Der Tag des Gerichts

Rosch haSchanah ist der Tag des Gerichtes für alle Sterblichen dieser Welt. An diesem Tag wird der Mensch gerichtet, und alles was ihm im kommenden Jahr geschieht, wird an diesem Tag bestimmt. Denn so heisst es: „Die Augen G“ttes, Deines G“ttes, sind stets auf es (gemeint ist das Land) gerichtet – vom Anfang des Jahres bis zu seinem Ende“ (Dewarim 11, 12). „Am Beginn des Jahres wird geurteilt, was am Ende sein soll!“ (Rosch haSchanah 8a).

Auch von der Art und Weise, wie G“tt Sein Volk beurteilt, sprechen unsere Weisen. Zur gleichen Zeit werden alle Menschen zusammen gerichtet, doch werden die Taten eines jeden einzelnen genau geprüft. „Alle Bewohner der Welt ziehen an Ihm vorüber wie Schafe – kiWnej Maron“ (Rosch haSchanah 16a). So steht auch in den Psalmen: „Er, der ihr Herz gemeinsam bildet, der alle ihre Taten versteht“ (Tehillim 33,15). G“tt, der Schöpfer, sieht in die Herzen eines jeden zu gleicher Zeit und versteht alle ihre Taten.

Rabbi Kruspedai sagte im Namen von Rabbi Jochanan: „Drei Bücher werden am Rosch haSchanah geöffnet: Das eine für Bösewichte, – Rescha‘im Gemurim – eines für die Gerechten – Zadikim Gemurim, und eines für die Mittelmässigen – Bejnonim. Die Zadikim Gemurim werden sofort ins Buch des Lebens eingeschrieben und besiegelt. Die Rescha‘im Gemurim werden sofort eingeschrieben und zum Tode verurteilt. Die Bejnonim aber erhalten eine Frist bis Jom Kippur, dem 10. Tischri. Wenn sie es verdient haben, d.h. wenn sie sich zur Rückkehr besonnen haben, werden auch sie in das Buch des Lebens eingeschrieben. Wenn aber nicht, sind auch sie zum Tode verurteilt (Rosch haSchanah 16b).

Aus zwei Gründen wird Rosch haSchanah als Tag des Gerichts betrachtet. Erstens, weil an diesem Tag die Schöpfung vollendet wurde, und weil es G“ttes Plan war, die Welt mit „Midath haDin“ – mit Recht und Gerechtigkeit zu regieren. Zweitens, und dies wurde schon vorher erwähnt, weil an diesem Tag der erste Mensch gerichtet wurde, seine Schuld einsah, Teschuwah tat und G“tt ihm verzieh.

Diese beiden Gründe werden auch im Musafgebet von Rosch haSchanah erwähnt: „Denn ein Gesetz des Gedächtnisses bringst Du, da Du jeden Geist und jede Seele aufzählst. So bedenkst Du eine Fülle von Taten und unzählige Geschöpfe bringst Du in Erinnerung, ohne Ende. Von jeher schon hast Du dieses wissen lassen, und von Anfang an hast Du dies enthüllt. Dies ist der Tag des Beginns Deiner Werke, es ist Erinnerung an den ersten Tag.“ Somit ist dieser Tag Erinnerung an die Vollendung der Schöpfung und gleichzeitig Erinnerung an den ersten Tag des Gerichts. Unsere Weisen fügen hinzu: Komme und schau: G“ttes Wege sind nicht die Wege von Fleisch und Blut. Der Mensch aus Fleisch und Blut richtet seinen Freund in einer günstigen Zeit, wenn er ihm wohlgesinnt ist. Den Feind hingegen richtet er, wenn er noch zornig auf ihn ist, um ihn mit Strenge zu verurteilen. Nicht so G“tt: Er richtet die ganze Welt auf einmal, und es sind auch diejenigen mit inbegriffen, die Seinen Willen nicht beachten, also alle zusammen in einer günstigen Zeit, nämlich im Monat Tischri. In diesem Monat gibt es so viele Feste und so viele Mizwot zu erfüllen. Sie bieten somit Gelegenheit, die innige Verbindung zwischen Ihm und Seinen Geschöpfen wiederherzustellen. So kann sich der Mensch im Gebet und durch Rückkehr wieder zu Ihm wenden. G“tt wird Sich auch ihnen wieder in Liebe zuneigen.