Der wöchentliche Toraabschnitt, kommentiert von Nechama Leibowitz
In seinem Werk „Von Noach bis Abraham“ kommentiert Cassuto die Geschichte der Sintflut folgendermassen:
Die Struktur des Kapitels ist sorgfaeltig bis ins letzte Detail ausgearbeitet. Die Geschichte ist in zwei Akte geteilt, jeder besteht aus sechs Paragraphen. Der erste Teil beginnt mit dem Anfang der Parascha und geht bis Kapitel 7, Vers 24. Die goettliche Gerechtigkeit ist im Begriff, ueber eine Welt voller Gewalt eine Katastrophe zu senden. Das Bild wird dunkler und dunkler, bis nur mehr ein einziger Funke in der toedlichen Finsternis glueht. (7, 17-24): Die Arche treibt auf den Wassern, die alles bedeckten. In ihr lebt die Hoffnung auf zukuenftiges Leben.
Das Leben auf der Erde wurde zerstoert, Mensch und Vieh, Reptilien und die Voegel des Himmels. Sie wurden vernichtet und niemand ausser Noach und seiner Familie blieb am Leben. Und sie waren mit ihm in der Arche.
Der zweite Akt schildert die verschiedenen Stadien der goettlichen Gnade, die das Leben auf der Erde erneuert. Das Licht, das auf einen winzigen Punkt in einer Welt voller Finsternis reduziert worden war, scheint immer heller, bis es abermals unseren gesamten Hintergrund erleuchtet. Jetzt sehen wir eine zur Ruhe gekommene Welt, geschmueckt mit dem Regenbogen, der sein Farbenspektrum durch die Wolken reflektiert. Er ist das Zeichen der Sicherheit fuer das Leben und den Frieden der kommenden Generationen.
Das ist das Zeichen des Bundes, den ich errichtet habe, zwischen mir und allem Fleische auf Erden.(9,17)
Die Bosheit der vorsintflutlichen Geschlechter wird in den letzten Versen der vorgehenden Sidra beschrieben. Die Moral der Menschen verfiel mehr und mehr, vom Brudermord (Kain und Abel) zur Verherrlichung des Kampfes und des Schwertes in Lemachs lyrischem Ausbruch, bis zu den Taten der „Soehne Gottes“, die die „Toechter der Menschen sahen, dass sie schoen waren, und nahmen sich Weiber, aus allen, die sie erkoren.“
Die „Soehne Gottes“ waren Maenner mit abnormen Koerperkraeften, die (mit den Worten David Kimchis) „das Prinzip, der Starke sei im Recht, hochhielten. Aus ihrem Griff gab es kein Entkommen.“ Das Bild der moralischen Aufloesung wird immer dunkler, bis es am Ende der vorhergehenden Sidra heisst:
Da sah der Ewige, dass gross war die Bosheit des Menschen auf Erden, und dass alles Gebilde der Gedanken seines Herzens nur boese den ganzen Tag. (6,5)
Die Moral der Generation der Sintflut wird in etwas anderer Formulierung in zwei Saetzen zu Beginn des Abschnittes „Noach“ weiter beschrieben:
Und die Erde war verderbt vor Gott. Und die Erde war voll Gewalttat. (6,11)
Nach Meinung unserer Weisen, die von Raschi zitiert wird, bezieht sich der erste Satz auf sexuelle Verdorbenheit und der zweite auf soziale Verbrechen. „Chamas“ – „Gewalt“ bezieht sich auf „Gezel“ – „Raub“.
Unsere Weisen waren ueber die Vielfalt in der Beschreibung des menschlichen Verhaltens vor der Flut (Vers 11) erstaunt und der Erwaehnung der Suende, die dazu fuehrte, dass der Allmaechtige das Schicksal der Menschheit besiegelte. (Vers 13)
Hier in Kommentar unserer Weisen ueber dieses Thema aus dem Talmud (Sanhedrin 108a):
Rabbi Jochanan sagte: Kommt und seht, wie schrecklich ist die Macht der Gewalt! Denn seht, die Generation der Flut beging jede denkbare Suende, aber ihr Schicksal wurde erst besiegelt, als sie ihre Haende zum Raub ausstreckten, wie es heisst: „denn voll ist die Erde durch Gewalttat durch sie, und ich will sie verderben mit der Erde.“
Der Midrasch wimmelt von Beschreibungen der Boesartigkeit der Generation der Flut und gibt eine erschoepfende Liste aller von ihr begangenen Ungerechtigkeiten. Trotzdem wird immer betont, dass von den zahllosen Uebertretungen die eine, speziell erwaehnte Suende der Gewalt, ihr Schicksal besiegelte und das goettliche Gericht ueber die brachte:
„Und die Erde war voll Gewalttat.“
Der Midrasch fasst die korrumpierende Natur der „Gewalt, die faehig ist, das Gute im Menschen zu demoralisieren und die als unueberwindbare Barriere zwischen dem Menschen und seinem Schoepfer steht“, zusammen.
So sagt Hiob (Hiob 16,17): „Obwohl kein Unrecht klebt an meinen Haenden und mein Gebet ganz ohne Makel war.“ Gibt es ein Gebet mit Makel? Derjenige, der zu Gott mit von Gewalttaten besudelten Haenden betet, erhaelt keine Antwort. Warum? Denn sein Gebet ist voller Makel, wie es heisst: „Und Gott sprach zu Noach: Das Ende allen Fleisches ist gekommen vor mich, denn voll ist die Erde von Gewalttat durch sie.“ Aber da Hiob niemals eine Gewalttat beging, war sein Gebet makellos.
Die Worte des „Neila Gebetes“ sollten stets in unseren Ohren toenen, denn sie sind durchdrungen vom immer aktuellen Thema des „auf dass unsere Haende von der Gewalttat lassen.“ Unsere Weisen entdeckten in unserer Sidra auch eine Anspielung an ein anderes Konzept, das das Haupthema des „Neila Gebetes“ ausmacht: Dieses Konzept bezieht sich auf Ezechiel 33,11: Gott wuenscht nicht den Tod der Gottlosen, sondern ihre Umkehr.
Der Midrasch behandelt dieses Thema in der Geschichte vom Bau der Arche und die wunderbare Rettung Noachs und seiner Gefaehrten durch sie.
„Kommt und seht, warum befahl der Ewige, gepriesen sei sein Name, Noach, die Arche zu bauen? Um den Menschen zu zeigen, dass er mit ihrer Konstruktion beschaeftigt war, und sie zur Umkehr zu bewegen. Haette ihn der Ewige, sein Name sei gepriesen, nicht durch sein Wort geretttet haben oder ihn durch seinen Glauben in den Himmel erheben koennen, dass er ihm sagte: Mache fuer sie eine Arche aus Gofer-Holz? Wozu dies? Aber sagte der Ewige: Da ich zu ihm sage: Mache fuer sie eine Arche aus Gofer-Holz, und er mit der Arbeit beginnt und Zedernholz schneidet, werden sie sich um ihn versammeln und zu ihm sagen: Noach, was machst Du? Sagte er: eine Arche! Da Gott mir sagte, er wird eine Flut ueber die Erde bringen. Und das Ergebnis wird sein, dass sie auf ihn hoeren und bereuen. So dachte der Ewige, gepriesen sei Er, – aber sie nahmen keine Notiz. (Tanhuma)
Noch eine Version:
Noach ging hinaus und pflanzte Zedern. Sie fragten ihn: Diese Zedern, wozu dienen sie? Er sagte zu ihnen: Der Ewige, gepriesen sei Er, wird eine Flut auf die Erde schicken. Er hat mir befohlen fuer mich und die Meinen eine Arche zu bauen, um in sie zu fluechten. Sie lachten ihn aus und verspotteten ihn. Gegen Ende seines Lebens schnitt er sie um und hobelte sie ab. Sie sagten zu ihm: Was machst du? Er wuerde es ihnen sagen und sie warnen. Da sie nicht bereuten …
Dies ist auch das Thema Raschis im naechsten Kapitel (7,12), wenn der Allmaechtige der Generation die letzte Chance zur Umkehr gab:
„Und der Regen war auf der Erde vierzig Tage und vierzig Naechte.“
„Und der Regen war auf der Erde“: Spaeter heisst es: „Und die Flut war vierzig Tage auf der Erde“ (17). Der Regen begann langsam zu fallen, mit Gnade, damit er sich, im Falle ihrer Umkehr, in einen Segen verwandelte. Da sie aber nicht bereuten, wurde der Regen zur Flut.
Die letzte Warnung fruchtete nichts, so kam die Flut und vernichtete sie.
Weiterfuehrende Fragen:
1. Lies die Geschichte der Sintflut (6,9-9,17) und markiere die zwoelf Unterteilungen, auf die sich Cassuto bezieht, folgendermassen:
1. Akt 2. Akt
(1) 6,9-12(7)
(2) 6,13-22(8)
(3) 7,1-(9)
(4) (10)
(5) (11)
(6) (12)
Beachte besonders den Schluss der Verse. Welche bedeutenden Aehnlichkeiten findest du in der Formulierung der betreffenden Verse?
2. Nach Cassuto sind die in diesen beiden Abschnitten zu bemerkenden Parallelen „konzentrisch“ angeordnet. Die Eroeffnung des ersten Abschnittes bezieht sich auf den Schluss des zweiten, der Mittelteil des ersten auf den Mittelteil des zweiten, des Ende des ersten auf den Anfang des zweiten.
Worin bestehen diese Parallelen inhaltlich und in ihrer Formulierung?
3. „An eben demselben Tage kam Noach und Schem und Cham und Jefet, die Soehne Noachs, und das Weib Noachs und die drei Weiber seiner Soehne mit ihnen in die Arche; Sie und alles Getier nach seiner Art und alles Gewuerm, das kriecht auf Erden, nach seiner Art, und alle Voegel nach ihrer Art, alles Fliegende, alles Beschwingte.“ (7,13-14)
Warum geht der Text von der Ordnung der Schoepfung ab (siehe 1,20-25) und erwaehnt die Voegel zum Schluss?
4. „An eben demselben Tage kam Noach …“ – der Vers lehrt uns, dass seine Zeitgenossen ihm zu sagen pflegten: Wenn wir ihn in die Arche gehen sehen, wuerden wir sie zertruemmern und ihn erschlagen. Da sagte der Ewige, gepriesen sei Er: Ich werde ihn vor den Augen aller die Arche betreten lassen. Dann werden wir sehen, wessen Worte die Oberhand gewinnen.
„Und der Ewige schloss ihn ein …“ – schuetzte ihn vor ihrer Zerstoerung der Arche. Er umgab die Arche mit Baeren und Loewen, die die Vordringenden toeteten. (Raschi ueber 7,13-16)
Zeige, welches Wort oder welcher Satz unseres Textes den oben zitierten Midrasch inspirierten.
Schlage eine psychologische Erklaerung fuer das Verhalten der Generation der Sintflut vor, die in den Midrasch passt.
Versuche zu erklaeren, warum die Tora keinerlei Beschreibung des Verhaltens der Sintflutgeneration, als sie die Vergeltung erreichte, gibt.
Haftara zu Noach: Jesaja LIV – LV, 5