Von Rabbiner S.Ph. De Vries
Kummer ist häufig der Grund, warum jemand fastet. Ein Schmerz wird so tief empfunden, dass er denjenigen, den er heimsucht, völlig lähmt, innerlich verzehrt und doch vollkommen ausfüllt. Seine Energie, sein Lebenswille sind gebrochen. Er denkt an nichts anderes als an sein Leid und dessen Ursache. Dieser Gedanke nimmt seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch und stumpft alle Gefühle für körperliche Bedürfnisse ab.
»Mein Herz ist geschlagen, … dass ich sogar vergesse, mein Brot zu essen« sagt der Dichter in Psalm 102,5 über diesen Zustand tiefster Betrübnis. Man verschmäht es, etwas zu essen. Fast empfindet man es als Störung des heiliggehaltenen, intensiven Gefühls, das keinerlei Ablenkung duldet. Alles, was darüber hinausgeht, betrachtet man als überflüssig; man verachtet es, hält es für Unsinn.
Selbst wenn Essen und Trinken nicht völlig eingestellt werden, erfolgen diese Handlungen doch halb mechanisch. Der Leidende selbst rührt keinen Finger dazu. Speise und Trank müssen ihm angeboten werden, und er muss ermutigt und dazu überredet werden, überhaupt etwas anzunehmen. So machte es das Volk mit David, als Abners Tod ihn so schwer betrübte (2.Sam. 3,35).
Aber es ist nicht die Lustlosigkeit des Schwermütigen, dessen Seele so krank ist, dass auch Trost und gutes Zureden nicht mehr helfen. Er weigert sich, Nahrung zu akzeptieren, und wehrt sich gegen jeden Versuch, mit dem man ihn dazu überreden will.
Im ersten Fall ist die Apathie glücklicherweise nur vorübergehend. Früher oder später fordert die Natur ihr Recht. Der so schmerzlich Getroffene meint zunächst, die Welt stehe mit seinem Unglück still, und er kann sich nicht vorstellen, dass die Sonne auch weiterhin scheint und dass der Wind nicht zu wehen aufhört. Und dass sich die Menschen weitertreiben lassen. Aber die Welt dreht sich weiter, und sie reißt ihn mit ihrer Bewegung mit. Bald sieht er ein, dass er mitgehen muss. Und so passt er sich erst instinktiv und dann bewusst ihr wieder an, um sein Gleichgewicht zu bewahren.
Dann hat das Fasten ein Ende.
Das Fasten kann auch Ausdruck von Angst, seelischer Beklemmung oder auch Furcht vor einer tatsächlich drohenden Gefahr sein. Physische Gefahr oder geistige Not. Oder beides gleichzeitig. Man leidet, man klagt. Und man wendet sich an den himmlischen Vater und betet. Mit und durch das Fasten fleht man um Gottes Beistand, dass Er das Unheil abwendet. Fastentag und Betstunde gehören zusammen.
»Blast die Posaune zu Zion, sagt ein heiliges Fasten an …« (Joel 2, 15). Oder: »… und ließen ein Fasten ausrufen und zogen alle, groß und klein, den Sack zur Buße an« (Jona 3, 5).
Nur zwei Zitate aus den zahlreichen, die in der Bibel vom Fasten sprechen. So verfuhren die Vorfahren. Und so handelt auch der Mensch von heute. Formell oder auch anders.
Die Bibel erwähnt nicht nur den großen Versöhnungstag als Büß- und Fastentag. Die hebräische Fassung des Pentateuch spricht im Abschnitt zum Jom Kipur mehr von Kasteien als vom Fasten (3.Mose 16,29 und 23,27, sowie andere Stellen). Trotzdem war das Fasten gemeint, das schon zu biblischen Zeiten gebräuchlich war. Das geht klar aus Jesaja (Kapitel 58) hervor, wo das rein formalistische, inhaltsleere Fasten scharf angegriffen wird.
Quelle: Jüdische Riten und Symbole, von S. Ph. De Vries, Marixverlag, Neuauflage 2005, Neu übersetzt und bearbeitet von Miriam Magall
Dieses Buch gilt sowohl für Juden als auch für Nichtjuden noch immer als das Standardwerk über die jüdische Religion, über die Bräuche und Vorschriften innerhalb des jüdischen Alltags.
Aus den Wurzeln der Tradition erklärt Rabbi S. Philip de Vries, der 1944 im Konzentrationslager Bergen-Belsen ermordet wurde, Riten, Symbole, Feiertags- und Alltagsbräuche, Übungen und Gebete, um das Judentum, seine historischen und moralischen Hintergründe sowie seine Glaubensformen Juden und Nichtjuden verständlich zu machen.