Von Konvertiten und Konzepten

Von Michael Handelzalts, Ha’aretz, 25.05.2004
Übersetzung von Daniela Marcus

Das Buch Ruth wurde zur Zeit der Ga’onim (i. e. die Weisen) vom 10. bis 11. Jh. n. d. Z. Teil des verordneten Lesens an Schawu’ot, vermutlich, weil zwei seiner mittleren Kapitel während der Ernte spielen. Die meisten Gelehrten vermuten, dass das Buch zur Zeit des Zweiten Tempels (5. Jh. v. d. Z.) als umstürzlerische Abhandlung geschrieben wurde, die gegen Esras und Nechemias Verbot von „internationalen“ Ehen protestieren sollte. „Nicht haben sich das Volk Israel, die Priester und Leviten von den Völkern der Länder abgesondert –gemäß deren Gräueln- von dem Kenaani, Hitti, Perisi, Jebusi, Ammoni, Moabi, Mizri und Emori; sondern haben von ihren Töchtern für sich und ihre Söhne genommen und sich so vermischt, heiliger Same mit den Völkern der Länder“, heißt es in Esra Kapitel 9.

Von allen Nationen, die jemals in Kontakt mit den Israeliten kamen, waren die Moabiter und Ammoniter diejenigen, denen explizit verboten war, sich unter das Volk Israel zu mischen (Deuteronomium Kapitel 23): „Es soll kein Ammoniter und Moabiter in die Volksschar des Ewigen kommen, auch das zehnte Geschlecht von ihnen soll nicht kommen in die Volksschar des Ewigen, auf ewig.“ Das Verbot bestand unter anderem deshalb, weil die Moabiter die Israeliten auf deren Weg von Ägypten nicht mit Brot und Wasser begrüßt hatten. (Dies taten andere Nationen jedoch auch nicht.) Die Weisen nennen auch die Tatsache, dass die Moabiter und Ammoniter Nachkommen einer inzestuösen Beziehung waren. Und sie sagen, dass die Israeliten auf ihrem Weg nach Kanaan in Schittim „anfingen, mit den Töchtern Moabs zu buhlen. Und sie luden das Volk zu den Schlachtmahlen ihrer Götter, und das Volk aß mit und warf sich vor ihren Göttern nieder“ (Numeri Kapitel 25).

Das Buch Ruth erzählt die Geschichte einer liebreizenden und tugendhaften moabitischen Witwe, die ihrer verwitweten israelitischen Schwiegermutter gegenüber so treu ergeben ist, dass sie konvertiert und „Alijah macht“, also ins Land Israel zieht, um dort zu wohnen. Um diesem Verhalten die Krone aufzusetzen, bringt sie auch noch einen Sohn auf die Welt, der der Großvater von König David wird.

Wenn das hebräische Wort „ger“ in der Bibel benutzt wird, ist damit ein „vorübergehend Verweilender“ gemeint (wie es die Israeliten in Ägypten waren). Wenn der Talmud dieses Wort benutzt, kennzeichnet es einen „Konvertiten“, also jemanden, der den jüdischen Glauben mit all dem, was dieser nach sich zieht, übernimmt (Beschneidung für Männer, rituelle Reinigung, alle Gebote usw.). In diesem Sinne wurde Abraham der erste Konvertit, als er seine früheren Götter verließ und dem Ewigen folgte.

Als Ruth erklärte, sie werde Noomi auf ihrem Weg zurück nach Bethlehem folgen, nachdem diese 10 Jahre als „vorübergehend Verweilende“ in Moab verbracht hatte, sagte sie einfach: „Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott“. Damit identifizierte sie Nationalität mit Religion, etwas, das den Juden bis zum heutigen Tag Kummer bereitet. Es bestehen Zweifel, ob heutzutage (oder auch in der Ära des Talmud) solch eine Erklärung als Konvertierung gemäß der Halacha, dem traditionellen jüdischen Gesetz, akzeptiert werden würde (bzw. akzeptiert worden wäre). Nichtsdestotrotz wurde Ruth die Mutter von König Davids Vorfahren, obwohl sie durch ihr Moabiter-Sein eigentlich „unkonvertierbar“ war.

Überraschende Heldin

Im modernen Hebräisch ist das Wort für „(jemanden) konvertieren“: legajer. Das Wort basiert auf dem Wort „ger“ (s. o.). Wenn man es im Gespräch über jemanden, der sich entschieden hat, zum jüdischen Glauben zu konvertieren, gebraucht –in diesem Fall heißt das Verb „lehitgajer“-, kennzeichnet man denjenigen irgendwie als „den anderen“, der nicht wirklich Teil des Volkes ist.

Warum suchte sich der Schreiber des Buches ausgerechnet eine Moabiterin aus, um sie zur Heldin seiner umstürzlerischen Geschichte zu machen? Die Moabiter waren uralte, bittere Feinde der Kinder Israels, doch sie stammen von dem gleichen Samen, der auch Abraham hervorbrachte. Als Sodom zerstört war und Lot –Abrahams Neffe- mit einer Salzsäule und zwei erwachsenen Töchtern zurückblieb, erzählte die ältere der beiden der jüngeren von einer Idee (Genesis, Kapitel 19): „Unser Vater ist alt, und es ist kein Mann sonst im Land, zu uns einzugehen, wie es aller Welt Brauch. Komm, wir wollen unserm Vater Wein zu trinken geben und uns zu ihm legen, damit wir von unserm Vater Samen leben lassen.“ Sie könnte gedacht haben, sie seien die einzigen Überlebenden des Erdbebens gewesen (obwohl sie in der Stadt Zoar wohnten und dort vermutlich lebendige Menschen sahen), doch es ist genauso möglich, dass sie deshalb Inzest vorschlug, weil sie den heiligen Samen der Familie weitergeben wollte. So wurden Moab (was im Hebräischen „vom Vater“ heißt) und Benami („Sohn meines Volkes“), der Vater der Ammoniter, geboren.

Das Buch Ruth ist eine Geschichte von Tugend und gutem Willen in Bezug auf alle Beteiligten: Ruth bleibt Noomi treu und teilt deren Leben in Armut im Ausland, und Noomi führt Ruth auf weise Art in ihr „adoptiertes“ Land. Boas, der reiche Verwandte, ist Ruth gegenüber freundlich und beschützt sie, als er sie das erste Mal auf seinen Feldern sieht, und schließlich heiratet er sie auch. Doch unter all dieser selbstlosen Tugendhaftigkeit liegt eine Geschichte über ein Erbe, über Länderein und über einen Familiennamen.

Das dritte Kapitel des Buches beschreibt die Erfüllung der männlichen ultimativen erotischen Fantasie: Boas ist bis spät in die Nacht auf der Tenne und legt sich schließlich dort schlafen. Ruth, die sauber gewaschen, eingekremt und parfümiert ist und ihr schönstes Kleid anhat, schleicht sich zu ihm, genau so, wie Noomi sie unterwiesen hat. Sie deckt seine Füße auf und legt sich neben ihn. Noomi hat Ruth gesagt, Boas werde ihr weitere Anweisungen geben, doch anscheinend entscheidet sich Ruth, die Dinge in ihre eigenen Hände zu nehmen. Die Weisen versuchen uns lang und breit davon zu überzeugen, dass Boas in dieser Nacht nicht mit Ruth geschlafen hat. Doch was wir hier haben, sind zwei ungebundene, mündige Erwachsene. Er schläft, sie deckt ihn auf und legt sich zu ihm. „Es war aber mitten in der Nacht, da schrak der Mann auf; er griff um sich, sieh, da lag ein Weib zu seinen Füßen.“ (Kapitel 3) Man kann vermuten, dass er sich solch einem unerwarteten und überraschenden Vergnügen nicht entziehen konnte.

Ein kleiner Haken

Nachdem Boas sein Gleichgewicht wieder gefunden hat, hat Ruth einen Wunsch: Sie ist eine Witwe und nach den Bräuchen der Leviratsehe dieser Zeit muss im Fall einer erneuten Heirat ein Verwandter ihres Mannes sie entweder heiraten oder sie wegschicken. Boas –es gibt Kommentatoren, die sagen, er sei zu dieser Zeit 80 Jahre alt gewesen- war in freundlicher und großzügiger Verfassung und erwiderte: „Alles, was du sagst, will ich für dich tun.“ (Kapitel 3) Doch es gibt einen kleinen Haken. Er ist zwar ein Verwandter, doch es gibt einen näheren Verwandten und somit hat dieser das Vorrecht. Man vermutet, dass dies eine Sache ist, die nur Ruth und ihren Familienstand betrifft, doch es gibt noch weitere Dinge zu berücksichtigen. Boas vertraut jedoch darauf, dass alles gut gehen wird und so verlässt Ruth am Morgen die Tenne, wobei sie sechs Maß Gerste mitnehmen darf.

Erst zu Beginn des vierten Kapitels erfahren wir, das Elimelech, Noomis Ehemann, vor seiner Entscheidung, nach Moab auszuwandern, ein Stück Land in Bethlehem hatte. Somit ist Noomi nicht so arm, wie sie sich darstellt: sie besitzt Eigentum. Doch es gibt einen weiteren Haken: Als Witwe kann sie nichts erben, auch kein Land (die Schrift sagt dies nicht deutlich, doch so erscheint es aus dem Textzusammenhang). Auch wenn sie noch einmal heiratet, kann sie auf Grund ihres Alters keine Kinder mehr bekommen, weshalb der Familienname aussterben wird. Somit ist die einzige, die den Besitz und den Familiennamen retten kann, Ruth, jedoch nur, wenn ein Verwandter sie heiratet.

Noomi, die das ganze Ereignis plant, vertraut Boas vollkommen. Und er enttäuscht sie nicht. Er beruft einen Minjan (ein Gebetsquorum) ein, er spricht den Verwandten an, der gerade vorbeikommt und bietet ihm Noomis Feld zum Verkauf. Er präsentiert den Handel als etwas Vorteilhaftes, indem er erklärt, er hätte den Besitz selbst gekauft, hätte er nicht gewusst, dass der andere ein näherer Verwandter sei und deshalb Vorrechte besäße, das Feld zu kaufen. Der Name des Verwandten wird nicht erwähnt. Boas spricht ihn mit „Ploni Almoni“ an, was soviel wie „Herr Soundso“ heißt. „Ploni Almoni“ willigt ein, das Feld zu kaufen. Erst dann erhöht Boas den Einsatz: Er informiert den Verwandten, dass Ruth Teil des Handels sei und dass der Kauf nicht möglich sei, wenn sie nicht vom Käufer geheiratet werde. Er fügt an, dass er, Boas, bereit sei, sowohl das Feld wie das Mädchen zu kaufen. Der Verwandte vermutet nun, dass irgendetwas nicht ganz „koscher“ ist und erfindet eine lahme Ausrede, nach der er Ruth, die Moabiterin, nicht heiraten kann, (Kapitel 4): „sonst würde ich mein Erbgut schädigen“. (Das hebräische Wort für „schädigen“ leitet sich hier von „schichet“ ab.)

„Ploni Almonis“ Wortwahl weckt in ihrer hebräischen Version Erinnerungen an Onans Weigerung, mit Tamar, der Witwe seines Bruders, ein Kind zu zeugen. Stattdessen masturbierte er und ließ den Samen auf die Erde fließen (Genesis Kapitel 38): „…ließ er es zur Erde hin verderben“ (Das hebräische Wort für „verderben“ leitet sich hier ebenfalls von „schichet“ ab.) Tamar wurde schließlich doch noch schwanger, und zwar von ihrem Schwiegervater Jehuda (sie hatte sich als Prostituierte verkleidet). Sie gebar Peretz, der ein Vorfahre von Boas war.

Nach alledem war jeder glücklich und zufrieden. Das Stück Land blieb in der Familie. „Boas nahm Ruth, und sie ward ihm zum Weib; und er ging zu ihr ein, und der Ewige gab ihr Empfängnis, dass sie einen Sohn gebar.“ (Kapitel 4)

Man beachte, dass hier aus eigenem Willen eine Ehe vollzogen wurde, doch die Empfängnis geschah durch den Willen des Ewigen. Noomi hatte nun einen Enkel, der später König Davids Großvater wurde. Laut Matthäus und Lukas wurde 28 Generationen später im selben Bethlehem und in derselben Familie ein Jesus geboren. Es bleibt also alles in der Familie – und nach allem scheinen die Moabiter doch konvertierbar zu sein.