Eine Reflektion zur Parascha Tasria von Phyllis O. Berman
Diese Woche lesen wir den Abschnitt Tasria und gleich zu Beginn der Parascha werden wir mit einem der schwierigsten Konzepte der Tora konfrontiert.
Viele Jahre fühlte ich mich beim Lesen des Abschnittes unangenehm berührt und angegriffen, besonders wenn der Abschnitt auf die Worte tameh und tahor zu sprechen kam. In zu vielen englischen Texten wurden die Worte tameh und tahor als unrein und rein im Sinne von unsauber und sauber übersetzt, und damit die Bedeutung in Richtung „das eine ist gut und das andere schlecht“ geführt (auch im Deutschen werden die Worte rein-unrein meist in diesem Sinne verstanden, Anm. d. Ü.).
Ich rang lange Zeit mit diesem Konzept, bis ich vor einigen Jahren mit der Parascha „ins Reine“ kam: ich begann tameh – tahor in einem gänzlich anderen Sinn zu verstehen.
Die ersten acht Verse behandeln den Umstand, was mit einer Frau geschieht, die ein männliches oder weibliches Kind geboren hat – wieviel Zeit sie jeweils in beiden Fällen außerhalb der Gemeinschaft im tameh-Zustand verbringen muss, bevor sie tahor zurückkehrt.
Als Frau und als Mutter erinnere ich mich sehr genau daran, dass es in der Tat eine Zeit nach der Geburt gab, in der mein Bedürfnis nach Trennung von der Gemeinschaft sehr groß war und ich mein Recht auf Alleinsein einforderte.
Die Gemeinde reduzierte sich in dieser Zeit einfach auf das Baby, das in meinen Armen und an meiner Brust lag. Es gibt in dieser Phase einfach nichts anderes auf der Welt als dich und das Baby.
Ich begann, über andere Momente in unserem Leben nachzudenken, in denen wir unsere Aufmerksamkeit auf einen kleinen Ausschnitt richten: beispielsweise wenn wir frisch verliebt sind, wenn wir uns in einem intensiven kreativen Prozess befinden, wenn wir die g’ttliche Präsenz, den ru‘ach ha’kodesh, spüren.
Für mich stellte sich heraus, dass es tatsächlich zwei verschiedene Arten von Heiligkeit gibt – einerseits die Heiligkeit einer vollkommenen Konzentration und der damit verbundenen Einengung des Fokus, welcher einen weiten Blick in die Welt in diesen Momenten vernachlässigt . Andererseits jene Heiligkeit, die sich zeigt, wenn wir uns ganz im Gleichgewicht befinden, so dass unser Blick weit in die Welt reicht.
Für mich erklären sich so die Worte tameh und tahor – tahor scheinen jene heiligen Zeiten in unserem Leben zu sein, wenn wir „weitsichtig“ sind, wenn wir das ganze Bild erfassen können, und tameh ist jene heilige Zeit, wenn der Fokus verengt ist, und wir nur die uns unmittelbar umgebenden Dinge wahrnehmen und würdigen können.
Dennoch war ich beunruhigt: warum muss sich eine Frau nach der Geburt eines Mädchens 66 Tage und zwei Wochen, 80 Tage, und nach der Geburt eines Jungen 33 Tage und eine Woche, also 40 Tage, von der Gemeinschaft trennen?
Warum dieses zweierlei Maß?
Aus meiner Erfahrung heraus gelangte ich zu der Überzeugung, dass wir 80 Tage ohne weitere Verpflichtungen, Verantwortungen und ohne Alltagsstress benötigen, um die Beziehung zu unserem neugeborenen Kind aufzubauen.
Ich fragte mich jedoch, was in jener männlich dominierten Gesellschaft wohl vor sich ging, wenn ein männliches Kind geboren wurde: ob nicht vielleicht die Frauen schneller in die Gemeinschaft zurückgeholt wurden, als es eigentlich ihrem natürlichen Rhythmus gemäss gewesen wäre.
Aus meinem neu gewonnenen Verständnis für die Begriffe tameh und tahor stellte sich mir die Frage plötzlich andersherum: nicht „warum ist die Absonderung mit einem neugeborenen Mädchen so lang“, sondern „warum ist die Absonderung mit einem neugeborenen Jungen so kurz“?
Nicht: sind achtzig Tage der Trennung eine Strafe für die Geburt eines Mädchens, sondern: sind vierzig Tage der Trennung eine Kürzung dieser natürlichen Ruhephase von achtzig Tagen.
Halten wir fest, dass, wenn wir die Frage in dieser Art und Weise stellen, wir sie im Kontext der Erfahrung sehen müssen, in der Erfahrung des Gebärens.
Unsere Frage ist, wie wir heute aus dieser Perspektive heraus die heiligen Zeiten, jene, die tahor sind, und jene die tameh sind, neu bewerten und feiern möchten.
Phyllis O. Berman leitete acht Jahre lang als Direktorin das Summer Program bei Elat Chajim und ist Mitautorin des Buches „Tales of Tikkun“. Sie gründete und leitet das Riversdale Language Program in NYC, eine Schule für erwachsene Immigranten und Flüchtlinge.
Übersetzung aus dem Englischen: Susanna Ruerup