Von Miron Izakson, Ha’aretz, 25.05.2004
Übersetzung Daniela Marcus
Jedes der drei jüdischen Pilgerfeste hat seine eigene Schriftrolle oder sein eigenes Buch in der Bibel. An Schawu’ot wird das Buch Ruth in der Synagoge gelesen, an Pessach das Hohelied Salomos und an Sukkot der Prediger Salomos. Eine Verbindung zwischen dem Buch Ruth und dem Wochenfest ist offensichtlich: der größte Teil der Handlung dieses Buches spielt sich während der Gerstenernte ab, die der erforderliche Auftakt für das Fest der Erstlingsfrüchte –einer der anderen Namen für Schawu’ot- ist.
Das eigentliche Wesen von Schawu’ot ist jedoch in einem anderen seiner alternativen Namen ausgedrückt: der Tag der Torahgebung (damit ist der Tag gemeint, an dem Gott auf dem Berg Sinai dem jüdischen Volk die Torah übergab). Der Torahabschnitt aus dem Buch Exodus, der während des Schawu’ot-Festes in der Synagoge gelesen wird, beschreibt die Übertragung der Torah auf dem Berg Sinai. Wenn wir also die festliche Atmosphäre zu Beginn der Gerstenernte und die große Heiligkeit bei der Übertragung der Torah betrachten, muss uns der verdrossene Beginn des Buches Ruth als bizarr und aus der Reihe geraten erscheinen. Die ersten Verse des Buches zeigen eine Reihe von Katastrophen auf, die über Elimelechs Familie und eigentlich auch über das gesamte jüdische Volk in seiner Heimat gekommen sind.
Der erste Vers des Buches Ruth zeigt eine trostlose Realität: Hunger und die Auswanderung einer Familie aus dem Heiligen Land in ein fremdes, unfreundliches Land namens Moab. Anfangs wird das Oberhaupt der Familie, die aus dem Heiligen Land fortzieht, „isch“ genannt – ein Terminus, der normalerweise mit einem bedeutenden Individuum assoziiert wird. Und in der Tat betrachteten die klassischen rabbinischen Autoritäten Elimelech als eine bedeutende Person. Somit scheint es, dass Elimelechs Geschichte nicht nur die Geschichte der Tragödie einer einzigen Person ist, sondern viel mehr die Geschichte einer gesamten Generation während des Prozesses der Auflösung.
Der zweite Vers nennt uns die Namen der Protagonisten dieser persönlichen Tragödie, und die Katastrophe bekommt einen noch ernsteren Ausdruck: „Und der Name des Mannes war Elimelech, der Name seines Weibes Noomi und der Name seiner beiden Söhne Machlon und Kiljon.“ Söhne, deren Namen mit Krankheit (hebr. machalah) bzw. Vernichtung (hebr. k’lajah) assoziiert werden, sind sicher noch stärkere Vorboten dafür, dass das Familiendesaster vermutlich noch schlimmere Ausmaße annehmen wird. Im dritten Vers – „Dann starb Elimelech, der Mann Noomis, und sie blieb zurück mit ihren beiden Söhnen.“ – wird die Familie vom Tod selbst getroffen, und das Überleben von Noomi und ihren Söhnen scheint unsicher zu sein und jeder wesentlichen Grundlage beraubt, weil uns nicht gesagt wird, wo sie überleben werden oder wie.
In der Folge heiraten die beiden Söhne nicht-jüdische Frauen, der Aufenthalt im fremden Land dehnt sich auf 10 Jahre aus, die beiden Söhne sterben und nun „blieb das Weib zurück von ihren zwei Söhnen und ihrem Mann“ (Kap. 1, 5). Auch hier wird uns kein vollständiger Satz geliefert, der uns erklären kann, wie die Frau überlebt. Wir sind frei, die Lücken mit allen Ausdrücken des Versagens und des Unglücks, die wir kennen, zu füllen.
Dieser gesamte schwierige Prozess, der im Verlauf von nur wenigen Versen so knapp und schnörkellos beschrieben wird, wird mit den ersten Worten des Buches Ruth eröffnet, die da lauten: „Und es war zur Zeit, als die Richter richteten“. Die klassischen rabbinischen Autoritäten lasen diesen Satz wie folgt: „als die Richter gerichtet wurden“, womit sie diesen Prozess als Andeutung auf das trostlose Schicksal jeder Generation, die ihre eigenen Richter vor Gericht stellt, interpretierten.
Ich möchte eine weitere Möglichkeit der Interpretation dieses Satzes hinzufügen: Wir werden hier nicht nur darüber informiert, dass die Ereignisse des Buches Ruth zur Zeit der Richter stattfanden. Wir erfahren auch, dass der vorherrschende Geisteszustand dieser Generation ein legalistischer war, also stur an den Buchstaben des Gesetzes orientiert. Auf Grund dieser empfindlichen und anfälligen Beziehung zwischen den verschiedenen Regierungszweigen verstehen wir, wie wichtig jeder Zweig an sich und wie unerlässlich das Kräftegleichgewicht zwischen ihnen ist. Es wird uns deutlich bewusst, dass ein extrem schwacher Zweig dazu führt, dass ein anderer beinahe zwangsläufig dominant wird und dass solch eine Situation manchmal sogar die zerbrechliche Struktur eines Regimes gefährden kann.
Eine Zeitspanne, die vollkommen legalistisch ist, in der die einzigen Entscheidungen stur nach dem Buchstaben des Gesetzes getroffen werden, verheißt für das Leben einer Nation nichts Gutes. Die „außer-legalistischen“ Werte –einerseits von zusätzlichen Regierungszweigen (wie z. B. der Monarch, die Regierung, der Sanhedrin, die Legislative, der Hohe Priester, die Propheten usw.) und andererseits von menschlichem Verhalten (wie z. B. Barmherzigkeit und Mitleid, die über den Buchstaben des Gesetzes hinausgehen)- sind für die spirituelle und physische Existenz der Menschen lebensnotwendig. Somit begegnet uns am Anfang des Buches Ruth eine Reihe von individuellen und nationalen Katastrophen: eine stark eingeschränkte Führung, die Reduzierung der Regierung auf bloße legalistische Termini, Verbannung aus dem Heiligen Land, Krankheit, nicht-jüdische Frauen und Tod.
Im nächsten Abschnitt des Buches Ruth entscheidet sich Noomi, ins Land Israel zurückzukehren. Ihre beiden Schwiegertöchter Orpah und Ruth möchten sie auf dieser Reise begleiten und bestehen hartnäckig darauf, dass ihnen dies erlaubt wird. Noomi weist ihr Angebot zurück und drängt sie, sich um ihr eigenes Wohlergehen und um ihre eigene Zukunft zu kümmern.
Der Vers, der die nächsten Stufen der Handlung entscheidet, ist der folgende (Kap. 1, 14): „Da hoben sie ihre Stimme und weinten abermals. Dann küsste Orpah ihre Schwiegermutter. Ruth aber schloss sich an sie.“ Dieser Vers markiert den Wendepunkt im Buch Ruth. Zum ersten Mal kapitulieren die Charaktere nicht vor der Schwäche oder vor der Not. Stattdessen tritt nun eine von diesen so fern scheinenden Protagonisten selbstbewusst auf und „schwimmt gegen den Strom“, womit sie den Verlauf der Ereignisse für sich selbst und für andere ins Gegenteil kehrt.
Ruth äußert sich gegenüber Noomi in den folgenden Versen (Kap. 1, 16.17): „…denn wo du hingehst, will ich hingehen, dort wo du weilst, will ich verweilen, dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott; wo du stirbst, will ich sterben und dort begraben werden! So tue mir der Ewige an, so und noch mehr: Nur der Tod kann scheiden zwischen mir und dir!“ Damit drückt Ruth ihr Gefühl der Solidarität mit dem Schicksal und mit dem Glauben des jüdischen Volkes aus.
Von diesem Moment an haben wir eine neue Familienstruktur und ein neues Konzept, an dem beide Frauen gemeinsam teilhaben und das später mit der zentralen Figur Boas verknüpft wird. Schließlich bringt diese innovative Struktur König David auf die Welt, wie wir in den letzten Versen des Buches Ruth bei der Aufzählung der Generationen von Peres über Boas bis zu David informiert werden.
Plötzlich entdecken wir, dass die trübe Atmosphäre am Anfang nur eine der möglichen Optionen für die Entfaltung der Geschichte ist. Wenn die Protagonisten einer nach dem anderen vor der Flut der Zerstörung kapitulieren, kann dies nur zu einem Ergebnis führen. Wenn jedoch einer von ihnen beharrlich an einer entgegen gesetzten Denkart festhält, ist es möglich, dass ein anderes Ergebnis erreicht wird.
Überraschenderweise haben wir hier das Gegenteil des Musters vor uns, das das Hohelied Salomos aufweist. Dort ist die Atmosphäre von Beginn an erfüllt von Verlangen und Erregung. Schließlich erfahren wir jedoch, dass die vollkommene Verbindung des Freundes mit seiner Geliebten keine einfache Angelegenheit ist und dass sich die Erfüllung ihrer Beziehung nur deshalb pausenlos nähert, um wieder in die Ferne zu rücken. Im Hohelied Salomos werden wir ständig gewarnt, uns vor falschen Lösungen in Acht zu nehmen (Kap. 2, 7): „…dass ihr nicht weckt, nicht schreckt die Liebe bis sie erstarkt“.
Im Buch Ruth hingegen, das mit Versen beginnt, die Verzweiflung und Verfall vermitteln, gibt es einen kompletten Wechsel in Richtung der Gründung einer neuen Familie und in Richtung königlicher Hoffnungen.
Im Hinblick auf Schawu’ot scheint es, dass die Übertragung der Torah auf dem Berg Sinai bis zu einem gewissen Ausmaß ein Ereignis ist, das dem jüdischen Volk eine Wahl bietet (Exodus Kap. 19, 5): „Wenn ihr nun auf meine Stimme hören und meinen Bund wahren werdet, so sollt ihr mir eigen sein aus allen Völkern, denn mein ist alle Erde.“ Einzigartigkeit ist eine Möglichkeit, jedoch kein notwendiges Ergebnis. Einzigartigkeit ist nicht nur für den formalen Buchstaben des Gesetzes sachdienlich, sondern auch, und nicht weniger, für das barmherzige und mitleidende Verhalten, das über den Buchstaben des Gesetzes hinausgeht. Die Torahgebung auf dem Berg Sinai ist mit der Konvertierung zum Judentum verbunden (Jethro, Moses Schwiegervater, nach dem der Torahabschnitt im Buch Exodus, der die Torahgebung beschreibt, genannt ist, wird namentlich erwähnt). Das Buch Ruth handelt von einer anderen Konvertitin, der Moabiterin Ruth.
Es gibt immer Menschen wie Orpah (Noomis zweite Schwiegertochter), die ihre Versuche auf bloße förmliche Worte beschränken. Doch wir können immer darauf hoffen, dass es auch Menschen wie Ruth gibt, die es wagen, gegen den Strom des Bösen zu schwimmen.