Sidrath Emor: Auge um Auge

Paraschat HaSchawua – Der wöchentliche Toraabschnitt, kommentiert von Nechama Leibowitz

Nur wenige Verse der Bibel wurden so oft und so auffällig von Juden und Nichtjuden missverstanden wie 24, 20, von dem unser Titel stammt. Dieses Missverständnis hat unseren Text in ein Symbol verwandelt: die Verkörperung der Rache auf der unreifsten und gröbsten Ebene.

Wer seine Opposition zu Vergebung, Zugeständnis und Wiedergutmachung ausdrücken will, um stattdessen auf seinem Pfund Fleisch und Vergeltung der brutalsten und schmerzhaftesten Art besteht, beruft sich auf „Auge umd Auge, Zahn um Zahn“, eine Formel, die Bilder von abgehackten Gliedmassen und ausgestochenen Augen heraufbeschwört. Sogar der mit der traditionellen rabbinischen Interpretation unseres Textes „Auge um Auge“ – finanzielle Kompensation – schliesst nicht aus, es sei bloss eine apologetische Erklärung, ein späteres Abschwächen alter Barbarei, eine Humanisierung der Strenge der Tora durch folgende Generationen.
Aber das ist nicht der Fall. Im Gegenteil. Unsere Weisen und Kommentatoren leiten viele verschiedene Beweise ab, die darauf hinweisen, der direkte Sinn des Textes könne kein anderer sein als finanzielle Kompensation. Wir werden einige dieser Beweise zitieren. Lesen wir aber zuerst diese Sätze im Kontext. Wir finden sie zweimal in den Schriften:

Und so Männer Streit haben, und einer schlägt den andern mit einem Stein oder mit der Faust, und er stirbt nicht, sondern fällt aufs Lager; Wenn er aufsteht und wandelt auf der Strasse an seiner Krücke, so ist der Schläger frei; nur soll er erlegen Versäumnis und lasse ihn heilen.
Uns so jemand seinen Knecht, oder seine Magd schlägt mit dem Stocke, und er stirbt unter seiner Hand, so werde es gerächt. Doch wenn er einen Tag oder zwei Tage am Leben bleibt, so soll es nicht gerächt werden; denn es ist sein Geld.
Und wenn Männer miteinander zanken und stossen ein schwangeres Weib, daß ihr die Kinder abgehen, aber es ist keine Lebensgefahr: so werde er am Gelde gebüsst, soviel ihm der Gatte des Weibes auferlegt, und er zahle durch die Richter.
Wenn aber Lebensgefahr ist, so gib Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuss um Fuss, Brandmal um Brandmal, Wunde um Wunde, Strieme um Strieme.
(Exodus 21, 18-25)

Das zweite Mal kommt der Text in unserer Sidra vor:

Und so jemand irgend einen Menschen erschlägt, sterbe er des Todes. Und wer ein Stück Vieh totschlägt, erstatte es, Stück um Stück. Und so jemand seinem Nächsten eine Verletzung beibringt – so wie er getan, so geschehe es ihm. Bruch um Bruch, Aug‘ um Auge, Zahn um Zahn, die Verletzung, so er einem Menschen beigebracht, so werde ihm beigebracht.
(24, 17-21)

Der Talmud leitete eine Menge Argumente ab, um zu beweisen, daß diese Verse auf finanzielle Kompensation für den Verletzten anspielen müssen.
Hier sind zwei davon:

R. Schimon b. Jochai stellte fest: „Auge um Auge“ – Geld. Du sagst Geld; aber vielleicht meint es wirklich ein Auge? In einem solchen Fall, wenn ein Blinder einen anderen blind macht, ein Krüppel einen anderen verstümmelt, wie kann ich dann ein Auge um ein Auge geben? Aber die Tora sagte (Lev. 24, 22): „Gleiches Recht sei bei euch“ – ein Recht, das für euch alle passt.

In der Schule Hezekiahs wurde gelehrt: „Auge um Auge, Leben um Leben“ und nicht Leben und Auge für Leben. Stellt euch vor, es ist wörtlich gemeint: dann könnte es manchmal geschehen, daß ein Auge und ein Leben um ein Auge genommen werden, denn durch den Vorgang des Blendens kann jemand sterben. (Baba Kamma 84a)

Diese beiden Argumente basieren auf der Formulierung des Textes und widerlegen die wörtliche Interpretation daß lex talionis nicht praktisch angewandt werden kann (Schimon b. Jochai) oder die Ausführung ist nicht vereinbar mit der Erhaltung irgendeiner Art Gleichwertigkeit zwischen Verbrechen und Strafe (die Schule Hezekiahs). Denn der Ausdruck „Auge um Auge“ weist auf alle Fälle auf eine gleichwertige Beziehung zwischen Tat und Kompensation hin. Saadia Gaon zog sich in seiner Polemik mit den Karäern auf diese Argumente zurück. Diese verstanden den Text wörtlich, als rufe er zum Abschneiden des passenden Körperteiles auf. Ibn Ezra bezieht sich in seinem Pentateuchkommentar zwei Mal auf diese Polemik – in Exodus und in unserem Abschnitt.
Studieren wir beide sorgfältig:

Saadia sagte, wir können diesen Text nicht wörtlich nehmen. Wenn zum Beispiel jemand seinen Nächsten durch einen Schlag um ein Drittel seiner normalen Sehkraft beraubt, wie kann der vergeltende Schlag so kalkuliert werden, damit dasselbe Resultat erreicht wird, nicht mehr, nicht weniger, nicht vollständig blind? So eine genaue Reproduktion ist im Fall einer Wunde oder Strieme sogar noch schwieriger, da an einer gefährlichen Stelle der Tod erfolgen kann. Diese Idee kann nicht toleriert werden. Ben Zuta (ein Karäer) erwiderte: Aber es steht geschrieben: „wie er einen Mann verstümmelte, so soll es ihm vergolten werden“ (hebräisch „bo“)! Der Gaon antwortete: Das Wort „bo“ (wörtlich „in ihm“) bedeutet „al“ („auf ihm“): so soll ihm Strafe auferlegt werden. Ben Zura erwiderte: „wie er getan, so soll ihm geschehen!“ Der Gaon sagte: Im Fall Samsons haben wir (Richter 15, 11) „Wie sie an mir getan, so habe ich an ihnen getan.“ Samson nahm nicht ihre Frauen und gab sie anderen (wie es ihm getan hatten), sondern bestrafte sie dementsprechend. Ben Zuta sprach: Was, wenn der Angreifer arm ist, was ist seine Strafe? Der Gaon: Was, wenn ein Blinder einen mit normaler Sehkraft seines Augenlichtes beraubt, was soll ihm geschehen? Der Arme kann reich werden und zahlen, nur der Blinde knn niemals für das zahlen, was er getan!
Zusammenfassung: Wir könne für die Vorschriften der Tora keine adäquaten Erklärungen geben, ohne uns auf die Worte unserer Weisen zu verlassen. So wie wir die schriftliche Tora von unseren Vätern empfingen, empfingen wir auch die mündliche. Zwischen ihnen gibt es keinen Unterschied.

Der Karäer griff die rabbinische Interpretation zweifach an: zuerst von der Formulierung des Textes. Der Gaon zeigte, daß die beiden Sätze „so soll es ihm vergolten werden“ und „so soll ihm geschehen“ nicht unbedingt die Interpretation der Karäer tragen. Der Beweis aus Samson ist der klarste Hinweis, daß die Formulierung ein Äquivalent bzw. eine Analogie ausdrückt, aber keine identische Bestrafung. Der Karäer verliess dann das Argument der Textformulierung und attackierte die rabbinische Interpretation vom Gesichtspunkt von der Umsetzungsmöglichkeit an. Hier erkannte er offensichtlich nicht, daß er sich einem Einwand näherte, der gegen alle juridischen Strafen erhoben werden kann. So, wie er fragte: „Was, wenn der der Angreifer arm ist?“, konnte er fragen: „Was, wenn jeder, der eine Strafe auferlegt bekommt, arm ist?“ Daher spielte er in Saadias Hand, indem er ihm zeigte, daß derselbe Fehler in der Ausführung, auf den in der monetären Interpretation hingedeutet wird, in der wörtlichen zurückgewiesen werden kann. Er brachte Schimon ben Jochais Argument ein.
Der andere Kontext, in dem Ibn Ezra Saadias Polemik zitiert, ist unser Abschnitt:

„So soll ihm geschehen“: Samson sagte ähnlich: „Wie sie an mir getan, so habe ich an ihnen getan.“ Der Gaon führt Argumente des gesunden Menschenverstandes an und zeigt, daß „Bruch um Bruch“ nicht wörtlich genommen werden dart, sondern daß nur monetäre Kompensation angezeigt ist, da der ursprüngliche Schlag unabsichtlich zugefügt wurde. Wie kann dann ein identischer Schlag absichtlich zugefügt werden? Und wenn es sich um eine gefährliche Stelle handelt, könnte das Opfer sterben. Das gilt auch für das Auge. Wenn das Opfer ein Drittel seiner Sehkraft verliert, wie kann ein ebensolcher Effekt beim Schläger erzielt werden? Aber die traditionelle Ansicht, daß eine monetäre Kompensation gemeint sei, ist korrekt. Zum Argument: was, wenn der Angreifer arm ist? Unsere Antwort lautet: der Text spricht über den üblichen Fall, und weiters kann der Arme vielleicht reich werden. Ihre Argumente können auch im Fall des Blinden, der einen normal Sehenden blind machte, widerlegt werden.

Hier zieht sich Saadia auf die Argumentation der Schule Hezekiah zurück: „Auge um Auge und nicht ein Leben und ein Auge für ein Auge.“
Aber die Gemara begrenzt sich nicht selbst auf rein technische Argumente, welche die Möglichkeit lex talionis auszuführen, ausschliessen. Sie zieht weitere Texte heran, einen davon zitieren wir hier:

Die Tora stellt fest (Numeri 35, 31): „Und ihr dürft nicht ein Sühngeld nehmen für die Person eines Mörders, der des Todes schuldig ist.“ Das bedeutet, daß für das Leben eines Mörders kein Sühngeld genommen werden darf, aber für die Hauptorgane des menschlichen Körpers, die nicht mehr nachwachsen.
(Baba Kamma 83b)

Die Formulierung „der des Todes schuldig ist“, indiziert, daß es andere Verbrechen gibt, die nicht mit dem Tod zu bestrafen sind. Wenn wir den Kontext ansehen, finden wir, daß dort, wo es sich um kein Kapitalverbrechen handelt, kann sich der Text nur auf die Schuld desjenigen beziehen, der einen anderen verletzt. Wenn der Text daher feststellt, daß für einen Mörder kein Sühngeld genommen werden darf, folgt daraus, daß dort, wo kein Kapitalverbrechen vorliegt, Sühngeld genommen werden soll.
Dieses Argument wird von Maimonides in seinem Code (Hovel U-mazik 1, 3-6) fortgesetzt:

Der Text „Und so jemand seinem Nächsten eine Verletzung beibringt – so wie er getan, so geschehe es ihm“ bedeutet kein wortwörtliches Zufügen der identischen Verletzung, um den Schuldigen zu verstümmeln, sondern – obwohl er eine solche Verstümmelung verdiente – zahlt er ein monetäres Äquivalent. Denn es wird uns gesagt: „Und ihr dürft nicht ein Sühngeld nehmen für die Person eines Mörders, der des Todes schuldig ist.“ Sühngeld wird nur im Falle eines Mörders ausgeschlossen und genommen, wenn jemand einen anderen verletzt.
Woher wissen wir, daß die Feststellung „Auge um Auge“ Sühngeld beinhaltet? Da es heisst: „Bruch um Bruch“ und dafür haben wir die explizite Vorschrift: “ Und einer schlägt den andern mit einem Stein oder mit der Faust … nur soll er erlegen Versäumnis und lasse ihn heilen.“ Das bedeutet, daß sich das „um“ in „Bruch um Bruch“ auf Sühngeld bezieht. Dasselbe gilt für das „um“ bei allen anderen Körperteilen.
Obwohl all dies in der Formulierung der schriftlichen Tora, die von Moses direkt vom Sinai herabgebracht wurde, impliziert scheint, kommen alle unter die Überschrift einer praktischen Vorschrift, die uns übergeben wurde. So sahen unsere Vorfahren Angelegenheit im Gericht Josuas, Samuels des Ramathiten und in jedem Gericht, welches seit den Tagen Moses‘ bis heute existierte.

Der erste Beweis, der von Maimonides fortgesetzt wird, ist der letzte, den wir aus der Gemara zitierten, basierend auf Numeri 35. Aber wir könnten bemerken, daß er ihn nicht als überzeugend betrachtet, da er sofort danach die Frage stellt: „Woher wissen wir, daß die Feststellung „Auge um Auge“ Sühngeld beinhaltet?“ Der Kommentar „Lechem Mischneh“ stellt tatsächlich Maimonides Argumentation in Frage. Sicher, sagt er, Maimonides hat seinen Punkt bereits bewiesen! Er antwortet, aus dem ersten Text mag bewiesen werden, daß Sühngeld für Verletzungen genommen werden kann, aber nicht, daß es genommen werden muss und eine Verstümmelung des Schuldigen ausgeschlossen ist. Maimonides zeigt daher, „Auge um Auge“ kann nur monetäre Kompensation bedeuten. Sein Beweis ist wirklich überzeugend und wir werden später zu ihm zurückkehren. Maimonides jedoch war mit ihm nicht zufrieden. Sein Schlußargument ist, daß dies unsere Tradition ist, die mündlich von einer Generation zur anderen weitergegeben wurde, in jedem Gerichtshof, der seit den Tages Moses‘ existierte.
Rabbiner Kook bemerkt diesen Zugang des Maimonides, zitiert aber Solomon Lurias (in „Jam schel Schlomo“) Opposition dazu: Solomon Luria betrachtet die Formulierung des schriftlichen Textes als entscheidend, ohne sich auf die mündliche Tradition zu beziehen. Der Exodustext, den Maimonides unmissverständlich zitiert, zeigt, daß die Tora nur an monetäre Kompensation dachte. Auch Benno Jacob benutzt für einen Beweis diesen Text und zitiert Exodus 21, 18 – 22. Diese Verse beschäftigen sich mit Schäden, die dem Körper zugefügt werden können. Sie werden in zwei Gruppen eingeteilt, wobei die erste Gruppe abermals unterteilt ist:

Körperliche Schäden durch einen Menschen verursacht
absichtlich: 18 – 19 (Fussnote: der Sklave – 20 – 21)
unabsichtlich: 22 – 25 (Fussnote: der Sklave – 26 – 27)
Körperlicher Schaden durch den Ochsen eines anderen: 28 – 31 (Fussnote: der Sklave: – 32).
Wo wird in diesem Text „Auge um Auge“ erwähnt? Auf alle Fälle in Verbindung mit der unabsichtlichen Tat, während im Fall des beabsichtigten Verletzen uns explizit gesagt wird, daß Zeitverlust und medizinische Behandlung zu bezahlen sind. Hätte „Auge um Auge“ wortwörtliche Bedeutung, wäre die Strafe für ein unbeabsichtigtes Verstümmeln grösser als für ein beabsichtigtes!
Aber Benno Jacob lernt die monetäre Implikation von „Auge um Auge“ aus der Formulierung unseres Textes. Dies steht im Gegensatz zu unseren meisten Kommentatoren, die sagen, die wörtliche Formulierung indiziere kein tatsächliches Abschneiden eines Gliedes, sondern wir müssen uns auf die Exegese zurückziehen. Jacob leitet den Beweis vom der Verwendung des Wortes „we-natata“ – „du sollst geben“ ab. Er weist darauf hin, daß wir vom Schuldigen nicht nichts nehmen, sondern er ist gezwungen, zu geben, was nur Kompensation bedeuten kann. Bedeutete der Text seine Verstümmelung, wäre der Begriff „geben“ nicht verwendet worden, denn er impliziert, daß etwas von der anderen Partei empfangen oder genommen wird. Meinte der Text die Entfernung eines Körpergliedes, was hätte dann das Opfer vom Täter empfangen?
Sein Hauptbeweis jedoch kommt vom Wort „tachat“, übersetzt mit „um“ oder „für“. Er zeigt, das Wort „tachat“ bedeutet eher Äquivalenz (monetär) und nicht Identität.
Zum Beispiel:

… soll er ihn freilassen für seinen Zahn.
(Exodus 21, 27)

Man kann nicht Feingold für sie zahlen und wägt nicht Silber dar als Preis für sie.
(Hiob 28, 15)

Seiner Ansicht nach gibt es keinen Text, in dem „tachat“ jemals einen identischen Austausch bedeutet. Im Gegenteil, „tachat“ hat eine völlig unterschiedliche Verwendung. A ist aufgerufen zu geben, zu tun, zu leiden statt B, denn B kann nicht dasselbe geben, tun oder leiden. „Tachat“ bedeutet niemals, daß A etwas geben oder leiden muss, weil B dasselbe gab oder erlitten hat. Es drückt keine lex talionis Beziehung aus. Dies ist, nach Jacob, die Quelle aller Missverständnisse in unserem Text.
Dies kann aus der biblischen Nachfolge der Könige bewiesen werden. Ein König stirbt und ein anderer regiert „tachtaw“ – „an seiner Stelle“. Da sein Vorgänger nicht länger regierungsfähig ist, kommt der Nachfolger und übt für ihn alle Funktionen aus.
Oder: Abraham opferte den Widder an Stelle („tachat“) seines Sohnes, Isaak wurde nicht geopfert, so kam der Widder als Ersatz. Nicht, daß auch der Widder geopfert wurde, nur weil Isaak geopfert worden war. Dies wäre die Interpretation, folgten wir dem falschen Zugang jener, die „Auge um Auge“ wortwörtlich annehmen.
Derselbe Punkt geht aus Judas Worten in Genesis 44, 33 hervor: „Und nun, lass doch deinen Knecht statt („tachat“) des Knaben bleiben, ein Sklave meinem Herrn.“ Mit anderen Worten: Lass nicht Benjamin Sklave sein, sondern ich werde Sklave sein an seiner Stelle. Es gibt viele solcher Beispiele. Das am besten auf unseren Kontext passende ist Josua 2, 14: „Sonst sollten wir selbst an eurer Statt („tachteichem“) sterben“: wenn du uns nicht verrätst und betrügst und gefangen wirst, dann werden wir an eurer Stelle sterben und ihr werdet nicht getötet. Dies ist die Kraft des Wortes „tachat“ – anstatt des Leidens oder des Todes anderer. Daher impliziert „Auge um Auge“, daß derjenige, der einem anderen ein Auge ausschlug, dem Opfer etwas geben muss, das anstelle des Auges steht, das nicht länger funktioniert und das ist monetäre Kompensation.

In dieser Hinsicht widerspricht Jacob den meisten Kommentatoren, alten und modernen, jüdischen und nichtjüdischen, die behaupten, der Text bedeute wörtlich die Verstümmelung des Täters. Nach Jacob kann die wörtliche Bedeutung des Textes nichts anderes meinen als monetäre Kompensation.
Aber wir können fragen, wie wir es bei Gur Arje (Kommentar zu Raschi) finden, wenn Geld tatsächlich angezeigt ist, warum stellte der Text nicht explizit fest: „er soll ihm den Wert seiner Hand oder seines Makels zahlen?“
Er antwortet:

Damit wir nicht denken sollen: wenn der Täter einmal seine Kompensation bezahlt hat, ist er vollständig quitt wie im Fall der Verletzung eines Tieres, wo er bezahlt und keine weiteren Verpflichtungen hat. Aber dies ist hier nicht so. Obwohl er das Opfer für die Verletzung kompensiert hat, ist er nicht seiner Verpflichtungen ledig, bis er nicht um Vergebung gebeten hat. Daher stellt die Tora fest, die Strafe sei, ähnlich verletzt zu werden, falls dies möglich wäre, das ist jedoch unmöglich (da manchmal der Täter blind sein kann) …

Der grundsätzliche Unterschied zwischen dem Verletzen eines Tieres und eines Menschen ist in Maimonides‘ Codex beschrieben:

Wer jemandem eine Verletzung zufügt, kann nicht mit jemandem verglichen werden, der sein Eigentum schädigt. Wenn der Schaden einmal gutgemacht ist, hat der Beschuldigte Sühne geleistet. Wer jedoch körperlichen Schaden verursacht, hat keine Sühne geleistet, zahlte er ihm auch die fünf Dinge (Verletzung, Schmerz, medizinische Behandlung, Zeitverlust, Schande) oder biete er ihm sogar alle Widder Naboths. Seine Schändlichkeit ist nicht vergeben, bis er nicht das Opfer um Verzeihung gebeten hat und ihm vergeben wurde. Es ist dem Verletzten verboten, grausam zu sein und nicht zu verzeihen. Das ist nicht der jüdische Weg, aber sobald der Schuldige Verzeihung gesucht hat, ein- zweimal gebeten hat und weiß, daß er seine Tat aufrichtig bereut, sollte ihm vergeben werden. Je schneller, desto besser. Dies geschieht auch in Übereinstimmung mit den Weisen.

Maimonides‘ nächste Vorschrift ist für unser Thema sogar noch wichtiger:

Es gibt noch einen weiteren Unterschied zwischen körperlichen Verletzungen und Schaden an seinem Eigentum. Wer jemanden anweist, ihn blind zu machen oder zu verkrüppeln, damit er von Verpflichtungen frei sei, ist dennoch bezüglich der fünf Dinge nicht befreit, d.h., (derjenige, der blind macht ist zur Kompensation gegenüber dem Opfer verpflichtet: Verletzung, Schmerz, Zeitverlust, medizinische Behandlung und Schande, obwohl er es mit seinem Einverständnis tat.

Mit anderen Worten: man kann Körperteile nicht loswerden wie anderes Eigentum, da der Körper nicht der eigenen Autorität untersteht. Man ist nicht der Herr des Körpers, sondern Er, dem beides, Körper und Seele gehört, ist der Herr.
Wer für den Velust des Augenlichtes Kompensation bezahlt, macht den Schaden nicht gut wie jemand, der das Eigentum seines Nachbarn beschädigt. Das Geld macht nur den monetären Schaden gut, der mit dem Verlust des Augen oder der Hand zusammenhängt. Aber der tatsächliche Verlust des Auges kann nicht gutgemacht werden. Die Verletzung eines anderen Menschen ist ein Verbrechen, das durch Sühngeld oder monetäre Kompensation nicht gutgemacht werden kann.
Daher benutzte die Tora nicht den Ausdruck „Er soll für das Auge bezahlen.“ Dies geht aus den Versen unserer Sidra, die wir am Beginn zitierten, sogar noch klarer hervor. Nachdem die Strafe für die tödliche Verletzung eines Menschen und eines Tieres (Vers 17 – 18) festgestellt wurde, kommt die Strafe für einen, der körperlichen Schaden zufügt. Die Strafe für die Verletzung eines Tieres ist nicht daneben gestellt. Denn im Fall des Menschen ist der Unterschied zwischen tödlicher (Mord) Verletzung und Verstümmelung qualitativ (Tod – Geld), im Fall des Tieres ist es ein rein quantitativer Unterschied zwischen dem Töten und dem Verletzen (mehr oder weniger Kompensation je nach Verletzung).
Unsere Sidra schliesst mit einer Kontrastierung zwischen den beiden:

Und wer ein Vieh totschlägt, erstatte es, und wer einen Menschen erschlägt, werde getötet.

Der Vers erscheint überflüssig, eine Wiederholung des Vorhergehenden, bis wir uns erinnern, daß uns der Unterschied zwischen der Verantwortung des Menschen für das Eigentum seines Nächsten und der Verantwortung für das Leben des Nächsten klargemacht werden soll, denn es ist ein menschliches Wesen, geschaffen im Bilde des Ewigen.

Weiterführende Fragen

Aus dem Talmud (Baba Kamma 84a) erfahren wir:
Raw Aschi stellte fest: Der Hinweis auf „tachat“ kann als Analogie von „Ochse“ geklärt werden. Es steht geschrieben: „Auge um (tachat) Auge“ und es heisst (Ex. 21, 36): „So soll er erstatten Ochsen um (tachat) Ochsen.“ In beiden Fällen ist monetäre Kompensation angezeigt.

Stimmt diese Exegese einem der Beweise, die wir hier zitierten, zu?

Ha-Ketav We-Hakabbalah sagt über 24, 19 – 20:
Diese Passage ist sehr schwierig. Der Wortsinn könnte klar anzeigen, die Tora schreibe eine körperliche Bestrafung für denjenigen vor, der Körperschaden zufügte. Es läuft der Natur des Menschen und den Ansichten unserer Weisen zuwider, der Verursacher von Verletzungen solle keine körperlicher Bestrafung erhalten, sondern Kompensation bezahlen. Die Kommentatoren haben daher gesagt, die Tora stelle hier ledigleich fest, welche Bestrafung der Verursacher körperlicher Schäden vediene – „so wie er getan, so geschehe es ihm.“ D. h., eigentlich hätte er diese Strafe erhalten sollen. Aber dies stillt nicht den Durst derer, die nach Wahrheit suchen. Wie kommt es, daß die Tora auf die Strafe hinweist, die hätte verhängt werden sollen, und die wirkliche Bestrafung ignoriert?

Stimmt dieses Zitat mit den Annahmen überein, die wir von Jacob und anderen zitierten?

Haftara zu Emor: Ezechiel XLIV, 15-31