Sidrath Re’eh: Ich lege euch den Segen vor

Paraschath haSchawu’a, der wöchentliche Toraabschnitt, kommentiert von Nechama Leibowitz

Diese Sidra ist die erste im Buch Dewarim, die zu einem Grossteil aus Gesetzen und religiösen Vorschriften zusammengesetzt ist. Sie beginnt mit einer Passage über Belohnung und Strafe:

Siehe, ich lege euch heute Segen und Fluch vor: Den Segen, so ihr gehorchet den Geboten des Ewigen, eures Gottes, die ich euch heute gebiete; Und den Fluch, wenn ihr nicht gehorchet den Geboten des Ewigen, eures Gottes, und weichet von dem Wege, den ich euch heute gebiete, so dass ihr fremden Göttern nachgehet, die ihr nicht kennet.
(11, 26 – 28)

Diese Passage, die den Gehorsamen Segen verspricht und die Ungehorsamen mit Fluch bedroht, postuliert auch das fundamentale jüdische Prinzip des freien Willens. Der Midrasch versteht die Eröffnungsworte unseres Textes so:

„Siehe, ich lege euch heute Segen und Fluch vor“: Rabbi Eliezer sagte: Sobald der Ewige diese Worte am Sinai geäussert hatte, „ergeht nicht aus des Höchsten Munde das Üble wie das Gute“ (Klagelieder 3, 38); aber das Böse übermannt jene, die Böses tun und Gutes, die Gutes tun.
(Devarim Rabbah 4, 3)

Viele Kommentatoren waren durch die Tatsache erstaunt, dass das hebräische Wort für „Böse“ im Text aus den Klageliedern im Plural erscheint (ra’ot), während das Wort für „Gut“ (towah) in der Einzahl steht. Hier die Erklärung von Ha’amek Davar:

In seiner unermesslichen Güte stattete der Allmächtige seine Geschöpfe einem Anreiz zum Guten aus. In Anbetracht dessen kommt nur das Gute vom Höchsten, während Vergeltung und Leiden nicht von Ihm ausgehen, sondern den Menschen in direkter Beziehung zu seinen Taten, seinen sündhaften Handlungen, übermannen.

Wir werden später zu dieser Idee zurückkehren. Inzwischen beschäftigen wir uns mit einer weiteren scheinbaren Anomalie, diesmal im Eröffnungstext. Die Anomalie besteht nur im Hebräischen, in der Übersetzung gibt es diese Diskrepanz. (Obwohl in der von uns verwendeten Übersetzung ein Unterschied angedeutet wird.) Die Passage lautet: “ … den Segen, so (ascher) ihr gehorchet …“; „Und den Fluch, wenn (im) ihr nicht gehorchet“. Die gewöhnliche Lesart wäre das konditionale „im“ in beiden Fällen. Worum geht es bei dieser Variation? Malbim, der grosse Kommentator des 19. Jahrhunderts, der die Semantik des biblischen Hebräisch studierte, gibt folgende Erklärung:

„Den Segen, so ihr gehorchet“: dies beinhaltet, dass die Gehorsamkeit gegenüber den göttlichen Geboten den Segen ausmacht. Stellt euch nicht vor, es gebe eine diesseitige Belohnung ausser der guten Tat selbst. Es ist nicht wie im Falle eines Herrn, der seinen Diener für Loyalität belohnt und für Ungehorsam bestraft, wo der Diener von der Laune des Herrn abhängig ist. Eine Parallele ist ein Arzt, der seinem Patienten versichert, er werde gesund sein, so lange er sich an die vorgeschriebenen Rezepte hält. Sonst werde er sterben. Hier liegen die Konsequenzen in der Tat selbst.

In der von Malbim vorgelegten Idee hallt das rabbinische Diktum wider, dass die Belohnung einer Mitzwah eine Mitzwah ist – Tugend ist ihre eigene Belohnung. Aber dies erklärt nicht, warum die Torah hinsichtlich der sündhaften Handlungen ihre Haltung ändert und das konditionale „im“ benutzt. Sicherlich, es ist gleichermassen whar, dass Sünde ihre eigene Bestrafung mit sich bringt – die Belohnung einer Übertretung ist eine Übertretung! Bachja geht weiter als Malbim und erklärt die verschiedenen Implikationen von „ascher“ und „im“ in unserem Kontext:

„Im“ ist ein Ausdruck des Zweifels, der daher in Zusammenhang mit der Torah unpassend ist, aber passend im Kontext von Strafe. Daher benutzt der Text „ascher“, einen Ausdruck der Sicherheit mit Verweis auf Gehorsam.

Mit anderen Worten: der Mensch ist nicht bloss mit zwei Möglichkeiten konfrontiert. Er wird ermahnt, den ersten Weg vorzuziehen. (Vergl. Deut. 30, 19: „Das Leben und den Tod hab‘ ich dir vorgelegt, den Segen und den Fluch; aber du sollst das Leben erwählen.“) Da jedoch diese beiden Alternativen in unserer Passage in untergeordneten Konditionalsätzen fortgesetzt und von den Hauptsätzen gefolgt werden, sollten diese den Schlüssel zur Interpretation geben und die Formulierungsvarianten erklären. Raschi, in seiner charakteristischen Kürze – erhellt die Dunkelheit in zwei hebräischen Worten:

„Den Segen, so ihr gehorchet“ – wegen (al menat).

Was bedeutet Raschis Kommentar? Um ihn zu verstehen, müssen wir den Talmud verwenden, der den Unterschied der Bedeutungen von „al menat“ – „wegen“ und „im“ – „wenn“ erklärt. „Al menat“ impliziert eine retroaktive Kraft. „Ich werde dich bezahlen, wenn du eine bestimmte Arbeit ausführst“ konstituiert eine Verpflichtung zu bezahlen, wenn die Arbeit vollendet ist – auf die Ausführung hin. „Ich werde dich bezahlen, wegen der Ausführung einer bestimmten Arbeit“ impliziert eine retroaktive Verpflichtung zu bezahlen, sogar vor der Ausführung.

Wenden wir nun diese Unterscheidung auf Raschis Kommentar an: „wegen“ in Bezug auf den Text „Den Segen, so ihr gehorchet“. Der Mensch erhält den Segen „wegen“, sogar bevor er sich als dem göttlichen Gesetz gegenüber als gehorsam erwiesen hat. Die Welt ist auf der göttlichen Gnade begründet. Am Ende der Schöpfung, vor der Erschaffung des Menschen, heisst es: „Und Gott sah alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.“ Diese freigiebigen Worte waren dem Menschen bestimmt, damit er sich seines Schöpfers erfreue und ihm diene, unter der Bedingung des Gehorsams den Wünschen des Schöpfers gegenüber. Der Fluch kommt nachher, wenn der Mensch ungehorsam ist. Dies ist die Erklärung für die unterschiedliche Formulierung. Die Welt ist nicht ursprünglich böse oder voller Unglück, um durch die guten Taten des Menschen erlöst zu werden. Im Gegenteil: „Wie vielgestalt sind deine Werke, Ewiger! Alles hast du geschaffen in Weisheit“ (Psalm 104, 24). Das Hässliche und das Unglück sind die Folge des bom Menschen begangenen Bösen: „Und den Fluch, wenn ihr nicht gehorchet“. Derselbe Psalm bezieht sich auf folgendes: „Dass doch schwinden von der Erde die Sünder, nimmer sollen Gottlose sein! Preise, meine Seele, den Ewigen!“ Wenn einst das menschliche Böse verschwunden sein wird, ist die ursprüngliche Reinheit der göttlichen Schöpfung wieder hergestellt, als alles „in Weisheit geschaffen“ war. Und auch der Zustand des Segens kehrt zurück: „Preise, meine Seele, den Ewigen!“

Jetzt mögen wir die Bemerkung des Ha’amek Davar, die wir am Anfang zitierten, würdigen. „Ergeht nicht aus des Höchsten Munde das Üble wie das Gute“, denn der Mensch ist verantwortlich für das Böse. Das Gute ist daher in der Einzahl, denn es gibt nur ein höchstes Gutes, das von Gott ausgeht. Und das ist das Gute, das der Menschheit von vorne herein gewährt wird, in Vorahnung ihrer Ungehorsamkeit.

Weiterführende Fragen

1. Vergleiche die beiden Verse (27, 28), die das Thema unserer Diskussion ausmachten und finde weitere Diskrepanzen zwischen ihnen. Können sie alle in Übereinstimmung mit Raschis Kommentar, den wir zitierten, erklärt werden?

2. Vergleiche Raschis Kommentar „al menat“ hier mit Raschi zu Exodus 20, 6 „oseh chesed“. Welche Idee liegt beiden zugrunde?

3. Ibn Ezra kommentiert das erste Wort unseres Abschnittes „Siehe“ – „Re’eh“: „der Vers wendet sich an jeden einzelnen Juden.“ Welche Schwierigkeit findet Ibn Ezra in der Formulierung, die seinen Kommentar rechtfertigt?

Re’eh – Dtn 11.26 – 16.18 / Haftarah – Jesaja 49,14 – 51,3