Vier Fragen

Im Dezember 1999 erschien die erste Ausgabe des europäisch-jüdischen Magazins GOLEM. GOLEM wurde von der Künstlervereinigung Meshulash herausgegeben. Meshulash fragte darin jüdischer Identität an der Schwelle des neuen Jahrtausends.

Teil I: Ronnie Golz

Meshulash hat mir schwierige und komplizierte Fragen gestellt und mich gebeten darauf einzugehen. Dieses ist der Versuch:

„Welche jüdische Symbole möchten Sie in das nächste Jahrtausend mitnehmen?“

Auf den Fensterbank meiner Berliner Wohnung steht in dem Zwischenraum zwischen den beiden Doppelfenstern eine Menora, die ich vor vielen Jahren von einer nicht jüdischen Freundin geschenkt bekam. Da ich im ersten Stock, den sogenannten ‚Belle Etage‘ wohne, ist die Menora deutlich von der Straße aus zu erkennen. Irgendwie ist diese Menora meine äußere Bekenntnis zu meinem Judentum, denn sie ist für mich das älteste und wichtigste Symbol des Volkes Israel, dem ich mich zugehörig fühle.

An der Schwelle zu meinem Zimmer ist rechterhand an dem Türpfosten eine Mesusa angebracht, den mir ein israelischer Freund am Ende seines Aufenthalts in Deutschland bei der Aufgabe seiner Wohnung schenkte. Ich war damals sehr glücklich über das Geschenk, denn sie erinnert mich immer wieder an den gemeinsamen Erlebnisse in Berlin. Für mich ist diese Mesusa meine innere Bekenntnis zu meinem Judentum.
Seit nun fast vier Jahren hängt ein Davidstern an einer Kette um meinen Hals. Er ist mein ‚Ehering‘ und wurde mir von meiner nicht – jüdischer Frau zu unserer Hochzeit umgehängt. Ich trage ihn als Zeichen meiner Liebe und Verbundenheit zu meiner Frau, aber ich habe Probleme ihn als Zeichen meines Judentums zu akzeptieren.

Als erstes stört mich, dass der Davidstern vor etwa dreihundert Jahren als jüdische ‚Antipode‘ zum christlichen Kreuz eingeführt wurde. Er fand schnelle Akzeptanz und Verbreitung in Europa und wurde später zum politischen Symbol der zionistischen Bewegung, womit wir bei meinem zweiten Problem mit diesem Zeichen angelangt sind. Weiterhin belastet mich seine Verwendung als ‚Gelber Stern‘ im Nationalsozialismus zur Stigmatisierung, Isolierung und Ermordung der Juden Europas. Die Tatsache, dass der Davidstern mit der Gründung des Staates Israel zum Hoheitszeichen dieses Staates wurde, macht mein Tragen dieses Symbols auch schwierig, denn für mich ist Israel zweifellos ein jüdisches aber nicht ein europäisches Land, ich aber bin ein jüdischer Europäer. Somit bin ich bei der nächsten Frage angelangt.

„Was könnte eine europäisch-jüdische Identität sein?“

Egal wie oder was eine europäisch-jüdische Identität sein oder werden soll, darf nach Auschwitz einer Tatsache nicht verkannt werden: als Jude in Deutschland zu leben, wird noch lange, lange Zeit ganz spezifische Probleme innerhalb einer europäischen Identität mit sich bringen. Ich, der hier lebe, muss mich nicht nur gegenüber Juden aus Israel und Nordamerika, sondern auch gegenüber andere europäischen Juden immer wieder rechtfertigen oder erklären. Und in Berlin, dem ehemaligen Zentrum des Massenmords zu leben, konfrontiert mich und den Besucher fast ständig mit dieser Vergangenheit. Positiv gewendet, kann und sollte das jüdische Leben in Deutschland nicht nur zur Behauptung jüdischen Daseins nach Auschwitz dienen, sondern anderen Juden in Europa und außerhalb aufzeigen, dass es trotz Auschwitz sich lohnt in diesem Land zu leben.

Unsere Lage als Juden in Europa hat gänzlich andere Ausgangsbedingungen und Realitäten als in Israel oder Nordamerika. Israel befindet sich in einer kulturellen Auseinandersetzung zwischen europäischen und orientalischen Identitäten, d.h. das Land bringt zwar wichtige Beiträge hervor, aber aus einer anderen Sicht der Welt als in Europa, zudem wird der Alltag durch den Kampf um Selbstbehauptung und Existenzrecht mitgeprägt.

Die große Mehrheit der Juden in Nordamerika, die weder Auschwitz erfahren haben noch den heutigen Existenzkampf Israels als Alltag erleben, haben eigentlich die besten Voraussetzungen ihre kulturelle, gesellschaftliche und religiöse Identität unbelastet von Vergangenheit oder Gegenwart zu entfalten. Aufgrund ihre kulturellen Wurzeln sind ihre Beiträge vielfach von einer europäischen Hintergrund geprägt, aus diesem Grund werden amerikanisch jüdische Ansätze in jüdisch-europäischen Kreisen mit großem Interesse und viel Neugier aufgenommen. Ein wichtiger Unterschied zeigt sich dennoch: das Fehlen der multikulturellen und multiethnischen Prägungen der heutigen europäischen Juden zwischen Moskau und Dublin, Oslo und Sevilla. Hinzu kommt eine viel größere Unterschied im Alltag für europäische Juden zwischen dem Ural und dem Atlantik im Vergleich zum jüdischem Leben zwischen Boston und Los Angeles.

Schauen wir auf unsere Lage in Deutschland. Es war das Herzland der ashkenasischen Diaspora. Die deutsche Sprache ist die Grundlage der jiddischen Sprache und der jiddischen Kultur in Osteuropa gewesen. Deutschland ist Heimat für Moses-Mendelsohn und der jüdischen Reformbewegung gewesen. Deutschland hat hervorragende jüdische Persönlichkeiten in Wissenschaft, Kultur und Politik hervorgebracht, die europäische Kulturgeschichte mitgeprägt haben. Die ‚jüdische‘ Neuzeit hat ihre Heimat in Europa. Ich meine, dass das europäische Judentum Entscheidendes zu einer kulturellen jüdischen Identität in der heutigen Welt beigetragen hat.

Wir brauchen uns, trotz Auschwitz, als deutsche und europäische Juden nicht hinter den Leistungen der Juden in Israel oder Nordamerika zu verstecken. Um eine starke eigenständige europäische Identität zu entwickeln ist es erforderlich dass wir den spezifisch jüdischen Beitrag zur europäischen Kultur seit der Entstehung der ersten jüdischen Gemeinde in Rom aufarbeiten und Kenntnisse darüber verbreiten. Eine jüdisch-europäische Identität kann aber nicht allein eine wissenschaftlich-theoretische sein. Wir müssen durch eigenständige europäische Beiträge unseren Platz neben den Juden in Israel und Nordamerika definieren und ausbauen. Hierzu gehört die Entfaltung einer spezifisch europäische Ausprägung bzw. Fortentwicklung des religiösen Lebens. Durch große transeuropäische Konferenzen, Treffen und Begegnungen in den Bereichen Kultur, Religion, Wissenschaft und Politik können wir neue Aspekte in die Diskussion über das Judentum im nächsten Jahrhundert einbringen. Die europäisch-jüdische Stimme sollte sich auch publizistisch niederschlagen in Form einer mehrsprachig europäisch-jüdischen Magazin. Schon jetzt werden Filme mit jüdischem Inhalt für Fernsehen und Kino überall in Europa produziert und tragen somit zur vielstimmigen Austausch unter den Juden innerhalb und außerhalb Europas bei.

Die Solidarität unter europäischen Juden aufgrund des überall noch vorhandenen Antisemitismus ist meiner Meinung nach mit konstitutiv für die Herausbildung einer europäisch-jüdischen Identität. Die Gratwanderung bei der Herausbildung einer europäisch-jüdischen Identität wird zwischen Assimilierung und religiöse Borniertheit, dass heißt Intoleranz verlaufen.

„Wer ist Jude?“

möchte Meshulash nun wissen.
Mein Vater hieß Goldlust und seine Familie stammte aus Galizien. Seine Großmutter hieß Bernstein und stammte zuletzt aus Beuthen in Oberschlesien. Meine Mutter hieß Reiss und ihre Familie stammte aus dem Bereich von Südmähren wo, sie Hunderter von Jahren lebten. Beide haben einen ellenlangen ‚reinrassigen‘ jüdischen Stammbaum. Es gibt keinen Zweifel ich bin ‚Volljude‘ im Sinne der Halacha und nach Auffassung von Adolf Hitler! Aber was nützt dieser Art der Definition, wenn ich in keiner Weise jüdisch leben, denken oder handeln würde? Wenn ich mich selber nicht als ‚Jude‘ empfinde? Wenn ich nichts an jüdischem Wissen oder Alltag an meine Kinder weitergebe? Es zeigt sich, dass zum ‚Jude‘ sein deutlich mehr gehört als eine jüdischer Mutter! Und nicht mal die brauche ich nach orthodoxer Auffassung, wenn ich die Konversion zum Judentum vollziehe. Überall in der jüdischen Welt außerhalb von Israel werden Kinder, die ’nur‘ einen jüdischem Vater haben in vielen jüdischen Gemeinden aufgenommen, vorausgesetzt sie nehmen als Kinder mehr oder weniger aktiv am religiösen und kulturellen Leben der Gemeinden teil und machen den Bat / Bar Mitzwa.

Das Grundproblem liegt in der Tatsache begründet, dass ein ‚Keiner-Ahnung-Nul-Bock-Jude‘ jederzeit mit dem Geburtschein seiner jüdischen Mutter sofort Aufnahme in allen jüdischen Gemeinden, gleichgültig welche religiöse Richtung, findet. Dieses ‚unbefriedigend‘ zu nennen ist noch britisches ‚Understatement‘!

Also, positiv herum: meiner Meinung nach, soll jeder ‚Jude‘ sein dürfen, der oder die sich mit dem Judentum religiös und/oder kulturell beschäftigt hat und sich diesen Inhalten ‚zugehörig‘ fühlt. Dieses ergäbe eine viel interessanteres Aufnahmegespräch als manche der Prozeduren, die heute verlangt werden. Ein solcher Herangehensweise bedeutet vermutlich das Ende der Einheitsgemeinde, was sowieso eine deutsche Besonderheit im europäischen Chor darstellt. Ich würde diese ‚würdige‘ Institution jederzeit Opfern, wenn ich dafür eine Gemeinde von hochengagierten Juden im Tausch bekäme! Ich will nicht verhehlen, dass es natürlich deutliche mentale Unterschiede in meiner ‚Traum-Gemeinde‘ geben würde. Menschen wie ich, der durch Auschwitz große Teile seine Familie verloren hat, oder Juden, die sehr religiös aufgewachsen sind, werden mental deutlich anders geprägt sein, als jemand der zum Judentum übertritt, aber diesen Unterschied gibt es schon heute, denn selbst die orthodoxen Strömungen nehmen Konvertierte auf.

Jude wird man auch durch den historischen und täglichen Antisemitismus. Jude als Schicksalsidentität spielt eine große Rolle nicht erst seit Auschwitz. Die Geschichte zeigt, dass jede bedrängte Gruppe mehr oder weniger zusammengeschweißt wird und der Druck von außen Gegendruck erzeugt nach der Art jetzt-erst-recht-Jude-sein.

Was könnte jüdische Kunst sein?

Alles was vom Inhalt sich mit dem Alltag von Juden in der Welt beschäftigt. Jüdische Künstler schaffen nicht jüdische Kunst durch ihre Abstammung. Es kommt auf die Inhalte an. Somit können Nicht-Juden selbstverständlich zur jüdischer Kunst beitragen – auch wenn dieses einige nicht passen sollte. Vielleicht möchten die Kritiker gerne, dass der Künstler zuerst konvertiert, bevor er jüdische Kunst schafft?

Ich möchte, dass jüdische Kunst mich bestärkt in meiner jüdischen Identität – auch durch kritisches Hinterfragen.
Ich möchte, dass jüdische Kunst mich über jüdisches Leben woanders in der Welt informiert.
Ich möchte, dass jüdische Kunst mich amüsiert und unterhält bei der Auseinandersetzung mit dem jüdischen Alltag.
Ich möchte, dass jüdische Kunst mit Interesse, Neugier und Freude von der nicht-jüdischen Umwelt auf- und angenommen wird.

Ich hoffe, dass dieser ‚jüdischer‘ Beitrag dem geneigten jüdischen und nicht-jüdischen Leser gefallen hat!

Teil II: Iris Weiss

Wer ist Jude?

„Wer jüdische Enkelkinder hat!“ so las ich neulich in einer Zeitung. Dies scheint auf den ersten Blick die Umkehrung der üblichen Definition nach der Halacha zu sein, die besagt, daß eine jüdische Mutter ausschlaggebend ist – oder die Konversion zum Judentum. Das amerikanische Reformjudentum hat in den 70iger Jahren die Definition erweitert: Auch wer einen jüdischen Vater hat und jüdisch sozialisiert wurde, gilt als Jude (patrilineal descent). Damit ist gemeint: Leben in einer jüdischen Gemeinde mit Besuch der Religionsschule sowie die life-cycle-rituals wie Beschneidung beim Jungen bzw. baby-naming beim Mädchen bzw. Bar und Bat Mizwa.
Egal, von welcher Seite her man sich dem biologischen Aspekt nähert, ob nun die jüdische Mutter oder auch der jüdische Vater – oder erst die jüdischen Enkel definieren sollen, wer Jude ist, ich finde, daß dies in der modernen Welt nur EIN Aspekt sein kann. In der heutigen Zeit ist diese Annäherung eher unbefriedigend. Sie reduziert komplexe gesellschaftliche und geschichtliche Realitäten auf eine biologische Gegebenheit und ist somit biologistisch. Ein oder zwei jüdische Elternteile sagen noch nichts darüber, ob ein Mensch sich als Jude identifiziert oder nicht.

Welches Recht habe ich, jemanden, der halachisch jüdisch ist, weil er die erforderliche jüdische Mutter oder Großmutter mütterlicherseits vorweisen kann, als Jude zu definieren, der das überhaupt nicht will und sich anders entschieden hat? Warum werden – andererseits – Menschen, die einen jüdischen Vater und eine jüdische Identität haben in den jüdischen Gemeinden Deutschlands massiv ausgegrenzt und diskriminiert?

Es gibt – meiner Ansicht nach – nur eine Definition, die wirklich „funktioniert“: Jude / Jüdin ist, wer Judentum ernst nimmt und darauf eine persönliche Antwort durch sein/ihr Leben gibt. Da „Judentum“ sehr monolithisch klingt (als ob es eine für alle verbindliche Form geben könnte), spreche ich lieber von „jüdisch sein“. Ernst nehmen heißt: sich mit der Tradition in ihren unterschiedlichen Ausprägungen (religiös, historisch, kulturell…)beschäftigen, ja mit ihr ringen, sich darüber streiten und darin leben, weil man seine eigenen Zugänge und Ausdrucksformen gefunden hat und immer wieder neu findet – sei es religiös oder säkular. Dies kann sich in unterschiedlichen Lebensbereichen niederschlagen:

– was bedeutet mir mein hebräischer Name? Wenn ich keinen bekommen habe, welchen möchte ich mir vielleicht aussuchen? Von wem möchte ich mit welchem Namen angesprochen werden?
– Lernen und Gebet (modern ausgedrückt: Spiritualität)
– Welche Symbole sind mir wichtig und wie beziehe ich mich auf sie?
n Welche jüdischen Feiertage halte ich – mit wem und wie gestalte ich sie? Welche Strukturen gebe ich mir im Alltag?
– Welchen Stellenwert hat Israel für mich?
(So habe ich für mich in den beiden letzten Jahren Tu Bi Schewat ganz neu entdeckt und andere zu einem Seder eingeladen. Durch diesen neuen Zugang hat sich auch meine Beziehung zu Israel verändert)
– Wie unterstütze ich die, die auf meine Solidarität ein Recht haben (zedaka)?
– Drückt sich mein jüdisch sein auch im Umgang mit Nahrungsmitteln und deren Produktionsbedingungen aus? Für welche Kaschrut-Standards entscheide ich mich? Ist ein koscherer Wein aus Israel, von dessen Produktion wirtschaftlich die Siedlerbewegung profitiert, die eine andere Menschengruppe systematisch diskriminiert, wirklich koscher – trotz oder wegen seines Kaschrut-Zertifikats?
– Wie und wo kann ich zur Bereicherung jüdischen Lebens beitragen und welchen spezifischen Beitrag kann ich zur Gestaltung einer lebenswerten Welt (tikkun olam) leisten?
– Wie gehe ich mit der im Judentum immanenten Spannung zwischen Partikularismus und Universalismus um?
Für mich ist jüdisch, wer einen jüdischen Elternteil hat oder konvertiert ist, sich selbst als Jude definiert und sich erkennbar auf wenigstens eine dieser Fragestellungen bezieht und sich in irgendeiner Form – nicht nur finanziell – in eine jüdische Gemeinschaft einbringt. Das kann eine jüdische Gruppe, eine offizielle jüdische Gemeinde etc. sein. Das würde für Konversionswillige auf die Frage rauslaufen: „Willst Du mit Juden – in welcher Form auch immer – zusammenleben?“

Was könnte jüdische Kunst sein?

„Das Judentum aber ist eine sehr persönliche Angelegenheit, eine ganz bestimmte Lebensform, in der Erlebtes, Geschehenes, Gedachtes und Gelesenes zu einem eigenständigen Ganzen werden, das von meiner Person nicht zu trennen ist“ schrieb die Malerin Charlotte Kohn-Ley. Jüdische Kunst könnte dann bedeuten, dieser ganz persönlichen Sichtweise Ausdruck zu geben und dadurch andere anzuregen, sich mit unterschiedlichen Anliegen und Fragen auseinanderzusetzen. Jüdische Kunst sollte Anregung geben, sich mit aktuellen innerjüdischen sowie mit gesamtgesellschaftlichen Fragestellungen zu befassen, z.B:

– Wie kann jüdische Tradition an die folgenden Generationen weitergegeben werden?
– welchen Beitrag kann das Judentum zum Miteinander verschiedener kultureller Gruppen leisten?
– Sind „Misch“-Ehen (unterschiedliche religiöse Zugehörigkeit der Partner) wirklich der Anfang des Niedergangs des Judentums, wie häufig polemisch behauptet wird oder könnten sie eine positive Herausforderung , vielleicht sogar eine Quelle von Inspiration sein, weil durch sie eine andere – eine neue Qualität von Fragen in die jüdische Gemeinschaft kommt?
– Wie können Randgruppen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft (jüdische Singles, Kinder jüdischer Väter, Schwule und Lesben, geistig Behinderte, Gefängnisinsassen) ihren Platz finden? Was wird abgespalten, wenn sie keinen Platz finden können?
– Welche jüdischen Werte können in welcher Form einen Beitrag zu einer gerechteren Welt leisten?
– Wie kann das Spannungsfeld Partikularismus – Universalismus fruchtbar gemacht werden für ein spezifisch europäisches Judentum?

Welche jüdischen Symbole möchten Sie in das nächste Jahrtausend mitnehmen?

Die unterschiedlichen Symbole bringen verschiedene Aspekte meines Jüdischseins zum Ausdruck:

1. Schabbatleuchter – Kidduschbecher und Challe-Teller:
Diese Gegenstände hat eine Künstlerin nach meinen Vorstellungen aus Ton angefertigt. Ich habe eine besondere Beziehung zu Ton, weil ich selber viel damit gearbeitet habe. Es ist meine spezifische Form. Ich habe mich bewußt gegen Silber entschieden, weil silberne Ritualien oft darauf hindeuten, daß sie von früheren Generationen vererbt worden sind. Vom jüdischen Teil meiner Familie gibt es keinen materieller Gegenstand, der die Familientradition manifestiert: weder Ritualien noch Fotos von VORHER. Mein Erbe ist ein geistiges und ein gelebtes und ich muß / darf meinen eigenen „materiellen“ Ausdruck finden – der sowohl den Abbruch als auch die Weiterführung darstellt.

2. „Stunden der Andacht“ von Fanny Neuda. Dieses Buch wurde generationenlang im deutschsprachigen Bereich ein Bestseller für Frauen, in dem Gebete für die unterschiedlichsten Lebenslagen enthalten sind. Eine Berliner Emigrantin, die – wie ich – ihre Wurzeln im deutschsprachigen Judentum hat, hat mir ihr Exemplar von 1902 gegeben, das mir sehr kostbar ist, weil es eine Brücke zum FRÜHER darstellt.

3. Chanukkia: In Israel habe ich eine Chanukkia gefunden, die eine israelische Künstlerin hergestellt hat, deren Eltern aus Wien geflohen waren. Sie symbolisiert somit eine Verbindung zu unterschiedlichen Aspekten meines Erbes

4. CD-Rom Tour durch die Bibel: Diese CD-Rom, von der ich die deutsche Übersetzung und Bearbeitung erstellt habe, steht für einen Teil meiner Auseinandersetzung und meines Zugangs zur jüdischen Tradition und für meine Begeisterung für neue Medien und ihre Möglichkeiten. Sie steht auch für positive Gespräche und Begegnungen mit einem orthodoxen Rabbiner aus Fürth, die ich als sehr positiv und bereichernd erlebt habe – aber ebenso für den Abbruch einer jahrelangen wichtigen Freundschaft und den damit verbundenen Schmerz – eben für das Unerwartete im Leben.

5. Mein Tallit in verschiedenen lila und violett-Tönen (Blaupurpur und Rotpurpur) steht für ein inklusives Judentum, das Männer und Frauen gleiche Teilhabe ermöglicht.

Was könnte eine jüdisch-europäische Identität sein?

Mein erster Impuls war, beschreiben zu wollen, was europäisch-jüdische Identität von der israelischen oder amerikanischen unterscheidet – also eine abgrenzende Definition. Eine jüdisch-europäische Identität konstituiert sich aus den spezifischen Eigenheiten der europäisch jüdischen Geschichte, kulturellen Traditionen, Gedenkräumen, Arten des Aneignens…
Juden haben aufgrund ihrer historischen Erfahrungen auf diesem Kontinent gelernt, unterschiedliche Zugehörigkeiten nicht als Hindernis, sondern als Bereicherung zu sehen und zu leben. Damit könnten sie als Gruppe eine Art Modellfunktion für eine gelebte Vielfalt haben. Sie könnten ein Zeichen der Ermutigung sein in einer Phase, in der immer kleinere nationale Gebilde sich abgrenzen. So könnten sie ein Modell für gelebte Verschiedenheit sein, eine Art Baustelle und daraus Anregungen und spezifische Beiträge für gegenwärtige Konfliktlagen entwickeln und sich auch innerjüdisch als eigene Melodie hörbar machen im Dreiklang Europa – Israel – Amerika.