Sidrath MiKeZ: Wir sind wahrlich schuldig

Paraschat HaSchawua, der wöchentliche Toraabschnitt, kommentiert von Nechama Leibowitz

Auf Bitten ihres Vaters gingen Joesphs Brueder nach Aegypten, um Getreide zu kaufen. Lesen wir zuerst sechs Anfangsverse des 42. Kapitels:

…“Da sprach Jakob zu seinen Soehnen: Was seht ihr einander an?
Da zogen hinab zehn Brueder Josephs, Getreidevorrat zu kaufen aus Mitzrajim. Aber den Benjamin, den Bruder Josephs, schickte Jakob nicht mit seinen Bruedern. So kamen die Soehne Israels Nahrung zu kaufen unter den Ankommenden. Und es kamen die Brueder Josephs und beugten sich vor ihm, das Antlitz zur Erde“…

Wir wollen festhalten, dass das identische Subjekt in jedem hier zitierten Vers (die zehn Brueder) mit verschiedenen Beiwoertern belegt wird: „Die Soehne Jakobs“, „die Brueder Josephs“, „die Soehne Israels“. Unsere Kommentatoren bemerkten die Bedeutung dieser Variationen. Jakob spricht zuerst seine Soehne an, schickt sie nach Aegypten, aber sobald wir das Thema Aegypten erreichen, bereitet uns die biblische Erzaehlung auf das Zusammentreffen mit Joseph vor. Raschi erklaert uns dies folgendermassen:

„Die Brueder Josephs“: Es heisst nicht: „die Soehne Jakobs“, auf die Tatsache anspielend, dass sie es bereuten, ihn gestohlen zu haben und es unternahmen, sich ihm als Brueder zu naehern.

Benjamin wurde nicht mit „seinen Bruedern“ geschickt (nicht mit den „Soehnen Jakobs“). Obwohl sie seine Brueder waren, macht sich Jakob abermals der Bevorzugung und Diskriminierung unter den Bruedern schuldig. Der ganze Stamm kommt nach Aegypten und, so weit es die Aegypter betrifft, waren in der Gruppe, die aus dem Land Kanaan ankam, weder Josephs Brueder noch die Soehne Jakobs, sondern einfach „die Soehne Israels“. Als sie vor dem aegyptischen Prinzen standen, der – wie es die Vorsehung wollte – auch ihr lange verlorener Bruder war, wurde die dramatische Ironie des Beiwortes „Josephs Brueder“ offensichtlich als sie sich vor ihm verbeugten und so den Traum erfuellten. Joseph jedoch enthuellt ihnen nicht sofort seine wahre Identitaet, sondern spricht streng mit ihnen. Viele Gruende wurden fuer dieses Verhalten angegeben.

Ramban erklaert ziemlich ueberzeugend, dass all das Leiden, das er ihnen von diesem Augenblick an auferlegt, ihrem Vorteil dient und zwar im Sinn des folgenden Satzes aus Vers 119: „Ich erkannte, deine Beschluesse sind recht, zu Recht auch hast du mich niedergebeugt.“ Dies beinhaltet, das Ziel all dessen war es, sie zu laeutern und zu „versuchen“. Bald werden wir dies besser verstehen.

Drei Mal kommen die Schuldgefuehle und das schlechte Gewissen der Brueder wegen ihres falschen Verhaltens mit ihren Worten an die Oberflaeche. Zum ersten Mal waehrend ihres Gespraeches, nachdem sie Joseph aus dem Gefaengnis befreit hat, in dem sie drei Tage lang bleiben mussten.

Da sprachen sie einer zum anderen: Fuerwahr wir buessen um unsern Bruder, dessen Seelenangst wir sahen, indem er zu uns flehte, und wir hoerten nicht; darum kommt ueber uns diese Not. (42,21)

Ramban war der erste, der bemerkt, wie wir die Information ueber Josephs Flehen zu seinen Bruedern um Gnade erhalten: Indirekt, durch die reuevollen Erinnerungen der Brueder, und weniger im chronologischen Zusammenhabg, als Joseph vor seinen Bruedern in der Grube sass. Bis jetzt wurde nicht erwaehnt, dass Joseph um Gnade flehte.
Hier ein Kommentar von Meir Weiss in einem Artikel ueber die Erzaehlkunst der Bibel. Er beschreibt die „Rueckblenden“, fuer die die von uns zitierte Passage ein Beispiel darstellt:
Die Erinnerung an das lang begrabene Ereignis hier, zu diesem Zeitpunkt, zeigt das Erwachen des Gewissens der Brueder. Josephs herzerweichendes Flehen um Gnade, das sie am Rande der Grube nicht hoeren wollten, steigt nun aus ihren eigenen Herzen empor. Dies zeigt, dass hinter der Erwaehnung dieses Details gerade jetzt, eine Absicht verborgen ist. Die Absicht ist, zu enthuellen, was sich im Gewissen der Brueder abspielt, im Moment, als sie ihre Reue zeigen.

Erst jetzt erinnern sich die Brueder voller Schmerzen:
…dessen Seelenangst wir sahen, indem er zu uns flehte, und wir hoerten nicht; darum kommt ueber uns diese Not.

Unsere Kommentatoren diskutierten lang und breit, warum diese Gefuehle der Schuld und Reue erst erwachten, nachdem die Brueder drei Tage im Gefaengnis gelitten hatten und die aegyptische Regierung nachgegeben und zugestimmt hatte, sie nach Hause zu schicken und nur einen von ihnen zurueckbehielt? Warum erinnerten sie sich nicht waehrend der drei langen Tage im Gefaengnis, als sie voller Angst einem ungewissen Schicksal entgegensahen? Sicherlich ist ein solcher Aufenthalt dazu angetan, Reuegefuehle zu erwecken.
Unter diesem Gesichtspunkt versorgt uns der Akedat Jitzchak (15. Jahrhundert) mit einer erhellenden Erklaerung. Dieser Kommentar schlaegt folgendes vor: Erst als sie mit der Aussicht konfrontiert wurden, um einen weniger nach Hause zum Vater zurueckzukehren, erinnerten sie sich an Joseph:
Unsern Bruder, dessen Seelenangst wir sahen.

Sie reflektieren ihre Suende und die Bestrafung dafuer:
Darum kommt ueber uns diese Not.

Bei einem zweiten Anlass fuehlen sie diese Vergeltung und Schuld sogar noch intensiver, und zwar in der Herberge:

Und er sprach zu seinen Bruedern: Zurueckgegeben ist mein Geld, und siehe, es ist gar in meinem Sacke. Da entfiel ihnen das Herz und sie sprachen zitternd einer zum andern: Was hat uns da Gott getan!

Es gibt Kommentatoren, darunter Raschi, die argumentieren, der letzte Ausruf der Brueder sei kein Eingestaendnis ihrer Schuld, sondern der Ausdruck ihrer Gefuehle in dieser Situation. Der Einwand zu dieser Erklaerung, den wir in „Haketav Wehakaballa“ finden, scheint annehmbarer:

Raschi kommentiert die Worte „Was hat uns da Gott getan!“ als – „uns falsch zu beschuldigen; denn das Geld wurde uns nur zurueckgegeben, um uns zu inkriminieren.“ Dies wuerde uns die Brueder zeigen, wie sie Gottes Gerechtigkeit in Frage stellen. Ueberraschend! Hatten sie so schnell ihr Bekenntnis „Wir sind wahrlich schuldig“ vergessen?
Es scheint mir, dass wir den Satz teilen muessen, wie es von der Kantillation angegeben wird. Das „Tevir“ unter „sot“ zeigt eine Pause an. Wir lesen: „Was ist es?“ Hier registrieren sie enfach ihr Erstaunen ueber die Entdeckung des Geldes und ihre Besorgnis, provoziert zu sein. Aber sofort fuehlen sie, dass es sich um keinen Zufall, sondern um eine Intervention der goettlichen Gerechtigkeit handelt, die es ihnen Mass fuer Mass zurueckzahlt. So wie sie zuvor ihr Schicksal mit „wir sind wahrlich schuldig“ akzeptiert hatten, fuehlen sie jetzt, dass sie gerecht bestraft wurden, als sie der Spionage verdaechtigt und ins Gefaengnis geworfen wurden, so wie sie Joseph in die Grube geworfen hatten. Schim’on, der beim Verkauf Josephs die Hauptrolle gespielt hatte, blieb im Gefaengnis. Nun wurde das Geld in Levis Tasche gefunden. Auch er war am Verkauf prominent beteiligt. Sie erkannten, dass dies goettliche Vergeltung war und akzeptierten es: „Die hat uns Gott getan!“ Das ist kein Zufall, sondern das Wirken von Gottes Gerechtigkeit.

Ob wir das Teilen des Satz in einen Ausruf und eine Feststellung akzeptieren oder nicht, muessen wir zustimmen, der Ausruf der Brueder ist am glaubhaftesten als Ausdruck ihrer Schuld zu erklaeren.
Hier bemerken wir den grossen Fortschritt, den sie in ihrer Erkenntnis der Suende im Vergleich zur ersten Gelegenheit erreichten. Auch damals erkannten sie den Zusammenhang zwischen ihrem Verhalten gegenueber Joseph in der Vergangenheit und ihrem Leiden in der Gegenwart. Aber der Ursprung dieser Vergeltung, wer diese beiden Ereignisse miteinander verband, blieb ihnen noch verborgen. Dann in der Herberge „entfiel ihnen das Herz“, der Ursprung war erkannt:

Was hat uns da Gott getan?

Eine noch staerkere Erkenntnis ihrer Schuld und ein tieferes Gefuehl der Reue ueberkommt sie beim dritten Anlass, wenn der Becher gefunden wird. Hier Judahs Worte:

Und Judah sprach: Was sollen wir sagen meinem Herrn, was sollen wir reden und wie uns rechtfertigen? Gott hat gefunden die Schuld deiner Knechte; wir sind Sklaven meines Herrn, so wir, so der, in dessen Hand der Becher gefunden worden. (44,16)

Judah wusste sicherlich, dass sie den Becher nicht gestohlen hatten, weder sie noch derjenige, bei dem er gefunden wurde. Er war sich bewusst, dass sie falsch beschuldigt wurden, aber er rechtfertigte sich nicht, obwohl die aegyptische Regierung dies so verstanden wissen wollte. Aber er bekennt die Schuld, nicht diejenige, die der Aegypter „gefunden“ hatte, sondern: „Gott hat gefunden die Schuld deiner Knechte.“
Aus diesem Grund nahmen er und seine Brueder jede Strafe und jedes Schicksal an, da sie erkannten, dass sie es verdienten. Der folgende Midrasch bezieht sich auf diese Ambivalenz in Jehudas Worten:

„Was sollen wir sagen meinem Herrn?“ bezieht sich auf das erste Geld (in Benjamins Tasche), „Was sollen wir reden“ auf das zweite Geld (auch in Benjamins Tasche), „und wie uns rechtfertigen?“ auf den Becher.
„Was sollen wir sagen meinem Herrn?“ bezieht sich auf den Zwischenfall mit Tamar, „Was sollen wir reden“ auf die Tat Reubens (siehe Genesis 35,22), „und wie uns rechtfertigen“ auf die Tat Schechems (Genesis 34).
„Was sollen wir sagen meinem Herrn?“ – Was sollen wir unserem Vater Jakob in Kanaan ueber Joseph sagen? „Was sollen wir reden“ bezieht sich auf Schim’on, „und wie uns rechtfertigen“ auf Benjamin. (Midrasch Rabbah)

Der Midrasch sieht drei Moeglichkeiten, die Worte „mein Herr“ („Adoni“) zu erklaeren:

1. In Bezug auf den aegyptischen Beamten, der vor ihnen steht.
2. In Bezug auf Gott, der ihre Schuld kennt.
3. In Bezug auf ihren betagten Vater in Kanaan, gegen den sie suendigten.

Der Midrasch enthuellt uns die neun verschiedenen Suenden, die im Text vorkommen, und zeigt uns somit, dass die Brueder nicht nur eine Suende buessten, sondern dass sie als wahre „Ba’alei Teschuwa“ (Buesser) jede Stufe ihrer Schuld sehen. Dieser Gedanke wird im Psalm 51 ausgedrueckt:

Immer steht mir vor Augen die Suende.

Nachdem die Brueder diese Stufe der Reue und des Gefuehls fuer die Suende erreicht hatten, ist es Joseph moeglich, ihnen seine Identitaet zu enthuellen.

Haftara zu Miketz: I Koenige III, 15 – IV,1