Taharah, Tumah und Mikwa

Erläuterungen im Kontext ritueller Reinheitsgebote

Tahara, rituelle Reinheit, und Tumah, rituelle Unreinheit, sind wichtige Konzepte im Judentum. Die Tora verlangt in bestimmten Situationen die Wiederherstellung physischer und psychischer Unversehrtheit, eine Beschreibung, mit dem Tahara vielleicht besser erklärt werden kann als mit dem Begriff Reinheit, der im Deutschen so sehr an körperliche Sauberkeit geknüpft ist und den Begriff stark einengt.

Tahor wird in der hebräischen Bibel oft im Zusammenhang mit den Reinheitsgeboten für die Priesterschaft verdeutlicht und meint tauglich, um den Tempel zu betreten bzw. Opfer darzubringen.

Sein Pendant tameh, meint also nicht tauglich, nicht klar und unversehrt. Tameh waren in der Tora jene Menschen, die entweder mit einem Toten in Berührung gekommen waren oder körpereigene Substanzen verloren hatten, hauptsächlich männliches Ejakulat und weibliches Menstruationsblut sowie Menschen, die von Geschlechtskrankheiten befallen waren (Lev. 15). Entgegen der häufigen Missinterpretationen, wird hier deutlich, dass nicht nur die Frauen rituell unrein sein können.

Für die rituelle Reinigung nach dem Berühren eines Leichnams galt in der Tora das Ritual der „roten Kuh“ (Num. 19), welches besonders für die Priesterschaft zum Betreten des Tempels erforderlich war. Heutzutage, nachdem es keine rote Kuh mehr gibt, befinden sich alle im Zustand ritueller Unreinheit, Männer und Frauen gleichermaßen.

Gegenstände und Räume konnten Unreinheiten durch Kontaminierung bzw. Verseuchung annehmen und bedurften und bedürfen einer materiellen und rituellen Reinigung. Auch heute noch muss in traditionellen Haushalten neues Geschirr noch „getoiwelt“, d. h. durch Untertauchen in der Mikwe koscher gemacht werden.

Für Menschen, die tameh geworden waren, waren Trennung von der Gemeinschaft und bestimmte Reinungsrituale erforderlich, um sie in den ursprünglichen Zustand der Tahara zurückzuführen.

Zur Wiederherstellung ihrer rituellen Unversehrtheit mussten sich Personen gründlich reinigen, um abschließend gänzlich in „lebendigem“ (fließendem, nicht stehendem) Wasser unterzutauchen. Wasser spielt in der Tora eine wichtige Rolle, und der Midrasch verweist auf das lebendige Wasser von Miriams Brunnen, der das Volk Israel auf seinem Zug durch die Wüste begleitet.

In der Regel wurde die Tewilah (von t-w-l tauchen) im Altertum in einem Fluss durchgeführt, später wurden eigens Bassins gebaut, Mikwen (lit. „Sammlung des Wassers“), in die ein bestimmter Anteil an „fließendem“ Wasser eingespeist werden muss. Eine der ältesten Mikwen findet man auf Massada aus der Zeit um 100 n. d. Z.

Soferim – Tora-Schreiber – müssen auch heute noch vor ihrer Arbeit in der Mikwe untertauchen. Ansonsten wurden die Vorschriften für die Männer erleichtert, um möglichst vielen das Torastudium zu ermöglichen.

In den Gemeinschaften der Haredim tauchen heute noch die Väter und ihre Söhne vor Schabbat und Jom Kippur in der Mikwe unter.

Entgegen der Irrelativität der levitischen Reinheitsgebote heutzutage, und trotzdem der Mann sich auch in einem permanenten rituell unreinen Zustand befindet (s.o.), haben sich die Reinheitsgebote für die Frau im traditionellen Judentum erhalten.

Die Frau wird im Zustand ihrer rituellen Unreinheit niddah (lit. Trennung) genannt. Für sie gilt das Gebot der rituellen Reinigung, um nach ihrer Menstruation oder einer krankheitsbedingten Uterusblutung den ehelichen Geschlechtsverkehr wieder aufnehmen zu können. Während ihrer Menstruation und einige Tage danach, bis sie wieder rituell rein ist, darf zwischen einer Frau und ihrem Mann kein Geschlechtsverkehr stattfinden, „solange die Frau physisch geschwächt ist“(1).

Josef Schuster beschreibt diese Trennung als eine von Medizinern als günstig angesehene Bedingung für die Gesundheit von Frauen und Kindern nach der Geburt und somit als einen wichtigen Faktor im Überleben jüdischer Gemeinschaften in Zeiten, als die Medizin noch nicht weit entwickelt war (2).

Die Frau ist für die „Reinheit der Familie“, die taharat hamischpacha, verantwortlich, wenngleich das Tabu der Berührung einer Menstruierenden nur den Ehemann betrifft und kein Hindernis für die Berufstätigkeit orthodoxer Frauen ist. Für viele orthodoxe Ehepaare bedeutet die Zeit sexueller Abstinenz ein Gegenmittel zu ehelicher Routine.

Bis ins zwanzigste Jahrhundert war die Mikwe ein maßssgeblicher Teil des Gemeindelebens – ohne Mikwe keine Gemeinde. Heute benutzen nur wenige, meist streng orthodoxe Menschen, auch hier in Deutschland, die wenigen Mikwen, die noch in Betrieb sind. Diese Minderheit ist oft dem Vorurteil ausgesetzt, rückständig und frauenverachtend zu sein.

Entgegen landläufigen Vorurteilen gibt es kein Verbot für Menstruierende, Torarollen zu berühren. Bei RaMbaM können wir lesen, dass „(…) alle, die rituell unrein sind, sogar Frauen während ihrer Menstruation (…) eine Torarolle halten und aus ihr lesen dürfen (…) die Worte der Tora können nicht unrein werden“ (3).

In einer Studie der israelischen Anthropologin Inbal Cicurel über Mikwebesucherinnen in Beer Sheva lesen wir über den Umgang säkularer Israelinnen nordafrikanischer Herkunft mit Tahara und Tumah. Diese Frauen befolgen ausser der Tewilah meistens keines der halachischen Gebote mehr und wählen den Gang zur Mikwe aus unterschiedlichen Motiven: weil die Freundinnen gehen, weil die Mikwe ein Ort der Kommunikation ist; in dem Glauben, mit dem Untertauchen die Familie zu beschützen und um Brautfeste zu feiern. Sie erschaffen sich einen weiblichen Raum innerhalb des Judentums, in dem sie ihre Motivationen selbst bestimmen (4).

In Amerika breitet sich zunehmend ein neuer Trend unter jüdischen Reformerinnen und Konservativen und Jüdinnen der Jewish-Renewal-Bewegung aus: die Wiederentdeckung der Mikwe. Mit der zweiten Welle des Feminismus kam auch die Mikwe zurück, die bis dahin den „Frommen“ und den zum Judentum Konvertierenden überlassen war. Unter dem Aspekt der Frauengesundheit, der Möglichkeit eines Rückzugraumes, der spirituellen Erneuerung und der Rückbesinnung auf traditionelle Frauenräume im Judentum wurde die Mikwe neuerlich interessant. Sie wird zunehmend im Kontext der Vielfältigkeit der Lebenserfahrungen von Frauen gesehen und genutzt.

Im Kontext der Mikwe entwickeln beispielsweise jüdische Frauen neue Rituale. So erzählt Haviva Ner-David vom Ritual des Untertauchens für ein neugeborenes Mädchen, das sie für ihrer zwei Monate alte Tochter als Brit Ha-Bat, ein Äquivalent zur Brit Mila, schuf (5).

Die Mikwe ist nicht mehr nur ein Raum für die verheiratete, fruchtbare Frau und ein Konzept von Tahara im traditionellen Sinne, sie kann Jüdinnen heute zunehmend ein Ort weiblicher Spiritualität und weiblichen Selbstbewusstseins sein.

1. Pnina Navè Levinson, „Eva und ihre Schwestern“, 1992
2. Josef Schuster, Zur Sterblichkeit jüdischer und nichtjüdischer Säuglinge, Dissertation Würzburg 1980
3. RaMbaM Mischne Tora Hilchot Tefillin, Mesusa u-sefer tora 10,8
4. Inbal Cicurel, „The Mikvah As A Contested Domain“, Nashim No.3, Brandeis University 2000
5. Haviva Ner-David, „Life Tn The Fringes“, JFL Books 2000
Buchtipp: Rahel R. Wasserfall, „Women and Water“, Brandeis University Press 1999.

umko