Vier Mädchen in uns

Von Ruth Berger Goldston

Vier Mädchen wohnen in uns:

KLUGE MÄDCHEN

Manchmal sind wir kluge Mädchen: stark und sicher in dem, was wir wissen und wer wir sind; neugierig und begierig, mehr zu lernen. Wir sehen klar komplexe Zusammenhänge und sind fähig, kluge und angemessene Entscheidungen für uns selbst zu treffen und die Belange anderer in unsere Entscheidungen einzubeziehen. Und doch sind wir als kluge Mädchen in Gefahr, selbstzufrieden stehenzubleiben bei dem, was wir wissen, uns etwas auf unser „höheres“ Wissen einzubilden und uns dadurch bei uns hängenzubleiben. So kommen wir nicht weiter mit dem Lernen, vernachlässigen andere um uns herum und blockieren uns selber.

BÖSE MÄDCHEN

Manchmal sind wir böse Mädchen: zornig, rebellisch, kritisch und negativ. Wir stellen uns außerhalb von unserer Gemeinschaft und ahnen vielleicht mehr als wir wissen, daß es nicht an den anderen, sondern an uns selbst liegt, wenn wir draußen sind. Und doch liegt eine Chance darin: Als böse Mädchen sehen wir die Welt aus einer anderen Perspektive, daß „der Kaiser keine Kleider trägt“. Wir sprechen aus und kritisieren, was falsch läuft und ungerecht ist.

EINFÄLTIGE MÄDCHEN

Manchmal sind wir einfältige Mädchen: entspannt und verspielt genießen wir das Leben ohne zu fragen, zu analysieren oder tiefer zu gehen. Wir lieben andere mit einer Leidenschaft, die nicht in Worten ausgedrückt werden kann und werden geliebt ohne Logik oder Vernunft. Und doch sind wir als einfältige Mädchen in der Gefahr, die Vielfalt an Farben und die Struktur des komplexen Universums aus den Augen zu verlieren. So können uns Gelegenheiten durch die Lappen gehen, zum tikkun olam – der Heilung und Ganzwerdung der Welt – beizutragen.

MÄDCHEN, DIE NICHT ZU FRAGEN WISSEN

Zu anderen Zeiten sind wir Mädchen, die nicht zu fragen wissen. Wir verstehen nicht und finden keine gemeinsame Sprache mit denen, die um uns sind. Wir sind sprachlos wegen einer tiefen oder einer verwirrenden neuen Erfahrung. Oder Angst überfällt uns, weil wir etwas erlebt haben, was unsere Welt auf den Kopf stellt. Wenn wir ruhig bleiben können und unsere Angst aushalten und auch unsere Unfähigkeit, uns zur Sprache zu bringen, dann werden wir nach einer gewissen Zeit einen Reichtum an Ausdrucksmöglichkeiten entdecken, der uns vorher nicht zugänglich war. Wenn unsere Angst aber uns lähmt, dann verlieren wir das Vertrauen und ziehen uns aus der Welt zurück. Wenn es aber die Angst vor anderen ist, die uns zum Schweigen bringt, dann brauchen wir Befreiung aus dieser Sklaverei „durch einen starken und mächtigen Arm“

Jedes dieser Mädchen in uns braucht die anderen Mädchen. Das kluge Mädchen braucht die Energie des bösen Mädchens, die Verspieltheit des einfältigen Mädchens und den Sinn für das Wunder des Mädchens, das nicht zu fragen weiß. Das böse Mädchen braucht die Gelehrsamkeit des klugen Mädchens, die Fähigkeit zur Selbstannahme des einfältigen Mädchens und die Nachdenklichkeit des Mädchens, das nicht zu fragen weiß. Das einfältige Mädchen braucht die Sorgsamkeit des klugen Mädchens, die klare Sichtweise des bösen und die Verwirrung des Mädchens, das nicht zu fragen weiß. Und das sprachlose Mädchen braucht die Worte des klugen, den Schrei des bösen und das Lied des einfältigen Mädchens.

Zu unterschiedlichen Zeiten begegnen uns diese unterschiedlichen Mädchen in uns: Es gibt Zeiten, da sind wir interessiert und neugierig, zu anderen Zeiten sind wir frustriert und wütend, ruhig und zufrieden, traurig und voller Angst. Es ist einfach, das kluge Mädchen zu loben, das böse auszuschimpfen, mit dem einfältigen zu lachen und das sprachlose zu bergen. Es gehört schon mehr dazu, das kluge Mädchen herauszufordern, das schlechte zu lieben und ihr Wertschätzung zu geben, das einfältige Mädchen anzustacheln und dem sprachlosen Mädchen den Kampf mit seiner Verwirrung zuzugestehen.

Eine andere Stimme in uns – nämlich der Eltern-Anteil – muß darüber befinden, wie jedes dieser Kinder behandelt wird. Es geht darum, zu erkennen, wann welches Mädchen in uns Aufmerksamkeit braucht und wie jede mit ihren speziellen Gaben ermutigt wird und wie die zerstörerischen Tendenzen in positive Bahnen gelenkt werden können.

All das finden wir in uns: Manchmal in Einklang und zu anderen Zeiten in Mißklang. All das finden wir auch außerhalb von uns: In unseren Eltern, Geschwistern, Kindern, Freunden und Kollegen – den Menschen in der Welt, die ein vielfältiger Spiegel sind, durch den wir uns sehen. Pessach ist eine Zeit der Befreiung aus der Sklaverei. Mögen wir alle das Bewußtsein für unsere vier Mädchen bekommen, sie annehmen und wertschätzen so daß wir zu Freiheit und Ganzheit finden.

Übersetzung und Bearbeitung: Iris Noah

Im traditionellen Pessach-Seder ist von „vier Jungen“ die Rede. Mit den „vier Mädchen“ wird eine Analogie und eine neue Deutung versucht. Der Seder ist so strukturiert, daß jede/r, ob klug, böse, einfältig oder sprachlos in der je eigenen Situation angesprochen wird.