Talmudische Diskussionen zwischen den Positionen einzelner Rabbiner und verschiedener Schulen wurden nach der Zerstörung des Tempels schriftlich festgehalten, um den unterschiedlichen Gemeinden des Exils eine gemeinsame Fassung auch jener Teile der Lehre, die bisher nur mündlich überliefert worden waren, zur Verfügung zu stellen.
In solchen Auseinandersetzungen wurden oft ganz bewusst abstruse Thesen (etwa: „Nichtjuden dürfen benachteiligt werden“) in die Diskussion geworfen, nur um sie im nächsten Satz widerlegen zu können.
Antisemiten verwenden bevorzugt solche Thesen, verschweigen jedoch die folgenden Antithesen, sodass ein verfälschter Gesamteindruck entsteht. Die Leitlinien des Talmuds und damit der gesamten jüdischen Religion sollen also absichtlich falsch verstanden werden.
Um eine angeblich feindliche Position des Judentums in Bezug auf die Angehörigen anderer Völker zu belegen, wird zum Beispiel gerne ein Zitat aus Jewamoth (oder auch Yebamot) 61a herangezogen, wonach Nichtjuden von Juden angeblich gar nicht als Menschen gesehen werden. Dabei bezieht sich die talmudische Diskussion in Jewamoth 61a gar nicht auf eine Bewertung oder Statusbestimmung von Juden oder Nichtjuden, sondern versucht – unter Bezugnahme auf einen Vers des Propheten Jecheskel (Ezech.34.31), eine Erleichterung im Alltag der Priesterschaft zu rechtfertigen.
Dieser Vers (Ezech.34.31) wird von Zunz folgendermaßen übersetzt: „Und ihr seid meine Schafe, die Schafe meiner Weide (unter) den Menschen seid ihr; ich bin euer Gott; das ist der Spruch des Herrn“.
Man könnte auch übersetzen: „Und ihr seid meine Herde, die Herde meiner Weide, ihr seid Menschen, ich bin euer Gott, so die Rede des Herrn G’tt“.
Rabbi Schim’on Ben-Jochaj übersetzt: „Ihr aber seid meine Schafe, die Schafe meiner Weide, ihr werdet Mensch (hebr. Adam) genannt, während jene, die G’tt nicht anerkennen, den Namen Adam nicht verdient haben“.
Wenn diese (die Götzendiener der damaligen Zeit) den Namen Mensch nicht verdient haben, dann kann man sich an ihren Gräbern auch nicht verunreinigen, da nur der Kontakt mit der Leiche oder dem Grab eines Adam, eines im Ebenbild G’ttes erschaffenen Wesens, zum Zustand ritueller Unreinheit führt.
Ben-Jochaj versucht also aus Ez. 34.31 abzuleiten, dass ein Priester (Kohen) nur dann unrein wird, wenn er in Kontakt mit israelitischen Gräbern kommt. Ein Kontakt mit Gräbern so genannter Sternenanbeter (gemeint sind die Götzendiener der damaligen Zeit, die nicht an den einen einzigen G’tt glaubten) führt, so meint zumindest Ben-Jochaj, nicht zur Unreinheit.
Ben-Jochaj sagt: Die Gräber der Sternenanbeter verunreinigen nicht durch Bezeltung. Mit Bezeltung meint er, wenn man sich darüber beugt, wobei er sich auf baMidbar / Num.19.14 bezieht: „Wenn jemand in einem Zelt stirbt, so ist folgendes verordnet: Wer in das Zelt hineingeht und alles, was im Zelte ist, soll sieben Tage unrein sein“).
R. Schim’on b. Jochaj versucht ferner zu differenzieren zwischen den unterschiedlichen Bezeichnungen für die Menschheit: Adam, Enosch, Gewer, Isch. Seiner Meinung nach kann nur ein dem einen einzigen G’tt anhängender Mensch als Ebenbild G’ttes angesehen werden, gemäß der Schöpfungsgeschichte des Menschen – Adam.
Für seine Auslegung erntet Ben-Jochaj zahlreichen Widerspruch und zahlreiche Stellen der Heiligen Schrift werden gegen ihn ins Feld geführt, die alle Menschen, unabhängig von ihrer religiösen Ausrichtung gleichermaßen als ADM (ADaM, Mensch) bezeichnen (z.B. Jona 4.11).
Berührt wird im Rahmen dieses Disputs auch die Frage, ob nicht haAdam, also der Mensch an sich, aufgerufen ist, sich zum Menschen – und damit zum Ebenbild G’ttes – erst einmal auszubilden.
Hierzu ist der Mensch durch sein Bewusstsein als von G’tt geschaffenes und G’tt nachstrebendes Wesen befähigt. Nur so gelingt es ihm seiner eigentlichen menschlichen Bestimmung gerecht zu werden. Er kann dies nur in Partnerschaft mit G’tt erreichen und muss aufrecht vor G’tt und seinen Nächsten stehen. Die Ehrenbezeichnung „Mensch“ widerspricht also einer Unterwerfung im Dienst an leblosen Götzen, Sternbildern oder Naturerscheinungen.
In diesem Zusammenhang taucht auch die Unterscheidung der Bezeichnungen ADM (Adam, als Einzelwesen, von der Erde kommend (ADaMaH) und HaADaM (der Mensch, als Begriff für den Menschen an sich, als G’ttes Ebenbild HaDoMeH).
Festzuhalten bleibt, dass die Behauptung, nur Juden würden als Menschen bezeichnet, während Nichtjuden ein geringerer Wert zugeteilt wird, falsch ist. Entweder wird ganz bewusst gefälscht und absichtlich falsch verstanden oder es wird in Ermangelung der, zugegebenermaßen nicht immer einfachen Gedankengänge im talmudischen Schriftwerk, falsch eingeordnet.
Grundsätzlich ist jeder Mensch Ebenbild G’ttes, wie dies gleich zu Beginn der Torah geschildert wird – und in unzähligen Abhandlungen und Lehrstücken immer wieder betont wird.
Im vorliegenden Fall versucht der Rabbiner Schim’on Ben Jochaj trotzdem eine Lösung für ein zu seiner Zeit dringend auftauchendes Problem zu konstruieren. Es ging um eine Erleichterung im Reiseverkehr. Diese war historisch dringend notwendig geworden, da (nach der Zerstörung des Tempels durch die Römer im Jahre 70 allg. Z.) durch Vertreibung und Exil ein Reisen auch in Ländern notwendig wurde, von deren Geschichte und Geographie nur geringe Kenntnisse vorlagen.
Wie schon gezeigt, bezieht sich die Diskussion in Jewamoth 61a auf die Tatsache, dass sich Kohanim (Priester) beim Passieren von Grabesstätten oder von Orten an denen Erschlagene lagen, rituell verunreinigen. Eine solche Verunreinigung muss vermieden werden; erfolgte sie trotzdem, sind langwierige Reinigungsrituale vorgeschrieben.
Im Lande Israel wo man derartige Orte mit Markierungen kennzeichnen konnte, war dies durchaus praktizierbar. In Ländern in denen entsprechende Markierungen oder Kenntnisse nicht gegeben waren, wäre es fast unmöglich gewesen, sich zu bewegen, da ja theoretisch an jedem Ort einmal ein Mensch zu Tode gekommen und begraben sein könnte.
Wenn wir die in der vorliegenden Diskussion eingebrachte Meinung bzw. Argumentation (die Bezug nimmt auf eine Aussage von Rabbi Sh. b. Johaj) nun ausweiten auf die Grabstätten oder Orte historischer Schlachten, auf Lokalitäten also an denen davon auszugehen ist, dass hier, G’tt behüte, Erschlagene liegen, so folgt, dass auch ein Kohen diese Orte passieren kann.
Eine Reise im Exil wäre ohne diese Erleichterung praktisch unmöglich gewesen, nicht nur für die Kohanim, sondern für das gesamte Volk, da die Kohanim ja nicht gesondert, sondern als Teil der Gemeinschaft in’s Exil und im Exil zogen.
Zu beachten ist, dass die zitierte Stelle keinerlei Bedeutung in Bezug auf das praktische Verhalten von Juden gegenüber Nichtjuden hat, sie konstruiert lediglich eine praktikable Möglichkeit im damals zwingend notwendigen „Reiseverkehr“.
Zahlreiche Vorschriften, in denen das Verhalten von Juden gegenüber Nichtjuden festgelegt werden, finden sich in anderen Zusammenhängen. Dort heißt es dann: „Begrabe die Toten der Völker mit den Toten Israels, tröste die Hinterbliebenen wie die Hinterbliebenen Israels, sorge für die Waise des Nichtjuden wie für die Waise Israels“.
Das Portal der Prager Jerusalem-Synagoga ziert der Prophetenspruch: „Haben wir nicht alle einen Vater? Hat uns nicht alle ein G’tt erschaffen?“