Talmud und Internet

Von Jonathan Rosen
(Talmud und Internet – Eine Geschichte von zwei Welten)

„Wende es immer von neuem, denn alles ist darin enthalten“, so lautet ein berühmter Ausspruch im Talmud, der einem Rabbi mit dem unglaublichen Namen Ben Bag Bag zugeschrieben wird. (Anm.: Pirkej Awoth, 5.25)

Diese Worte haben einen mythischen Widerhall. Wie der griechische Ouroboros – die Schlange, die ihren eigenen Schwanz verschlingt, taucht Ben Bag Bags Ausspruch im Talmud auf und verweist auf den Talmud – eine Sentenz, die sich selbst in den Schwanz zu beißen, sich in einem Zirkelschluss selbst zu bestätigen scheint. Der Talmud ist ein Buch, aber auch wieder nicht, und der Ausspruch von Ben Bag Bag kam in ihn hinein, weil der Talmud, zugleich mündliche und schriftliche Überlieferung, sich immer stärker ausweitete und – auch wenn er sich zum unwandelbaren Wort Gottes erklärte – die Welt um ihn herum in sich hineinzog.

Auch wenn es blasphemisch klingen mag, kann ich mich doch nicht des Eindrucks erwehren, dass das Internet und der Talmud in gewisser Hinsicht vieles gemeinsam haben. Die Rabbinen bezeichneten den Talmud als Jam, als Meer – und obgleich man kaum im Talmud wird »surfen« wollen, sind die beiden Wortwelten doch durch mehr als bloß ozeanische Metaphern miteinander verbunden. Unter anderem werden beide bestimmt durch ihre unermessliche Weite und durch den Umstand, dass sich beide allen Kategorisierungsversuchen entziehen.

Als der große mittelalterliche Philosoph und Kodifikator Maimonides die besondere talmudische Mischung von Geschichten, volkstümlicher Überlieferung, rechtlichen Erörterungen, anthropologischen Bemerkungen, Bibelauslegung und generationenübergreifenden Disputen der Rabbinen systematisieren und aus ihr einige Grundgedanken und verbindliche rechtliche Entscheidungen herauslesen wollte, wurde er als Ketzer angeprangert, weil er gerade jenem Chaos ein Ende zu bereiten suchte, das in gewissem Sinne zum Ausdruck göttlicher Schöpferkraft geworden war. Zu guter Letzt verzieh man ihm, und sein Werk Mischneh Torah ist nun eine der vielen Quellen, auf die auf einer gedruckten Talmudseite verwiesen wird: Es wurde also von genau dem absorbiert, was es eigentlich zu ersetzen trachtete.

Die Mischna selbst, der religionsgesetzliche Kern des Talmud, gliedert sich in sechs umfangreiche Ordnungen, die sechs weite Bereiche jüdischen Lebens widerspiegeln; die Ordnungen wiederum sind in eine Vielzahl von Traktaten unterteilt, die eine weit größere Zahl an Themen aufgreifen und die man oft unmöglich von den Namen der Ordnungen ableiten kann, denen sie zugehören. Die hebräische Bezeichnung für einen Talmudtraktat ist Masecheth, »Gewebe«. Wie im Falle des World Wide Web vermag auch hier nur die uralte und umfassende Metapher des Webens die Vielfältigkeit und Willkürlichkeit des Vernetzten, das unendliche Miteinanderverbundensein der Worte zu erfassen.

Beim Betrachten einer Talmudseite habe ich oft gedacht, dass sie in gewisser Hinsicht eine verblüffende Ähnlichkeit mit einer Internet-Homepage aufweist, wo nichts ein in sich geschlossenes Ganzes bildet, sondern wo Icons und Textkästchen Eingänge darstellen, durch die die Besucher zu einer unendlichen Zahl von aufeinander Bezug nehmenden Texten und Gesprächen gelangen. Betrachtet man eine Talmudseite, steht in der Mitte der Mischnah-Text, also die Diskussion, die die Rabbinen (über Hunderte von Jahren hinweg, bevor sie dann ab etwa 200 allg. Z. niedergeschrieben wurde) über ein breites Spektrum rechtlicher Fragen, die sich aus der Bibel ergaben, aber zugleich auch über eine Vielzahl anderer Themen führten. Darunter steht die Gemarah, die Diskussion späterer Rabbinen über die Diskussion der früheren Rabbinen in der Mischnah. Mischnah und Gemarah entfalteten sich mündlich über so viele Jahrhunderte hinweg, dass schon in wenigen Textzeilen Rabbinen, die Generationen voneinander getrennt waren, gemeinsam präsent sind. So lassen diese einzelnen Passagen ebenso wie ihr Miteinander auf einer Talmudseite den Eindruck entstehen, all diese Rabbinen stünden unmittelbar im Gespräch miteinander. Der Text umfasst nicht nur rechtliche Erörterungen, sondern auch phantastische Geschichten, Bruchstücke historischer wie anthropologischer Reflexionen und Bibelauslegungen. Auf einem schmalen Streifen innen auf der Seite befindet sich der Kommentar des mittelalterlichen Exegeten Raschi zur Mischnah, zur Gemarah und zu den Bibelstellen, die das ursprüngliche Gespräch inspiriert haben und auf die auch anderswo auf der Seite referiert wird. Auf dem äußeren Rand sind die Bemerkungen der Tossafisten abgedruckt, der Nachfahren und Schüler Raschis, die wiederum seinen Kommentar und alles von ihm Kommentierte kommentiert haben.

Jede Talmudseite bietet zudem Querverweise zu anderen Talmudstellen, zu verschiedenen mittelalterlichen jüdischen Gesetzeswerken (etwa dem des Maimonides) sowie zum Schulchan Aruch, dem bedeutenden Kompendium jüdischen Rechts aus dem sechzehnten Jahrhundert, verfasst von Josef Karo. Dazu muss man noch die Talmudstudenten hinzunehmen, die an einer vor über zweitausend Jahren begonnenen Diskussion teilhaben.

Nun ist dies etwas ganz anderes als all die Rezepte, Kurznachrichten, Wetterberichte, Chat-Räume, Universitätsbibliotheken, pornographischen Bilder, Rembrandt-Reproduktionen und geschwätzige Eigenwerbung, die in Hülle und Fülle ungebändigt durch den Cyberspace treiben und uns dort überfallen. Der Talmud erwuchs aus dem ethischen Imperativ des jüdischen Gesetzes, dem freien Spiel großer Denker, den Bedrängnissen des Exils, der reflektierten Notwendigkeit, eine Kultur zu bewahren, und dem brennenden Verlangen, das sich entfaltende Wort Gottes zu erkennen und ihm zu folgen. Niemand versuchte hier, Flugtickets zu kaufen oder ein Rendezvous auszumachen. Außerdem wurde der Talmud, nach jahrhundertelanger mündlicher Überlieferung, letztlich niedergeschrieben und von (weitgehend) unbekannten Redaktoren, Meistern der Gelehrsamkeit und Erfindungskraft, gestaltet, die in ihm herumgeistern und anonym Stichworte liefern, Fragen stellen, Antworten vorschlagen und Widerlegungen formulieren, so dass man im Talmud — trotz all seiner Vielgestaltigkeit – einen ordnenden Intellekt am Werk sieht.

Und dennoch, wenn ich eine Talmudseite betrachte und all jene eng und aufdringlich auf derselben Seite platzierten Texte sehe, wie Kinder von Einwanderern, die zusammengedrängt in einem Bett schlafen, muss ich an die von allen möglichen Störmomenten und Durcheinander bestimmte Kultur des Internet denken. Über viele Hunderte von Jahren wanderten Responsa und Fragen zu praktisch jedem Aspekt jüdischen Lebens zwischen den verstreuten Juden und den verschiedenen Zentren talmudischer Gelehrsamkeit hin und her. Auch das Internet ist eine Welt grenzenloser Wissbegier, der Diskussion und Information, in der jeder, der ein Modem besitzt, für eine Weile aus der Wüste heraustreten, eine Frage stellen und eine Antwort erhalten kann. Der Gedanke tröstet mich, dass ein modernes Medium den Widerhall eines uralten darstellt.

Jonathan Rosen: Talmud und Internet. Eine Geschichte aus zwei Welten, Aus dem Amerikanischen von Christian Wiese, Jüdischer Verlag im Suhrkamp 2002.

LESEPROBE:

„Wo, wenn nicht inmitten der Diaspora, braucht der Mensch eine Homepage?“

… Entsteht aus der zerstörten Gestalt des Buches das Internet? Das würde eine weitere Ähnlichkeit erklären, die für mein Empfinden zwischen Internet und Talmud besteht, denn auch der Talmud erwuchs aus der Erfahrung eines Verlustes.

Der Talmud bot einer entwurzelten Kultur eine virtuelle Heimat und entstand aus der Notwendigkeit, dass die Juden ihre Kultur in Worte packen und in die Welt hinauswandern mussten. Der Talmud gewann in dem Augenblick entscheidende Bedeutung für das Überleben des Judentums, als der Tempel, Gottes vortalmudische Wohnstätte, zerstört wurde und der Tempeldienst mit seinen Blut-, Feuer- und Sühneritualen nicht länger vollzogen werden konnte.

Als das jüdische Volk seine Heimat (das Land Israel) und Gott seine Heimstätte (den Tempel) verlor, wurde eine neue Daseinsform geschaffen; die Juden wurden aus einem Volk des Tempels oder des Landes zum Volk des Buches. Und sie wurden zum Volk des Buches, weil sie keinen anderen Daseinsort mehr besaßen. Dieser konkrete Verlust wird häufig übersehen, doch für mich liegt er – trotz seines ganzen sonstigen Reichtums – dem Talmud zugrunde und bildet seinen eigentlichen Kern. Obwohl uns das Internet, wie wir immer wieder hören, zunehmend miteinander verbindet, ruft es in mir doch ein ähnliches Gefühl von Diasporaexistenz hervor, das Empfinden, zugleich überall und nirgends zu Hause zu sein. Wo, wenn nicht inmitten der Diaspora, braucht der Mensch eine Homepage?

Der Talmud erzählt eine Geschichte, die diese geheimnisvolle Transformation von einer Art der Kultur in eine andere zu erfassen vermag. Gemeint ist die Geschichte von Jochanan ben Sakkai, dem großen Gelehrten des ersten Jahrhunderts, der im belagerten Jerusalem lebte, kurz vor dessen Zerstörung durch die Römer. Er erkannte, dass Jerusalem und der Tempel dem Untergang geweiht waren, und ersuchte deswegen die Römer um die Erlaubnis, außerhalb Jerusalems lernen und lehren zu dürfen. Seine Schüler schmuggelten ihn in einem Sarg aus dem belagerten Jerusalem heraus. Sie taten dies nicht, um so die Römer zu täuschen, sondern um den Zeloten, den jüdischen Revolutionären, zu entgehen, die die Stadt bewachten und jeden töteten, der nicht bereit war, zusammen mit der Stadt zu sterben.

Jochanan ben Sakkai aber war dazu nicht bereit. Kaum war er jenseits der Stadtmauern, suchte er den römischen Feldherren Vespasian auf und bat ihn um die Erlaubnis, sich in Jawne niederlassen zu dürfen. Man gewährte ihm dies, und Jawne wurde zu dem Ort, an dem das Studium der mündlichen Tora erblühte und die Mischnah Gestalt annahm – so wurde die talmudische Kultur gerettet, während die Kultur des Tempels unterging. In gewissem Sinne ist Jochanan ben Sakkais Reise in seinem Sarg die symbolische Inszenierung der Umwandlung, die das Judentum vollzog, als es von einer Religion des Körperlich-Materiellen zu einer Religion des Geistes und des Buches wurde. Das Volk der Juden als ein Volk des Landes und des Tempeldienstes mit Feuer und Blut ging unter und wurde – in einem der großartigsten Akte der Transformation, den die menschliche Geschichte gesehen hat – als Volk des Buches wiedergeboren.

Jochanan ben Sakkai in seinem Sarg kommt mir in den Sinn, wenn ich darüber nachdenke, wie wir – Bücher und Menschen gleichermaßen – durch die Tore des Computerzeitalters schreiten und eine neue Form einer globalen Diaspora betreten, in der wir überall sind, nur nicht daheim. Doch jedem Schreiben eignet wohl letztlich immer etwas Geisterhaftes, Unbefriedigendes, Entkörperlichtes, so dass es ungerecht wäre, den Computer oder das Internet dafür zu zeihen, dass sie das, was Worten an Enttäuschendem immer schon anhaftete, noch einmal verstärken.

Jonathan Rosen: Talmud und Internet. Eine Geschichte aus zwei Welten, Aus dem Amerikanischen von Christian Wiese, Jüdischer Verlag im Suhrkamp 2002.