Naso – Der Priestersegen

Paraschat HaSchawua – Der wöchentliche Toraabschnitt, Kommentiert von Nechama Leibowitz

Und der Ewige redete zu Moscheh also:
Rede zu Aharon und seinen Söhnen und sprich:
Also sollt ihr segnen die Kinder Israels, sprich zu ihnen:
Es segne dich der Ewige und behüte dich;
Der Ewige lasse dir leuchten sein Antlitz und sei dir gnädig;
Der Ewige wende sein Antlitz dir zu und gebe dir Frieden!
Und sie sollen meinen Namen legen auf die Kinder Israel, und ich werde sie segnen.
(6, 22-27)

Jedem Juden, der die Synagoge besucht, ist der Priestersegen vertraut, so vertraut, dass wir vielleicht dazu neigen, seinen wahren Inhalt zu vergessen und seine profunde Bedeutung zu schätzen. Die einfache Formulierung dieser Benediktionen haben viele unserer klassischen Kommentatoren in Erstaunen versetzt. Hier ist eine der beteiligten Schwierigkeiten, ausgedrückt von Isaak Arama, dem Autor von „Akedat Isaak“:

Welchem Zweck dient die Vorschrift, dass diese Benediktionen vom Priester an das Volk gehen? Er, im Himmel oben ist es, der segnet. Was wird erreicht oder hinzugefügt, wenn der Priester segnet oder nicht? Müssen sie Ihm assistieren?

Tatsächlich wirft die Formulierung des Textes diese Frage auf. Der Segen wird durch eine Vorschrift eingeleitet, die sich an die Priester richtet: „also sollt ihr segnen die Kinder Israel.“ Er wird durch das göttliche Statement „und ich werde sie segnen“ abgeschlossen. Eine einfache Lösung für das erwähnte Dilemma wäre es, das Objekt des letzten Satzes „und ich werde sie segnen zu verstehen als bezöge es sich nicht auf ganz Israel, sondern auf die Priester, die Israel segnen. Dies bemerkt R. Ischmael im Talmud (Chullin 49a):

Bezüglich der Segnung Israels haben wir gelernt; aber bezüglich eines Segens für die Priester selbst haben wir nichts erfahren. Der Zusatz „und ich werde sie segnen“ (behebt diesen Mangel und ) bedeutet, dass die Priester Israel segnen und der Ewige, gepriesen sei Er, segnet die Priester.

Die meisten Kommentatoren haben jedoch diese Interpretation nicht akzeptiert, darunter auch Raschbam. Er erklärt, dass den Priestern nicht geboten wurde, das Volk zu segnen wie einer den anderen segnet, sondern den göttlichen Segen auf es herab zu rufen. Gott versprach, auf ihr Gebet zu antworten, er werde Israel segnen und behüten. Eine ähnliche Idee wird durch unsere Weisen im Midrasch Tanchuma ausgedrückt:

Das Haus Israel sagte zum Ewigen, gepriesen sei Er: Herr des Himmels und der Erde, Du gebietest den Priestern, uns zu segnen? Wir brauchen nur Deinen Segen. Schau herab vom Himmelszelt und segne Dein Volk. Der Ewige, gepriesen sei Er, antwortete ihnen: Obwohl ich den Priestern gebot, euch zu segnen, stehen Ich bei ihnen und segne euch.

Diese Gefühle unserer Weisen unterstreichen, dass nicht die Funktion der Priester das Wichtige ist. Ihre segnende Funktion wird im folgenden Zitat sogar noch mehr reduziert und jeder unabhängigen Bedeutung beraubt:

Woher wissen wir, dass Israel nicht sagen soll: Ihr Segen hängt von den Priestern ab? Und dass die Priester nicht sagen sollen: Wir sollen Israel segnen? Die Tora stellt fest: „Und ich werde sie segnen.“
(Sifrei)

Man könnte denken, sie (die Priester) werden gesegnet, wenn sie Israel segnen. Wenn sie Israel nicht segnen, werden sie auch nicht gesegnet? Die Tora sagt: „Und ich werde sie segnen.“ Ob sie wollen oder nicht, „ich werde sie segnen.“
(Sifrei Zota)

Diese Feststellungen unserer Weisen, die sorgfältig jeglichen Vorschlag magischer Wirksamkeit des Priestersegens vermeiden, geben uns keine klare Antwort auf die Frage des Hauses Israel:

Ewiger, Du gebietest den Priestern, uns zu segnen? Wir brauchen nur Deinen Segen.

Das Verb „segnen“ kommt in zwei Zusammenhängen vor: einmal im Bezug auf die Priester und einmal im Bezug auf Gott. Abravanel schlägt vor, es gebe einen Unterschied in der Bedeutung des Verbums in den beiden Kontexten:

„Segen“ ist ein Homonym, das sich einerseits auf das Gute, das von Gott auf seine Geschöpfe ausgeht, bezieht: „Der Ewige segnete Abraham mit all dem“ (Genesis 24). Andererseits bedeutet „Segen“ die Preisungen des Menschen für Gott: „Und David pries den Ewigen“ (I Chronik, 29). Dann gibt es den Segen, den jemand einer anderen Person erteilt, der weder mit dem Segen, der von Gott ausgeht, verglichen wird, noch mit den Lobpreisungen der Geschöpfe für Gott, sondern eine Bitte an Gott darstellt, den Betreffenden zu segnen. In diese Kategorie fällt der Priestersegen. … Sie rufen den Segen Gottes auf Israel herab.

Demgemäss fallen nur „und ich werde sie segnen“ und „es segne dich der Ewige“ des ersten Teiles in die Kategorie des göttlichen Segens im Sinn des Ausschüttens seiner Güte über den Menschen. Der Segen der Menschen ist nur ein Gebet, ein Herabrufen, keine wirkliche Gabe. In seinem Kommentar zu unserem Thema illustriert Hirsch, wie die Tora jeden Vorschlag der Schaffung einer Priesterkaste, die mit einer speziellen Segensmacht ausgestattet ist, ausschließen wollte:

Der Priester, der segnet, ist nur ein Mittel, ein Medium, durch das der Segen ausgedrückt wird. Der Tod der beiden Söhne Aarons (Leviticus 10), der ersten Erben des Priestertums, betont das unwiderrufliche Gesetz, das nur Gottesdienst, den Gott geboten hat, als Gottesdienst betrachtet werden kann. Gottesdienst, der von Gott nicht geboten wurde, menschliche Taten und Machenschaften, stellen etwas Fremdes dar und das Gegenteil dessen, was Gott wünschte. Dasselbe Prinzip wird auf den Priestersegen angewandt: „Also sollt ihr segnen die Kinder Israels“ – nur „also“, keinerlei Abweichungen sind gestattet. … Erst wenn sie von der Gemeinde aufgerufen werden, sprechen sie den Segen. Der Repräsentant der Gemeinde dient als Souffleur. So ruft die Gemeinde den Segen Gottes durch das vokale Medium der Priester herab.

Die Frage erhebt sich: warum brauchen wir überhaupt die Priester? Das Prinzip der menschlichen Zusammenarbeit mit Gott wird an verschiedenen Stellen gefunden. In Deuteronomium 10, 16 lesen wir:

Beschneidet nun die Vorhaut eures Herzens.

Deuteronomium 30, 6:

Und der Ewige, dein Gott, wird beschneiden dein Herz.

Ähnlich lesen wir in Ezechiel 18, 31:

Schafft euch ein neues Herz und einen neuen Geist

36, 26:

Und ich werde euch ein neues Herz geben und einen neuen Geist

Auf diese symbolische Zusammenarbeit zwischen Gott und Mensch bezieht sich der Talmud in Schabbat 89a:

Als Moses hinaufstieg, fand er den Ewigen, gepriesen sei Er, wie er die Buchstaben der Tora mit Kronen schmückte. Der Ewige sagte: Moses, ist es in deiner Stadt nicht üblich, nach dem Wohlergehen des anderen zu fragen? Moses antwortete: Grüsst so ein Sklave seinen Herrn? Der Ewige erwiderte: Du hättest mir eine helfende Hand reichen sollen (d.h.: meiner Arbeit Erfolg wünschen sollen).

Rabbiner H. Y. Pollak, einer unserer Kommentatoren, interpretiert diesen Midrasch so:

Der Ewige fragte Moses, ob er alles in seiner Macht als Führer stehende getan hatte, um das Wohlergehen und die moralische Perfektion seiner Gesellschaft zu fördern. Moses aber hatte gedachte, es liege nicht innerhalb der menschlichen Fähigkeiten, die menschliche Gesellschaft über die von Gott gesetzten natürlichen Grenzen hinweg zu läutern und zu vollenden. Darauf erwiderte Gott: obwohl alles letztlich von Seinem Willen abhängig ist, ist es die Pflicht des Menschen, sich selbst und die Gesellschaft durch aufrechte Lebensführung zu läutern. Nur so sind sie fähig, Gottes Segen zu empfangen. Wie die Erde nicht von Regen und Tau profitieren kann, bevor nicht gepflügt und gesät wurde. Das ist die Bedeutung von Gottes Antwort: Du hättest mir eine helfende Hand reichen sollen.

Die menschliche Hilfe, die Gott fordert, wird im Gebot für die Priester, die Kinder Israel zu segnen und ihre Herzen zu bereiten, angedeutet: „Und sie sollen meinen Namen legen auf die Kinder Israel, und ich werde sie segnen“, so wie der Bauer den Boden für den Regen vorbereitet.
Die exakte Formulierung des Segens ist in der Tora niedergelegt und wurde nicht dem Menschen überlassen. Der Segen besteht aus drei Teilen, jeder enthält zwei Verben und den Namen Gottes in der Mitte.
Hier die erste Sektion des Segens, erklärt von unseren Kommentatoren:

Es segne dich der Ewige – deine Güter seien gesegnet
(Raschi)

Das bedeutet, dass der Segen auf alle passt: für den Torastudenten Erfolg im Studium, dem Geschäftsmann im Geschäft, usw.
(Ha’emek Davar)

Und behüte dich – dass keine Plünderer kommen und dein Hab und Gut davontragen. Wer seinem Knecht ein Geschenk gibt, kann es nicht vor jedem schützen. Und wenn Diebe kommen und es nehmen, welchen Nutzen hat er davon? Aber der Ewige, gepriesen sei Er, gibt und schützt …
(Raschi)

Ein Segen erfordert Schutz, damit er nicht – es walte Gott! – ins Gegenteil verkehrt wird. Der Toraschüler braucht Schutz, um nicht in Stolz zu verfallen und den Namen des Ewigen in Verruf zu bringen. Der Geschätfsmann braucht Schutz gegen seinen Reichtum, um kein Klotz zu werden wie Korach und Naboth, und im wörtlichen Sinn gegen Diebe und Verlust.
(Ha’emek Davar)

Welche Interpretation wir auch annehmen, im ersten Teil bezieht sich der Segen auf Materielles.

„Der Ewige lasse dir leuchten sein Antlitz und sei dir gnädig“: Dies ist das Licht der Tora, das deine Augen und dein Herz öffnen soll und dir toragelehrte Kinder geben soll, wie es heisst: „Denn das Gebot ist eine Lampe und die Tora ein Licht.“
(Bamidbar Rabbah 11, 6)

Der zweite Teil bezieht sich auf die spirituellen Segnungen. Der Satz „und sei dir gnädig“ mag den guten Willen und den Respekt andeuten, der von dem, der Tora lernt, erfahren wird.
Der dritte Teil fasst alles zusammen:

Der Ewige wende sein Antlitz dir zu und gebe dir Frieden!

Hier ist es angebracht, folgendes Diktum unserer Weisen zu zitieren:

Vielleicht sagst du (im Kommentar zum Segen in Leviticus 26, 3-6: „… und ihr werdet euer Brot essen zur Sättigung … und ich werde Frieden geben in dem Lande …“) Essen und Trinken ist schön und gut, aber ohne Frieden sind sie nichts wert! Daher sagt die Tora: „ich werde Frieden geben in dem Lande“ – da Frieden alles aufwiegt.

Diese drei Teile des Priestersegens sind aufsteigend geordnet: sie beginnen mit dem Segen für das Materielle, behandeln dann das Spirituelle und erreichen schließlich den Höhepunkt, indem die ersten beiden Faktoren miteinander verbunden und mit dem Segen für Frieden gekrönt werden. Diese aufsteigende Ordnung wird in der Sprache und ihrem Rhythmus reflektiert. Der erste Teil besteht aus drei Worten, der zweite aus fünf und der dritte aus sieben.

Haftara zu Naso: Richter XIII, 2 – 25