Paraschat HaSchawua – Der wöchentliche Toraabschnitt, Kommentiert von Nechama Leibowitz
Und der Ewige redete zu Moscheh in den Steppen Moab am Jordan von Jericho und sprach: „So ihr hinüberziehet über den Jordan ins Land Kanaan, so sollt ihr austreiben alle Bewohner des Landes vor euch, und sollt vernichten all ihre Bildsäulen, und all ihre Bilder von Gusswerk sollt ihr vernichten, und all ihre Höhen sollt ihr zerstören. Und ihr sollt austreiben die Bewohner des Landes und sollt darin wohnen, denn euch habe ich das Land gegeben, es zu besitzen“… (33, 50-53)…
Diese Passage, die mit den Worten: „So ihr hinüberziehet über den Jordan“… beginnt, gehört zu einer Kategorie von biblischen Feststellungen, die ziemlich häufig anderswo auftauchen, vor allem im Buch Deuteronomium. Sie sind alle damit gekennzeichnet, dass sie die Vorschrift davon abhängig machen, dass die Kinder Israels das Heilige Land bewohnen.
Daher haben wir: „Wenn du kommst in das Land, das der Ewige, dein Gott, dir gibt…“ (Deut. 17, 14; 26, 1) „Und es wird geschehen, wenn dich der Ewige, dein Gott, bringt in das Land, wohin du gehest, es einzunehmen“ (ebda 11, 29). In Leviticus 19, 23 finden wir: „Und so ihr in das Land kommet…“
In solchen Fällen ist es nicht immer klar, wo der Konditionalsatz „Wenn du kommst“ endet und der Hauptsatz, der das Gebot, in das Land zu gehen, fortsetzt, beginnt. Der Grund dafür ist eine grammatikalische Zweideutigkeit, die der hebräischen Sprache eigen ist: die Benutzung des „vav“ bei der Verbindung von zwei Sätzen. Es kann einfach die Fortsetzung des Konditionalsatzes anzeigen: „Wenn dies und das geschieht, dann …“ oder den Beginn des Haupt- oder Ausführungssatzes: „Wenn dies geschieht, dann beobachte dieses oder jenes Gebot.“ In unserem Zusammenhang wird es nach einem näheren Studium klar, dass der Konditionalsatz mit Vers 51 endet (mit den Worten „ins Land Kanaan“). Das Gebot, welches die Israeliten danach einhalten sollen beginnt mit dem Satz „so sollt ihr austreiben alle Bewohner des Landes vor euch.“
In den Versen, mit denen wir das Kapitel einführten, kommt zweimal die Phrase „ve-horaschtem“ – „und ihr sollt austreiben“ vor. Oberflächlich gesehen scheint es, dass Vers 53 nur eine Wiederholung von Vers 52 darstellt. Aber wie einige Kommentatoren darlegten, ist dies nicht der Fall. In 52 heißt es: „so sollt ihr austreiben alle Bewohner des Landes vor euch“. In 53 lesen wir jedoch: „Und ihr sollt austreiben die Bewohner des Landes und sollt darin wohnen, …, es zu besitzen.“ Raschi nimmt das zweite „ve-horaschtem“, um eher eine Bedingung für die folgende Besiedlung zu geben als ein Gebot:
„Es zu besitzen“ – nehmt es von den Bewohnern in Besitz, dann „sollt ihr darin wohnen“ – dort in Sicherheit leben. Sonst werdet ihr dort nicht leben können.
Die beiden Verse duplizieren einander nicht, indem sie das Gebot wiederholen, das Land zu erben oder zu erobern, indem die Bewohner vertrieben werden. Der zweite Vers setzt die Warnung hinzu: wenn die Israeliten die Bewohner zuerst nicht vertreiben, wird es ihnen niemals gelingen, im Land in Sicherheit zu leben.
Nachmanides interpretiert diese Verse anders:
Meiner Meinung nach handelt es sich um ein positives Gebot der Torah, in dem Er uns gebietet, im Land zu wohnen und es zu erben. Er gab es ihnen, und sie sollten das Erbe des Ewigen nicht zurückweisen! Wäre es ihnen eingefallen, zum Beispiel das Land Schinar (Babylon) oder Assyrien oder irgend ein anderes Land zu erobern, dann hätten sie ein Gebot des Ewigen übertreten.
„Ve-horaschtem“ impliziert daher nicht „Vertreibung, Enteignung“ der armen Einwohner, wie es Raschi erklärt, sondern eher das „Erben“ väterlichen Erbgutes. Die Betonung liegt nicht auf dem Sicherheitsproblem, sondern auf der Übernahme des göttlichen Erbes: „Er gab es ihnen, und sie sollten das Erbe des Ewigen nicht zurückweisen.“
So wie ein Jude nicht die moralische Freiheit besitzt, mit seinem Leben zu tun, was ihm gefällt, sondern die Pflicht hat, es zu bewahren, so kann er nicht wohnen, wo immer er will. Der Ort, an dem er seine Gottesgabe, sein Leben, verbringen soll, ist ihm vorgeschrieben. Sollte ein Jude imperialistische Wünsche hegen und erobern, sagen wir „Schinar“ oder „Assyrien“, und nicht das Gelobte Land, welches seinem Volk bestimmt ist, dann verletzt er Gottes Willen.
Nachmanides skizziert die Pflicht der Besiedlung des Landes Israel lang und breit in seiner Kritik an Maimonides‘ „Sefer haMizvvoth“ (Buch der Vorschriften), in der er sich mit den Punkten auseinandersetzt, in denen sich seine Methode, die 613 Gebote des Judentums zu zählen, von Maimonides unterscheidet. In diesem Fall tadelt er Maimonides, da dieser die Pflicht, Erez Israel zu bewohnen, nicht als eigenes Gebot betrachtete. Maimonides beschäftigt sich in großen Teilen seines Werkes mit der obersten und unentbehrlichen Wichtigkeit von Eretz Israel, spezifiert aber dessen Bewohnung nicht als eines der 613 Gebote der Torah.
Aber hier sind Nachmanides (RaMBaN) Worte:
In der Torah wird uns geboten, das Land, welches der Ewige, gepriesen sei Er, unseren Vätern Abraham, Isaak und Jakob versprach, in Besitz zu nehmen, es nicht in der Hand anderer zu belassen oder zu erlauben, dass es verödet, wie es heißt: „Ihr sollt das Land in Besitz nehmen und darin wohnen, denn euch habe ich das Land gegeben, und ihr sollt es besitzen, wie ich es euren Vätern versprochen habe.“
Die genauen Grenzen des Gebietes, das von der religiösen Pflicht betroffen ist, werden in der Torah (Deut. 1, 7) skizziert. Ein Beweis, dass es sich um eine spezielle Mitzwah handelt, kann vom Gebot des Ewigen an die Kundschafter abgeleitet werden: „Zieh hin, nimm es ein, wie der Ewige, der Gott deiner Väter, dir zugesagt. Sei nicht furchtsam, sei nicht bang.“ (Ebda 1, 21) Und als sie es ablehnten, hinauf zu ziehen, heißt es: „und waret widerspenstig gegen den Befehl des Ewigen …“. Dies zeigt, dass wir es mit einer spezifischen Vorschrift zu tun haben und nicht nur mit einem Versprechen.
Meiner Meinung nach stammen die übertriebenen Darstellungen unserer Weisen bezüglich der Größe der Mitzwah, im Heiligen Land zu wohnen, von ihrer Sorge, diese explizite Vorschrift der Torah auszuführen. Sie stellten zum Beispiel fest, dass in den Augen desjenigen, der in Eretz Israel lebt, die Diaspora als Ort der Götzenverehrung gesehen wird, denn es heißt: „Denn sie haben mich jetzt vertrieben, dass ich nicht Anteil haben soll am Erbe des Ewigen, indem sie erklären: ‚Mache dich fort, diene anderen Göttern.'“ (I. Samuel 26,19)
Die Mitzwah gilt für alle Zeiten, sogar während des Exils, wie es an vielen Stellen im Talmud bezeugt wird. Zum Beispiel: „Es geschah, dass R. Judah ben Batira und R. Matya ben Harasch und R. Chanina, der Neffe von R. Josua und R. Jochanan eine Reise in die Diaspora unternahmen. Als sie nach Palatium kamen (einem Ort ausserhalb von Eretz Israel) erinnerten sie sich an Eretz Israel und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie zerrissen ihre Gewänder und wandten auf sich selbst folgenden Vers an: Ihr sollt es besitzen und darin wohnen. Daher kehrten sie um und gingen nach Haue. Sie sagten: In Eretz Israel zu wohnen hat das gleiche Gewicht wie alle anderen Mitzwot der Torah.“
Wir mögen die Kraft dieser rabbinischen Feststellung und alle anderen Gerfühle schätzen, wenn wir im Auge behalten, dass es außer in Eretz Israel keine vollständige Einhaltung der Gebote – in allen Lebensbereichen – geben kann. Daher betrachtete König David seine Vertreibung aus dem Heiligen Land durch Saul wie eine Aufforderung zum Götzendienst:
Zu jeder Zeit sollte man in Eretz Israel leben, sogar wenn es eine Stadt voller Heiden ist. Lasst niemanden außerhalb des Landes wohnen, auch wenn es eine Stadt ist, die mehrheitlich von Juden bewohnt wird. Denn wer in Eretz Israel lebt, ist, als habe er einen Gott, und wer außerhalb von Eretz Israel wohnt, hat keinen Gott, wie es in Lev. 25, 38 heißt: „… euch das Land zu geben, um euer Gott zu sein.“ Willst du damit sagen, dass derjenige, der nicht in Eretz Israel wohnt, keinen Gott hat?!
Die Bedeutung ist: Leben außerhalb von Eretz Israel ist, als ob er Götzen verehre. Auch David sagte das so: „Denn sie haben mich jetzt vertrieben, dass ich nicht Anteil haben soll am Erbe des Ewigen (an Eretz Israel, von wo er vor dem Zorn Sauls floh), indem sie erklären: ‚Mache dich fort, diene anderen Göttern.'“ (I.Sam. 26,19). Aber wer hat David gesagt, er solle gehen und anderen Göttern dienen? Aber das lehrt, dass, wer immer außerhalb von Eretz Israel lebt, wird betrachtet, als diene der Götzen.
(Ketubot 110b)
Mit anderen Worten, die Torah kann nur in einer von ihren Vorschriften beherrschten Gesellschaft vollständig eingehalten werden, nicht in einem fremden Rahmen, der von anderen Idealen regiert wird. Zugegeben, es gibt persönliche religiöse Verpflichtungen, die überall eingehalten werden können, sogar von einem jüdischen Robinson Crusoe auf einer einsamen Insel, aber die Torah als Gesamtheit verkörpert eine soziale Ordnung, ein judizielles, nationales, wirtschaftliches und politisches Leben. Das kann nur im Heiligen Land erreicht werden und nicht außerhalb.
Die Vorschrift, die uns befiehlt, Eretz Israel zu erobern und zu unserem ständigen Wohnsitz zu machen: „Ihr sollt das Land besitzen und darin wohnen“, hat einen guten Grund:
Denn euch habe ich das Land gegeben, es zu besitzen.
(33, 53)
Diese Annahme verwendet Raschi in seinem berühten ersten Kommentar zum Pentateuch, wo er erklärt, warum alles mit der Schöpfungsgeschichte beginnt:
Wenn die Völker der Erde sagen: Sie sind Räuber und besetzen das Land, das sieben Nationen gehört, erwidert Israel:
Die ganze Welt gehört dem Ewigen, gepriesen sei Er. Er schuf sie und gab sie, wem er wollte. Gemäß seinem Willen gab Er es ursprünglich ihnen (den sieben Nationen). Und gemäß seinem Willen nahm er es von ihnen und gab es uns.
Dies ist der einzige Grund für unseren Anspruch auf das Land. Der Ewige befahl uns, es in Besitz zu nehmen. Im ganzen Buch Genesis werden niemals die guten Eigenschaften des Landes erwähnt, dass es von Milch und Honig fließt. Im Gegenteil, es wird uns oft gesagt, dass eine Hungersnot im Land herrscht. Die Loyalität der Patriarchen wurde geprüft. Abraham kehrte in das Land zurück, nachdem er es wegen einer Hungersnot verlassen hatte. Isaak wurde es nicht erlaubt, es zu verlassen, sogar zu Zeiten des Hungers. Der Grund dafür ist einfach:
Denn dir und deinem Samen werde ich geben all diese Länder.
(Gen. 26, 3)
Der Ewige bestimmt die Grenzen der Nation. Er gab Israel seinen Platz in der Welt, ebenso wie den anderen Nationen:
Habe ich nicht Israel aus dem Lande Ägypten herausgeführt und die Philister aus Kaphtor und die Aramäer aus Kir?
(Amos, 9, 7)
Was ist dann der Unterschied zwischen der Beziehung Israels zu seiner Heimat und der anderen Nationen zu ihrer? Der Unterschied ist einfach der: Israel ist sich bewusst, dass dieses Land vom Ewigen zugesprochen wurde. Das ist nicht nur eine historische Angelegenheit, sondern Israel hat damit die moralische Verpflichtung, die Verantwortung, in diesem Land ein bestimmtes Leben zu führen. Nach Nachmanides wurde den Israeliten speziell aufgetragen, Eretz Israel in Besitz zu nehmen und dort zu leben, um seine religiöse Mission zu erfüllen.
Dies ist vielleicht die Erklärung der seltsamen Feststellung im Midrasch hinsichtlich der Worte des Ewigen zu Jakob. Er befiehlt dem Patriarchen, in seine Heimat zurück zu kehren, nachdem er zwanzig Jahre im Exil als Knecht in Labans Haus verbracht hatte:
„Kehre zurück in das Land deiner Väter und nach deinem Geburtsort, und ich werde mit dir sein.“ (Gen. 31, 3) – Dein Vater wartet auf dich, deine Mutter wartet auf dich – Und ich selbst warte auf dich.
(Bereshit Rabbah 77)
Auch Nachmanides betont, so wie es notwendig ist, das Land jenen Völkern zu entringen, die ihm mit ihren bösen Taten trotzten, und nicht von dort zu emigrieren, so ist es ebenso notwendig, das Land nicht veröden zu lassen.
Es nicht in der Hand anderer zu belassen oder zu erlauben, dass es verödet.
Die Aufgabe, die Wüste auf Gottes Erde zu erobern und zu zähmen wurde dem Menschen bereits im ersten Gebot aufgetragen: „Füllet die Erde und machet sie euch untertan“ (Gen. 1, 28).
Dazu Nachmanides:
Er verlieh dem Menschen die Herrschaft und die Regierung in dem Land zu handeln, wie er es wünsche… zu bauen, zu roden, zu pflanzen und Bergbau zu betreiben.
Das Bild ist jedoch nicht vollständig, wenn wir nicht die andere Seite erwähnen. So wie die früheren Bewohner des Landes wegen ihrer Missetaten vertrieben wurden, so wird „Gottes eigenes Land“ die Israeliten ausspeien, wenn sie es mit ihren Praktiken verunreinigen. Die Gabe des Landes ist nicht bedingungslos, sondern, wie es am Ende unseres Abschnittes heisst (35, 33-34): UND IHR SOLLT NICHT VERRUCHT MACHEN DAS LAND, WORIN IHR SEID, DENN DAS BLUT, DAS MACHT DAS LAND VERRUCHT, UND DEM LANDE WIRD KEINE SÜHNE FÜR DAS BLUT, DAS DARIN VERGOSSEN WORDEN, ES SEI DENN DURCH DAS BLUT DESSEN, DER ES VERGOSSEN. UND VERUNREINIGE NICHT DAS LAND, WORIN IHR WOHNET, IN DESSEN MITTE ICH THRONE; DENN ICH, DER EWIGE, THRONE INMITTEN DER KINDER ISRAEL.
Weiterführende Fragen
Wie sieht die syntaktische Struktur von Vers 53 gemäss der Interpretation Raschis und Nachmanides‘, die wir oben zitierten, aus?
Was veranlasste Raschi, am Ende diesen Kommentar hinzu zu fügen: „Sonst werdet ihr dort nicht leben können.“, obwohl es im Text keinen Hinweis für diese Feststellung gibt?
So werden die, die ihr verschonet von ihnen, zu Dornen in euren Augen, und zu Stacheln in euren Seiten.
(Num. 33, 35)
Zu dieser Phrase „So werden die, die ihr verschonet von ihnen“ fügt Raschi hinzu: „sie werden die Quelle des Schlechten“. Was veranlasste ihn dazu? Was fügen sie der Bedeutung des Textes hinzu?
Haftara zu Masei: Jeremia II, 4-28; III, 4; IV, 1-2