Sidrath Mischpatim: Zwei Hilfstaten

Paraschat HaSchawua, der wöchentliche Toraabschnitt, kommentiert von Nechama Leibowitz: Sefer Schemot – Buch Exodus

So du triffst auf den Ochsen deines Feindes, oder auf seinen Esel, der irre geht, bringe ihm denselben zurück.
So du siehst den Esel deines Hassers, erliegend unter seiner Last, und du wolltest unterlassen, es ihm leichter zu machen: mache es ihm leichter mit ihm. (23, 4-5)

Der Kontext dieser beiden Vorschriften – die Rückgabe verlorenen Eigentums und die Hilfe bei der Erleichterung eines Tieres von seiner Last – gibt zu denken. Sie tauchen in der Mitte eines Absatzes auf, der sich mit Justizverwaltung beschäftigt. Um genau zu sein: sie folgen einem Vers, der die Begüstigung eines Armen verbietet, und gehen gehen einem Pasuk voraus, der die Beugung des Rechtes eines Armen untersagt. Die beiden Verse, die wir studieren wollen, scheinen zwischen zwei offensichtlich verbundenen Passagen zu stehen. Unsere frühen Kommentatoren schenkten der inneren Folge der Vorschriften in dem Wochenabschnitt keine Aufmerksamkeit.
Ibn Ezra stellt unverblümt fest:

Bevor ich meine Erklärungen beginne, möchte ich eine Prinzip klarstellen: jeder Satz, jede Vorschrift steht für sich allein. Wenn wir einen Grund finden können, die Verse zu verbinden, werden wir sie so weit wie möglich verbinden. Wenn nicht, werden wir annehmen, der Fehler liege in unserem begrenzten Wissen.

Tatsächlich versucht Ibn Ezra solche Verbindungen aufzudecken, aber seine Bemühungen sind nicht besonders erfolgreich. Andere Kommentatoren widmen diesem Problem mehr Aufmerksamkeit. Hier sind zwei neuere Kommentatoren. Zuerst Shadal zu den Worten „bringe ihm denselben zurück“.

Oben handelt der Text von Situationen, in denen Liebe Ungerechtigkeiten annulliert: „Folge nicht der Menge zum Bösen“. Folge der Menge nicht in ungerechten Dingen, begünstige nicht den Armen. Im Gegensatz dazu behandelt der Text nun Fälle, in denen Haß Gerechtigkeit annulliert. Dem „Treffen“ oder „Sehen“ des Eigentums des Feindes folgt das Verbot, das Recht eines Armen zu beugen, denn es ist der scheinbar verrufene Charakter eines Armen, der dich gegen ihn einnimmt.

Cassuto, auf Basis seiner Annäherung durch verbale Assoziation, setzt unsere Passage in den allgemeinen Kontext:

Vers 6, „Beuge nicht das Recht deines Armen (evjon) in seiner Rechtssache“ erscheint zuerst überraschend, da dies bereits in Vers 3 vorkommt: „Auch den Armen begünstige nicht in seinem Rechtsstreite.“ Es sieht wie eine unnötige Wiederholung aus. Aber wir dürfen annehmen, daß das Wort „evjon“ hier nicht das übliche Wort „arm“ oder „bedürftig“ ist, sondern ein Substantiv vom Stamm „ava“, „avi“, das in anderen semitischen Sprachen vorkommt und möglicherweise ursprünglich auch im Hebräischen. Es bedeutet „ablehnen“, „nicht willens sein“. Daher kennzeichnet das Wort hier einen „Gegner“, einen „Gegensätzlichen“ und ist ein Synonym für die Substantive „ojev“ – „Feind“ oder „soné“ – „Hasser“. Diese Bedeutung macht es leichter, die Verwendung der Endung in der zweiten Person zu verstehen: „-cha“, die nicht gerechtfertigt wäre, wenn „evjon“ in seiner üblichen Konnotation erschiene. (Siehe zum Unterschied Deut. 15,11: „… deinem Bruder, deinem Armen und deinem Dürftigen in deinem Lande.“) Wenn dies so ist, haben wir hier ein Verbot, das mit den beiden vorangehenden Ermahnungen einhergeht: wenn du aufgerufen bist, zwischen deinem Feind und jemand anderen zu zu urteilen, beuge nicht das Recht gegen deinen Feind, weil er dein Feind ist. Die drei Verse dieser Gruppe beinhalten drei Synonyme: „dein Feind“, „deinen Hasser“, „deinen Gegner“, so wie die drei Verse 17 bis 19 in Kapitel 22 drei Synonyme für die Todesstrafe enthalten.

Shadal suchte einen allgemeinen psychologischen Liebe-Hass Faktor, um die Vorschriften der Verse 1 bis 6 zu verbinden. Aber seiner Erklärung mangelt es an Plausibilität. Liebe ist nicht notwendigerweise der Faktor, der einen dazu bringt, durch falsches Zeugnis einen Frevler zu begünstigen und der Mehrheit in einer ungerechten Sache zu folgen. Es kann auch leicht Haß für die Gegenpartei sein.
Gegen Cassutos Erklärung des Wortes „evjon“ mag es einen Einwand geben. Hier kommt dieses Wort nicht zum einzigen Mal vor, und wo immer es verwendet wird, ist es ein Synonym für „oni“ – „arm“. In Vers 11 wird es, wie Cassuto selbst einräumt, in diesem Sinn benutzt. Seine ungewöhnliche Erklärung des Wortes „evjon“ ist hier vom Wunsch getragen, eine assoziative Verbindung zum vorhergehenden Vers zu finden. Aber das Problem der Folge des Verses bleibt bestehen.
Versuchen wir nun die Verse zu verstehen, wie sie erscheinen, ohne Rücksicht auf eine Verbindung zwischen den unmittelbar vorhergehenden und folgenden Passagen. Wer ist der „Feind“ („ojev“) und der „Hasser“ („soné“)?
Rambam stellt folgende Frage:

Wie ist es annehmbar, das ein Jude einen anderen für einen Feind hält, wenn es in der Tora heißt: „Du sollst deinen Bruder nicht hassen in deinem Herzen“ (Lev. 19,17)
Code Rozeach 13)

Unsere Weisen postulierten eine Situation, in der es verboten ist, zu hassen:

R. Eliezer stellt fest: Die Verse handeln von einem Proselyten, der in die Götzenverehrung zurückfällt. R. Isaak stellt fest: Die Verse beziehen sich auf einen jüdischen Sünder.
(Mechilta)

Rambam, der sich selbst auf die Grundlage der Ansicht R. Nachman ben Isaaks (Pesachim 113b) stellt, bietet folgende Erklärung an:

Wenn er zum Beispiel allein sah, wie er eine Sünde begeht, und ihn warnte, aber er ließ nicht ab. In einem solchen Fall ist es seine Pflicht, ihn zu hassen, bis er bereut und von seiner Bosheit umkehrt. Aber, wenn er noch nicht bereut hat und wir finden ihn unter einer Belastung, dann haben wir die Pflicht, ihm beizustehen und ihn nicht in Todesgefahr zu lassen. Vielleicht verspätet er sich auf der Reise wegen seines Eigentumes und wird in Gefahr gebracht, die Tora hält jüdisches Leben hoch, gleich, ob es einem Bösen oder Gerechten gehört. …

Zusätzlich zu den Kommentatoren, die „dein Feind“ als jemanden erklären, der ein legitimes Objekt des Hasses ist, finden wir auch eine andere, einfachere Erklärung:

R. Nathan sagte: Was bedeutet „dein Feind“? Es bezieht sich auf eine Situation, in der jemand dein Feind wird, zeitweilig, weil er deinen Sohn schlug oder einen Streit mit dir begann.
(Mechilta)

Raschbam meint dasselbe, wenn er mit seiner gewohnten Kürze schreibt: „Der Text beschreibt Realität.“
Malbim stellt fest, der Vers behandelt jemanden, der dein Feind ist, auch wenn du kein moralisches Recht hast, ihn zu hassen. Du hast es nicht geschafft, deine bösen Instinkte zu beherrschen, und so geschieht es, daß dieser Mann dein Feind wurde. Die Tora tritt hier nicht für eine Idealwelt ein, in der die Menschen einander nicht hassen, sondern zieht die grimmige Wirklichkeit in Betracht, daß die Menschen die gewünschte Beobachtung von „Du sollst deinen Bruder nicht hassen in deinem Herzen“ nicht erreichen. Die Tora gibt uns sogar für so eine zugegeben unmoralische Situation, in der zwei Menschen einander feindselige gegenüber stehen, Verhaltensmaßregeln und schärft uns solche Hilfeleistungen wie die Erleichterung des Esels eines Feindes von seiner Last oder die Rückgabe verlorenen Eigentums ein. Diese kleinen Taten des guten Willens würden, so wird gehofft, zur Entfernung des Hasses führen, in Übereinstimmung mit der Forderung der Schrift.

Vers 5 bietet Schwierigkeiten syntaktischer und semantischer Natur. Das syntaktische Problem: wo endet der Konditionalsatz „so du siehst“ und wo beginnt der Hauptsatz? Das zweite Problem besteht drin, die Konnotation der Wurzel „a’z’v“, die hier drei Mal vorkommt, zu erkennen. Wenn die Konnotation durchgehend beibehalten wird, wie kann der Text diesselbe Handlung im selben Satz bestätigen und verneinen?

Raschi gibt folgenden Kommentar:

„Ki“ hat hier die Kraft von „vielleicht“, eine der vier Konnotationen von „ki“. Der Vers lautet daher: „Vielleicht siehst du den Esel deines Hassers erliegend unter seiner Last“.
„Und wolltest du es unterlassen“ ist als Frage zu lesen. „Azov ta’azov imo“: ein Ausdruck der Hilfe wie in Deut. 32, 36 oder Nehemia 3,8. Sie befestigten Jerusalem bis zur Mauer des Platzes. Das heißt, sie füllten Erde auf und halfen, die Mauer zu befestigen. Ähnlich Deut. 7, 17: „Wenn du sprechen solltest in deinem Herzen: Zu Zahlreich sind mir diese Völker“, würdest du so sagen? „Fürchte sie nicht.“

Was veranlasste Raschi, den ersten Teil des Verses zu lesen, als ob eine hypothetische Frage gestellt würde? Warum las er ihn nicht wie die „ki“-Sätze aller anderen Vorschriften (ki tikne; ki yinazu anaschim „wenn zwei Männer streiten“ und im Vers: ki tifga …)? Denn seiner Ansicht nach beginnt der Hauptsatz nicht mit „vechadalta“ („und du wolltest unterlassen“), sondern mit „azov“ („mache es ihm leichter“). „Chadalta“ ist eine „Beiordnung“ des Eröffnungssatzes“. Er kann es daher nicht als einfaches Eröffnungsstatement lesen, sondern als Frage. Sonst käme es zu einem inneren Widerspruch. Dieser Punkt wird von Raschis Kommentator Wolf Heidenheim in „Havanat Hamikra“ erkannt:

Die Lesart: „So du siehst den Esel deines Hassers, erliegend unter seiner Last, und du wolltest unterlassen, es ihm leichter zu machen: mache es ihm leichter mit ihm“ macht keinen Sinn. Wenn du von einer Hilfe Abstand genommen hast, wie kannst du ihm helfen? Raschi erklärt „ki“ daher im Sinn von „vielleicht“, was auch das zweite Verbum „vechadalta“ möglich macht: „solltest du ihn sehen und solltest du ihm nicht bestehen. Mach so etwas nicht. Gib ihm jede Hilfe!“

Dasselbe kann auch auf den Text, den wir zur Unterstützung aus Deuteronomium zitierten, angewandt werden. Auch hier macht die Lesart „Wenn du sprechen solltest in deinem Herzen: Zu Zahlreich sind mir diese Völker, fürchte sie nicht“ wenig Sinn. Auch diese Stelle muß als hypothetische Frage gelesen werden. Sollte es dir geschehen, daß du sie fürchtest, dann sage ich dir: Fürchte sie nicht.
Nach Raschis Meinung impliziert a’z’v „helfen“. In diesem Fall war sein Vorgänger Ibn Janah, der seine Konnotation auf die Verwendung in Nehemia 3, 34 basierte: „Wollen sie in einem Tage vollenden (ha-ja’azvu)?“ Siehe auch Vers 8: „Sie befestigten (va-ja’azvu) Jerusalem …“, wo es „stärken“, „wiedererrichten“ bedeutet. Er zitiert auch „ma’aziva“, das sich auf den Deckenmörtel bezieht, der normalerweise verwendet wird, um das Bauwerk zu stützen. Die Bedeutung wurde danach auf das Beladensein mit einer Bürde oder Last ausgeweitet. „Mache es ihm leichter mit ihm“ involviert die Idee des Stärkens und Bauens.
Einige Kommentatoren akzeptierten Raschis Teilung des Verses und stimmten mit ihm überein, der zweite Satz „und du wolltest unterlassen, es ihm leichter zu machen“ sei mit dem ersten koordiniert. Aber sie akzeptieren nicht seine semantische Interpretation, wir hätten hier ein verstecktes Fragezeichen. Die von Raschi als widersprüchlich disqualifizierte Lesart, „und du wolltest unterlassen, es ihm leichter zu machen: mache es ihm leichter mit ihm“, macht ihnen Sinn.
Hier ist das Argument Avraham ben Ha-rambam:

Mit anderen Worten: wenn Trauer oder Zorn dich veranlassen, ihm nicht zu helfen, gib diesen Gefühlen nicht nach, sondern hilf ihm trotzdem, seine Last erleichtern.

Benno Jacob wiederholt, obwohl nicht absichtlich, diese Erklärung:

Wenn du den Esel deines Hassers siehst, … und dein erster Gedanke ist, ihn zu ignorieren und ihm deine helfende Hand zu verweigern, so sagst du dir: Soll ich jemanden gut behandeln, der schlecht zu mir war? Die Tora ruft dich auf, dies nicht zu tun, sondern ihm zu helfen.

Aber die meisten Kommentatoren, alte und neue, verbinden den zweiten Satz „und du wolltest unterlassen, es ihm leichter zu machen“ mit dem Hauptsatz. Die Bedingung endet nach „Last“. Sie unterscheiden sich aber in ihrer Interpretation der Wurzel a’z’v‘. Einige stimmen Raschis und Ibn Janahs Ansicht zu, andere lehnen sie ab. Ibn Ezra nimmt sie an und liest den Vers folgendermassen:

Sieh davon ab, ihn allein zu lassen, sondern mache mit ihm die Knoten auf und lasse die Last, damit sie herunterfällt und der Esel aufstehen kann.

Ibn Ezra nimmt a’z’v‘ im üblichen Sinn von „verlassen“. Er weitet den grundlegenden Sinn aus, um die Idee von „erleichtern“ abzudecken, eine Interpretation, die von vielen Auslegern angenommen wird. Cassuto kehrt zu Raschis Wiedergabe von a’z’v‘ zurück, basiert sich aber auf einer vergleichenden semitischen Verwendung.
Aber syntaktisch folgt er Ibn Ezra:

„Du sollst aufhören, ihn zu verlassen (azov)“, das bedeutet, du sollst deinen Feind in seiner Verwirrung nicht verlassen. Im Gegenteil, du sollst „azov ta’azov“ mit ihm, du sollst, gemeinsam mit ihm die Last auf dem Rücken des Esels arrangieren. Zwischen diesen beiden Verben, die im Hebräischen identische Formen angenommen haben, gibt es ein Spiel, obwohl ihre Ableitungen und Bedeutungen unterschiedlich sind. Die Wurzel a’z’v‘ mit Original Sajin bedeutet „verlassen“. ‚A’z’v‘ mit einem Sajin, das von einem dalet stammt, bedeutet „ordnen“ und kommt von derselben Wurzel wie das Hauptwort „ma’aziva“ „Pflasterung“ oder das Zeitwort „wajja az“ („gepflastert“, „repariert“) in Nehemia 3,8, wo es dem südarabischen „dhb“ und dem ugaritischen „db“ entspricht. Möglicherweise wurden die beiden hebräischen Wörter verschieden ausgesprochen, und in der alten hebräischen Aussprache war die Bedeutung klar: „Verlasse nicht – „ta’azov“ im Gegensatz zu „arrangiere die Last“ – „ta’adhov“.

Viele Grundsätze moralischer Lebensführung können aus diesen Versen gelernt werden. Sein Benehmen uns gegenüber muß kein Maßstab für unser Benehmen ihm gegenüber sein. „Du sollst dich nicht rächen und nichts nachtragen“ stellt die Tora in Leviticus 19, 18 fest. In Sprüche 25, 21 finden wir: „Hungert dein Feind, so speise ihn mit Brot, und dürstet ihn, gib ihm Wasser zu trinken.“
Eine negative Vermeidung des Bösen ist nicht genug. Das positive Ausführen des Guten ist gefordert, dem Feind eine helfende Hand reichen. Die Targumim erläuterten den Geist des Textes auch wenn sie seine oberflächliche Lesart nicht reflektierten. Onkelos las: „Lasse alles, was in deinem Herzen gegen ihn ist“. Targum Jonathan: „Lasse in diesem Augenblick jeden Haß gegen ihn in deinem Herzen und hilf ihm, die Last zu erleichtern und zu laden.“
Die Tora beschränkt sich nicht auf die abstrakte moralische Unterlassungsverfügung von „Du sollst deinen Bruder nicht hassen in deinem Herzen“, sondern gibt in diesen beiden Versen eine praktische Anleitung, wie dies erreicht und der Haß aus dem Herzen verbannt werden kann. Die Rückgabe seines verlorenen Eigentums ist ein Schritt zur Versöhnung, führt aber nicht notwendigerweise zu einem näheren Kontakt. Der Gegenstand kann wortlos oder durch einen Dritten retourniert werden. Hilfe beim Beladen oder Entladen eines Tieres erfordert andererseits direkten persönlichen Kontakt und Zusammenarbeit. Der Midrasch zeichnet ein lebhaftes Bild einer solchen Situation:

„Du hast begründet, was recht“ (Psalm 99, 4). R. Alexandroni sagte: Zwei Eseltreiber, die einander hassten, reisten auf derselben Straße. Der Esel des einen fiel nieder. Der andere sah es , ging jedoch vorbei. Nachdem er vorbeigegangen war, sagte er: Es steht geschrieben „So du siehst den Esel deines Hassers, erliegend unter seiner Last, und du wolltest unterlassen, es ihm leichter zu machen: mache es ihm leichter mit ihm“. Er ging deshalb zurück und half ihm mit der Ladung. Der andere fing an, darüber nachzudenken und sagte: Es scheint, XY ist mein Freund, aber ich wußte es nicht. Sie gingen in ein Gasthaus an der Strasse, um etwas zu trinken. Was veranlasste sie dazu? Einer von ihnen schaute in die Tora. Das ist die Bedeutung von „Du hast begrüdet, was recht.“
(Tanhuma Yashan Mishpatim)

Es gibt einen weiteren beachtenswerten Punkt. Der Unterschied in der Formulierung der beiden Sätze „So du triffst auf den Ochsen deines Feindes“ und „So du siehst den Esel deines Hassers“ unterstreicht einen anderen Aspekt dieser moralischen Verfügungen. Im Fall des verlorenen Eigentums geht die Tora nicht weiter als bis zur Forderung, es zurück zu geben, wenn wir es leicht tun können. Wir sind nicht angehalten, ihm nachzulaufen. Im Fall des unter seiner Last leidenden Esels aber, wird uns befohlen, dem Eigentümer zu Hilfe zu kommen, auch wenn wir die Situation nur von der Ferne sehen. Wir müssen unsere eigenen Angelegenheiten liegen lassen, und ihm zu Hilfe kommen, da hier das Leiden eines Tieres hinzukommt. In den Psalmen heißt es „Seine Gnade auf allen seinen Geschöpfen“, und der Ewige kümmert sich, daß wir unserem Nächsten helfen und das Leiden des Tieres lindern.
Wie wird uns im Falle eines Interessenskonfliktes, sei es zwischen Feind und Freund, zwischen Mensch und Tier, vorgeschrieben, zu handeln? Vergleichen wir zwei Verse zu demselben Thema.
Im Abschnitt haben wir:

So du siehst den Esel deines Hassers, erliegend unter seiner Last, und du wolltest unterlassen, es ihm leichter zu machen: mache es ihm leichter mit ihm.

Später (Deut 22, 4) finden wir:

Du darfst nicht sehen den Esel deines Bruders oder seinen Ochsen hinfallend auf dem Wege und dich ihnen entziehen; ihn aufrichten sollst du mit ihm.

Unsere Weisen kommentierten:

„Mache es ihm leichter mit ihm“ bezieht sich auf die Pflicht, die Last eines Tieres zu erleichtern. Ferner heißt es „ihn aufrichten sollst du mit ihm“. Dies bezieht sich auf die Pflicht des Beladens.
(Mechilta

Die rabbinische Tradition sagt uns, daß dort, wo zwei Fälle, die uns zur Hilfe aufrufen, involviert sind, das Entladen vor dem Beladen Priorität hat. Der Grund ist offensichtlich: die Last erleichtern bedeutet das Leiden des Tieres lindern. Aber die Gemara zitiert eine andere Situation, die ein wichtiges Prinzip unterstreicht:

Freund erfordert Entladen, Feind Beladen – unsere erste Pflicht ist es, dem Feind beizustehen, um unsere Instinkte zu disziplinieren.
(Baba Mezia 32b)

Mit anderen Worten: die Pflicht, das Leiden eines Tieres zu lindern muß der wichtigeren Verpflichtung der moralischen Verbesserung, des Brechens der schlechten Neigungen weichen. Es gibt daher eine Reihenfolge in der Erfüllung unserer moralischen Pflichten. Wir haben nicht die Freiheit, unsere eigenen Regeln oder unsere eigene Werteskala aufzustellen. Wir dürfen nicht wie jene handeln, die der Prophet (Hosea 13, 2) verdammte: „Es küssen die Menschen die Kälber“, wie jene, die ihre Anteilnahme am Leiden der Tiere bekunden, aber das Leiden der Menschen ignorieren.
Doch sogar Altruismus hat seine Grenzen. Die Tora definiert sie sorgfältig, um der Ausbeutung des menschlichen guten Willens keinen Raum zu lassen.
Hier ist Rambam zu den talmudischen Vorschriften dieses Themas:

Wenn er das Tier seines Nächsten am Boden unter seiner Last liegend vorfindet, ist es seine Pflicht, ihm zu helfen und es neu zu beladen, auch wenn der Eigentümer abwesend ist, da es heißt: ihn aufrichten sollst du mit ihm. Warum fügte die Tora hier „mit ihm“ hinzu? Davon lernen wir: wenn der Eigentümer des Tieres ursprünglich anwesend war, aber dann wegging und sich niedersetzte und su dem, der ihn traf, sagte: „Da die moralische Pflicht dir obliegt, wenn du ihn entladen willst, entlade ihn!“ In einem solchen Fall ist er von seiner Pflicht befreit, da es heißt „mit ihm“.

Die Tora kümmert sich nicht nur um den Schutz desjenigen, der Hilfe braucht, sondern auch um den, der zur Hilfe aufgerufen ist. Sonst leiden beide. Der eine wird sich daran gewöhnen, sich auf andere zu verlassen und sein Privileg ausnützen. Der andere wird sein Herz verhärten, um sich gegen unangebrachte Hilferufe zu verteidigen und schließlich jede Hilfestellung verweigern.

Haftara zu Mischpatim: Jeremias 34,8-22 und 33, 25 und 26