Von J. Immanuel Schochet
Antike Philosophen stellen fest, dass die Welt, in der wir leben, und die Erfahrungen, welche wir machen, zwei Dimensionen haben: Die äußere Erscheinung und die innere Wirklichkeit. Die „Welt der Erscheinungen“ ist oftmals eine Illusion. Dinge sind nicht unbedingt das, was sie zu sein scheinen. Zudem kommt es gar nicht selten vor, dass wir uns selbst täuschen indem wir das wahrnehmen, was wir gerne sehen möchten, ob es da ist oder nicht. Wir müssen daher eine Anstrengung unternehmen, unter die äußere Hülle durchzudringen und die Wirklichkeit zu entdecken.
Diese Tatsache im Leben hat ernste und praktische Konsequenzen. Illusionen nähren Wunschdenken. Letztlich wird der Ballon jedoch platzen und in Desillusionierung münden. Enttäuschung, Frust und Unzufriedenheit werden der Entdeckung unserer Fehleinschätzung folgen. Viel Schmerz und Unglück hätten mit einer realistischen Perspektive vermieden werden können.
Die Kabbala unterstreicht die allumfassende Aussage unserer Gelehrten, die jenes Prinzip ausdrückt: „Schau nicht auf den Krug, sondern darauf, was in ihm ist“. Äußere Erscheinung mag attraktiv sein, jedoch irreführend, indem sie den eigentlichen Inhalt verdeckt. Auch umgekehrt mag ein unattraktives Äußeres etwas Wertvolles verdecken. Der springende Punkt bei der Kabbala ist, dass sie nicht einfach nur ein abstraktes oder philosophisches Unterfangen ist. Richtig angewandt, gibt die Kabbala Führung und Anleitung, wie man am besten mit den Realitäten des Lebens zurechtkommt.
Vor 200 Jahren hat ein großer Gelehrter und Mystiker ein bemerkenswertes Buch veröffentlicht, von dem man behaupten kann, dass es tatsächlich Kabbala auf die Erde bringt. Es wurde ein grundlegender Text, eines der am häufigsten wieder gedruckten Werke, mit buchstäblich tausenden Auflagen rund um die ganze Welt. Der Autor, Rabbi Schneor Salman von Liadi, Gründer des Chabad-Chassidismus, nannte es bescheiden „Likkutej Amarim“ („Gesammelte Aufsätze“), bekannter ist es jedoch mit seinem Eröffnungswort unter dem Titel „Tanja“.
Die Bedeutung dieses relativ kleinen Werks kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Es ist weltweit anerkannt als ein originaler Beitrag zu existenzieller Theologie, Religionspsychologie und Ethik. Seine tiefgehenden Gedanken haben zahlreiche Kommentare, Studien und Diskussionen hervorgebracht. Der „Tanja“ ist ein kurzer Text. Allerdings sind seine kompakten Kapitel überwältigend in ihrer umfassenden Menge von Themen, die jeden für unsere Existenz relevanten Aspekt berühren. Jedoch sein grundlegender Zweck ist, uns auf die Dichotomie zwischen Erscheinung und Wirklichkeit aufmerksam zu machen – die Erscheinung und Wirklichkeit von uns selbst (was unser wahres Selbst darstellt versus unser irreführendes Äußeres), die Erscheinung und Wirklichkeit unserer Mitmenschen, und die Erscheinung und Wirklichkeit der Welt in der wir leben und mit der wir zu tun haben.
Erkenntnis und Bewusstsein dieser „Welt der Realität“ erhöhen das Selbstwertgefühl (zu unterscheiden von Arroganz), bringen Sinn und Ziel in unser Leben, und befähigen uns, unsere individuellen Funktionen umzusetzen, sie erfüllen uns solcherart mit Mut und Motivation zur Selbstverwirklichung. Sie lassen uns die inneren Werte Anderer als nicht geringer anerkennen als unsere eigenen, denn in der Essenz sind wir alle gleich. Sie bringen Wertschätzung und Respekt für jede Sache in der Göttlichen Schöpfung, einschließlich die materielle Welt um uns, und ver-pflichten uns somit zu einer positiven Beziehung zu ihr, damit ihr Zweck auch umgesetzt werden kann.
Wir sind tatsächlich aktive Partner mit G-tt selbst in Seinem Schöpfungswerk. Wir formen unser Schicksal. Es liegt in unseren Händen, die Welt zu ihrer utopischen Erfüllung, die mit der messianischen Erlösung eintreten wird, zu führen. Wir haben die Macht, dies jederzeit umzusetzen: „Heute – wenn du auf Seine Stimme hörst“. Heute – wenn wir auf die Botschaft des Tanja hören, die Welt der Äußerlichkeiten zu transzendieren und zur Welt der Wirklichkeit zu vorzudringen, zum inneren Kern, der allem in uns und um uns zu Grunde liegt.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des omek Magazins Chabad/Zürich.
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