fünf Bücher Moses“ bezeichnet. Sie besteht auch aus der „mündlichen Torah“, dem Talmud. Beide zusammen – und nur zusammen – sind die Torah. Nach der Überlieferung existierte die Torah schon vor Erschaffung der Welt. Nun enthält aber die Torah ganze Kapitel, in denen sie Israel Anweisungen und Gesetze gibt zum Umgang mit den Götzendienern aus eben jenen sieben Völkern, die laut Sefer Jehoschu’a (Josua) ausgerottet werden sollten.

Ihr bestialischer Götzenkult, mit Menschenopfern und weiteren Gräueltaten, hat Israel in besonderer Weise entsetzt und dementsprechend wird vor engem Umgang mit diesen Völkern in ganz besonderer Weise gewarnt. Ausgerottet wurden sie nicht, und selbst ihnen wurde nicht die Menschenwürde geraubt. In Gittin 61 (Bab. Talmud) lesen wir: „Man versorge die Armen aus den (sieben) Völkern mitsamt den Armen Israels, und man besuche die Kranken derer aus den Völkern mitsamt den Kranken Israels, und man begrabe die Toten derer aus den Völkern mitsamt den Toten Israels – um des Friedens willen“.

Der Antisemitismus war also nicht Ergebnis irgendwelcher feindlicher Haltungen Israels. Israels Handeln hob sich stets von der Umgebung ab, in der es ja üblich war Besiegte grausam zu demütigen oder auszurotten. Im Gegensatz dazu beschränkte die Torah von vorneherein Möglichkeiten der Kriegsführung und mahnte zur Rücksicht auch gegen den Feind. Im 5.Mose 20 lernen wir: „Wenn Du eine Stadt belagerst…, darfst Du ihre Fruchtbäume nicht abhacken“.

G’tt wählte das jüdische Volk das „Licht der Völker“ zu sein, d.h. die Botschaft der Ethik in der Welt zu verbreiten, und tatsächlich wurden jüdische Ideen zur Grundlage der zivilisierten Welt, obwohl die Juden selbst immer nur einen kleinen Teil der Weltbevölkerung stellten. Für alle denen die Botschaft allgemeingültiger Gerechtigkeit, Bescheidenheit, menschlicher Solidarität und Verantwortung zur Erreichung ihrer Ziele im Wege stand, wurde das jüdische Volk mitsamt seiner Lehre zum roten Tuch. Und alle die sich in der Unterordnung bequem eingerichtet hatten nahmen die Hetze ihrer Tyrannen gerne auf und wandten sich gegen die „Unruhestifter“.

Beispielsweise schrieb Adolf Hitler: „Die Vorsehung hat mich dazu ausersehen, der größte Befreier der Menschheit zu sein. Ich befreie die Menschen von den Zwängen einer belastenden Intelligenz, von ekelhafter und würdeloser Demütigung durch eine falsche Vision, welche man auch Gewissen und Moral nennt. Ich bin angetreten als Befreier von einem Verlangen nach Freiheit und persönlicher Unabhängigkeit, die nur die allerwenigsten ertragen können.“ Hitler nahm den Menschen nicht nur die Freiheit, sondern auch die Furcht vor der Freiheit.

In Deutschland galten Macht und Ordnung von je mehr als Freiheit und Gerechtigkeit. Selbst Goethe hat gesagt, eine Unordnung hasse er mehr als eine Ungerechtigkeit.

Freiheit rufet aus im Land – für alle Bewohner!

Es ist wichtig diese Wurzel des Antisemitismus zu verstehen – auch um Barrieren gegen eine Wiederholung zu schaffen. Schon wieder hören wir – in allen Ländern, in Deutschland, Österreich und der Schweiz, in Amerika, in Frankreich, in den GUS-Staaten u.a. – die Parolen des Hasses, der Lüge und Verleumdung. Friedhöfe werden geschändet, Synagogen gehen in Flammen auf.

Unkenntnis und Gleichgültigkeit bis in die höchsten Ränge politischer, wirtschaftlicher, gesellschaftlicher Verantwortung, Beleidigungen in aller Öffentlichkeit, Hakenkreuzschmierereien und NS-Propaganda, nicht nur im Internet, zerren an den Nerven.

Auf dass Du lebest!

Bei Am Echad findet sich eine Anekdote, die von zwei Juden berichtet: einer religiös, der andere ohne Verbindung zur Religion. Ein Nazi fährt vorbei und pöbelt sie an: „Dreckige Juden!“ Der Religiöse dreht sich um, blickt verwundert, zuckt mit den Achseln und bedauert im Stillen, daß der Nazi so voller Hass ist. Der zweite läuft vor Wut rot an und rennt zeternd dem Auto hinterher.

Der eine gewinnt aus seinem Judentum große Befriedigung, er kennt die Schönheit des Schabath, das Erleben des Sederabends im Kreise von Familie und Freunden, das gemeinsame Feiern in der Gemeinde, die gegenseitige Unterstützung, den Respekt und die Achtung, die Toleranz und die Tiefe der Gespräche miteinander. Er kennt das Glück der Vermittlung unserer Werte an unsere Kinder und die Verbindung zu G’tt – dem Heiligen – gelobt sei Er.

Er kann mit einem gewissen Maß von Antisemitismus umgehen – die positiven Werte wiegen die negativen eindeutig auf. Für denjenigen aber, der nur eine schwache Verbindung zu G’tt und zur Lehre hat, entbehrt das Judentum viele dieser positiven Aspekte. Seine Antwort auf den Antisemitismus kann nur aus Wut, Frustration – und schließlich neuem Hass – bestehen. Nicht das Glück der Welt, sondern ihr Unglück wird gemehrt.

Jeder Jude hat die Wahl für oder gegen eine jüdische Zukunft. Wer sich dafür entscheidet, kann verstehen lernen, was es heißt, jüdisch zu sein – er wird das Licht der Lehre erkennen und schätzen lernen. Er wird das Judentum als eine Quelle der Freude erleben, als eine erhebende Lehre des Lebens.

Die Ursache ist auch die Antwort

Jüdische Werte sind zwar Grund für den Antisemitismus – sie bieten aber ebenso die Lösung des Schreckens. Nur durch das eigene Lernen wie auch das Lehren der Torah an andere, können wir hoffen, diese Welt an einen Punkt zu bringen, an dem das Schlechte verschwunden und das Dunkel gebannt sein wird.

Im Schm’a Jisrael heißt es: „… Es seien diese Worte, die ich dir heute gebiete auf deinem Herzen. Schärfe sie deinen Kindern ein und sprich von ihnen, wenn du in deinem Hause sitzest und wenn du auf dem Wege gehst, wenn du dich niederlegst und wenn du aufstehst. …“ (Sidur Sfath Emeth, Goldschmidt p.87, Ausg. 68).

Es gilt die G’ttlichkeit der Welt zu vertreten, die Sch’chinah sichtbar zu machen, um Tikun Olam.

Den Himmel auf die Erde bringen

In diesem Punkt sind sich, bei aller Verschiedenheit, die meisten Richtungen einig. Der Dialog ist zu suchen und zu führen – mit G’tt und den Menschen. Auf die Stimme G’ttes zu hören, die Stimme die sprach: „Es ist in deinem Munde und in deinem Herzen – es zu tun!“ Bei Raw Mendel Schneerson heisst es: „Wenn Du den Himmel findest – dann erweise uns einen Dienst und bringe ihn auf unsere Erde“.

Wenn die Menschheit die Ethik, die das Judentum der Welt vom Sinaj gebracht hat, annimmt, wenn sie begreift, dass es der Eine Einzige G’tt ist, der Himmel und Erde erschaffen hat, dass ER von uns etwas fodert, von uns allen: Verantwortung, Respekt, ethisches Verhalten, dann wird es niemals wieder einen Holocaust geben – nirgendwo.

Während des Elul erklingt das Shofar. Der Klang des Shofar, nach Rabbi Mosche Ben-Maimon, ein Weckruf, der uns aus unserem geistigen Schlummer wecken soll: „Erwache, um deine Handlungen zu untersuchen, zurückzukehren, Deines Schöpfers zu gedenken!“

Immer mehr Juden wollen zu ihrer jüdischen Identität stehen. Sogar jene, die völlig von der Gemeinde gelöst sind, weigern sich, ihre Verbindung aufzugeben.
Wollen wir nicht alle auch wissen – wozu?

*: Am Sinai mussten sich alle Männer, Frauen und Kinder versammeln. Alle erfuhren dieselbe Wahrheit, alle zur selben Zeit. Wenn es um die Essenz einer Sache geht, gibt es kein «höher» oder «niedriger». Manche mögen eine Wahrheit in größeren Zusammenhängen oder in vielen Details wahrnehmen, aber das Wesen der Wahrheit ist überall das gleiche und für jedermann geeignet. Weil G’tt überall ist.

dg