Bamidbar – Israels zweite Musterung

Paraschat HaSchawua – Der wöchentliche Toraabschnitt, Kommentiert von Nechama Leibowitz

Und der Ewige redete zu Moscheh in der Wüste Sinai im Stiftszelte am ersten des zweiten Monats im zweiten Jahre nach ihrem Auszuge aus dem Lande Mitzrajim also:
Nehmet auf die Zahl der ganzen Gemeinde der Kinder Israel nach ihren Geschlechtern, nach ihren Stammhäusern, durch das Zählen der Namen aller Männlichen nach den Köpfen;
Vom zwanzigsten Jahre und darüber, jeglichen, der zum Heere ausziehet in Israel; diese sollt ihr mustern nach ihren Scharen, du und Aharon.
(1, 1-3)

Das vierte Buch des Pentateuch, Bamidbar – Numeri, beginnt mit der Zählung, ausgeführt con Moses und Aaron an allen Stämmen. Daher der Name „Numeri“. Das erste Kapitel ist angefüllt mit den Zahlen jedes Stammes und der Gesamtsumme. Dies ist aber nicht die erste Zählung der Kinder Israel. Sie waren bereits einmal gezählt worden, vor der Errichtung des Stiftszeltes (Exodus 30, 11-16 und 38, 25 – 26). Die Sockel des Stiftszeltes wurden mit dem Geld, das von den Gezählten beigetragen wurde, hergestellt. In unserem Abschnitt werden sie abermals gezählt, jedes Detail wird sorgfältig wiedergegeben, sogar das Datum: „am ersten des zweiten Monats (Ijar) im zweiten Jahre“ – ein Monat nach der Errichtung des Stiftszeltes.
Die Fragen, die unmittelbar auftauchen, lauten: welche Notwendigkeit sieht das göttliche Gesetz, diese genauen statistischen Daten anzuführen? Welchem moralischen Zweck für zukünftige Generationen dient es? Warum wurde Moses so feierlich aufgefordert, sie ein zweites Mal zu zählen, zu diesem bestimmten Zeitpunkt? Unsere Kommentatoren, die auf den gesunden Menschenverstand vertrauen, allen voran Raschbam (Raschis Enkel), bieten eine klare Erklärung.

„Nehmet auf die Zahl der ganzen Gemeinde“: Dies geschah wegen der Tatsache, daß sie vor der Landnahme standen. Jene ab dem zwanzigsten Jahr und älter passten, um in die Armee und in die Schlacht zu gehen. Denn am zwanzigsten Tag des zweiten Monats wurde das Thema akut, wie es in Numeri 10, 11 und 29 heisst: „Wir brechen nun auf nach dem Orte hin, von dem der Ewige gesprochen.“ Aus diesem Grund befahl ihnen der Ewige, gepriesen sei Er, am Anfang dieses Monats gezählt zu werden.

Die Zählung hatte demnach einen militärischen Charakter, um zu bestimmen, welche Kräfte Moses zur Verfügung standen und sie für die Schlacht einzuteilen. Dies scheint vernünftig genug zu sein, besonders, da die Zählung nur auf jene angewandt wurde, die das zwanzigste Jahr oder mehr erreicht hatten, ein Alter, das auch von unseren Weisen als das ideale betrachtet wurde, was physische Ausdauer und Fähigkeiten betrifft. Diese Erklärung erhät zusätzliche Bestärkung durch die Tatsache, daß die Leviten nicht gemeinsam mit den anderen Stämmen gezählt wurden, wie es heisst:

Nur den Stamm Levi mustere nicht und ihre Gesamtzahl nimm nicht auf unter die Kinder Israel. Sondern ordne du die Leviten zu der Wohnung des Zeugnisses und zu allen ihren Geräten und zu allem, was dazu gehört; sie sollen die Wohnung tragen und alle ihre Geräte, und sie sollen sie bedienen und rings um die Wohnung sollen sie lagern.
(I, 49 – 50)

Von hier ist es klar, die Leviten wurden nicht gezählt wegen ihrer speziellen Rolle im Gottesdienst. Daher waren sie vom Militärdienst ausgenommen.

Aber eine Reihe von Schwierigkeiten bleibt weiterhin ungeklärt. Warum beschäftigt sich die Tora so sehr mit den Details der Zählung, statt uns einfach zu informieren, wie hoch die Gesamtzahl der Moses‘ zur Verfügung stehenden Truppen war? Nachmanides, der danach strebt, das Maximum an Moral und mystischer Bedeutung aus den heiligen Texten zu destillieren, schlägt drei Zugänge vor:

Die Tora musste die Gesamtzahl berichten, nachdem sie alle Details aufgezählt hatte, da es Moses und Aaron befohlen worden war, die Anzahl der Menschen und die Anzahl jedes Stammes festzustellen. Denn so zählten die Könige das Volk. Aber ich habe den Grund dafür nicht verstanden, warum Gott es befahl. Es war notwendig, die Anzahl jedes Stammes zu wissen, besonders im Hinblick auf die Ordnung des Lagers gemäß dem Standard. Aber warum war es notwendig, die allgemeine Zahl zu wissen? Vielleicht, um ihnen Seine Güte zu zeigen? Als ihre Väter nach Ägypten hinabzogen zählten sie nur siebzig Seelen und jetzt waren sie zahlreich, wie der Sand am Meer. Und nach jeder Seuche und Pest zählte er sie, um zu zeigen: obwohl er sie verwundete, heilten sie seine Hände. Dies stimmt mit dem überein, was unsere Weisen sagen: „Aus einem Überfluss an Liebe zählt er sie oft.“
Er, der vor dem Vater aller Propheten (Moses) und seinem Bruder, dem Geweihten des Ewigen (Aaron) kommt, und den sie mit Seinem Namen kennen, erwirbt dadurch Verdienst und Leben … Denn sie blickten auf sie mit Güte und suchten Gnade für sie: „Möge der Ewige, der Gott deiner Väter, dir dies tausend Mal hinzufügen“ und deine Anzahl nicht vermindern …
Weiters habe ich in „Bamidbar Rabbah“ bezüglich des Textes „durch das Zählen der Namen aller Männlichen nach den Köpfen“ folgendes gesehen: Der Ewige, gelobt sei Er, befahl Moses, sie auf eine Art zu zählen, die jedem einzelnen von ihnen Ehre und Grösse verleihen würde. Damit du nicht dem Familienoberhaupt sagest: „Wieviele gibt es in deiner Familie? Wieviele Kinder hast du?“ Sie sollten vielmehr in Ehrfurcht und Ehre an dir vorüberziehen, und du sollst sie zählen. Das ist die Bedeutung von: „Gemäß der Anzahl der Namen vom zwanzigsten Jahre und darüber, durch ihr Zählen.“
Vielleicht war dies auch die Art der Könige, wenn sie in den Krieg zogen. Jetzt waren die Kinder Israel bereit, das Land zu betreten und mit den Königen der Amoriter zu kämpfen, die auf der anderen Seite des Jordan sassen, wie es heisst: „wir gehen jetzt an den Ort, von dem uns der Ewige gesprochen“. Moses und die Fürsten wollten die Zahl der verfügbaren Soldaten wissen … Die Tora verlässt sich nicht auf Wunder, daß man nur einem Tausend folge. Dies ist der Grund für die Feststellung: „Jeglichen, der zum Heere ausziehet in Israel.“
(Nachmanides zu Numeri 1, 45)

Nachmanides gibt hier drei Gründe an, die strategisch-militärische Überlegung, auf die sich Raschbam bezieht, steht an letzter Stelle. Nachmanides betont, wir sollen uns nicht auf Wunder verlassen, sondern alle notwendigen Vorbereitungen für das Zusammentreffen mit dem Feind unternehmen. Er bleibt seinen Argumenten, die er an anderen Stellen anführt, treu. (Vor allem hinsichtlich der Spione, deren Mission er als korrekten Ausweg ansah, der von allen Eroberern beschritten wird. Denn die Tora verlässt sich nicht auf Wunder. Trotzdem, in der jüdischen Geschichten haben wir keinen grösseren Wundergläubigen (versteckten wie enthüllten) als Nachmanides.
Er sagte:

Niemand von uns kann am Gesetz Moses‘, unseres Lehrers, teilhaben, solange wir nicht glauben, daß wir in allen Angelegenheiten und Umständen von Wundern umgeben sind. Sie sind nicht bloss natürliche und gewöhnliche Phänomene, die entweder die Allgemeinheit oder den Einzelnen betreffen. Alles geschieht durch ein Dekret des Ewigen.

Zu demselben Thema gibt es eine weitere Bemerkung:

Die Tora gebietet Angelegenheiten, die auf normale, menschliche Weise ausgeführt werden sollen. Die Wunder, die um der Gottesfurcht willen im Geheimen geschehen, werden zurückgelassen, denn es liegt nicht in der göttlichen Absicht, die Natur der Welt zu ändern.
(Nachmanides zu Deut. 20, 8)

Aus diesem Statement lernen wir eine wertvolle Lektion über die Erhaltung eines klugen Ausgleichs zwischen Gottvertrauen und Selbsthilfe und das Vermeiden zweier gleichartiger Gefahren: zu starkes Verlassen auf Gott, im Sinne von „der Himmel wird barmherzig sein“ und menschliche Eitelkeit im Sinne von „die Kraft und die Macht meiner Hände hat mich reich gemacht.“ Nachmanides gibt sich daher nicht mit der strategisch-rationalen Begründung der Zählung zufrieden, sondern gibt einen weiteren Sinn dazu und erklärt, warum die Zählung individuell zu sein hatte. Im Hinblick auf die Ideologien, die das Individuum in der Masse verschwinden lassen und es als ersetzbares Rädchen in der Staatsmaschinerie sehen, wird dieser Betrachtung heutzutage mehr Beachtung geschenkt. Im Gegensatz dazu betont Nachmanides, diese Zählung war persönlich und individuell, „nach den Köpfen“. Damit wird uns der Wert jedes Einzelnen und jeder einzelnen Seele vor Augen geführt, jeder ist einzigartig in seiner göttlichen Kreativität und eine Welt für sich. In „Akedat Jitzchak“ weist Isaak Arama auf denselben Gesichtspunkt der Zählung hin:

Sie waren nicht einfach wie Tiere oder leblose Objekte, sondern jeder einzelne war wichtig, wie ein König oder Priester. Gott hatte ihnen spezielle Liebe erwiesen, daher wird der Name und der Status jedes einzelnen erwähnt. Denn sie waren Gleiche und Individuen.

Der zweite Grund des Nachmanides hat mit dem ersten zu tun und ist wahrscheinlich seiner Meinung nach der wichtigere: die Zählung wollte uns auf das Wunder unserer Existenz hinweisen. Diese Idee wird im Vers ausgedrückt, den wir in der Sedernacht rezitieren und der sich auf das Wunder der Existenz bezieht:

Mit sechzig und zehn Personen zogen unsere Väter nach Ägypten; und der Ewige machte sie zahlreich wie die Sterne am Himmel.

Nachmanides weist auch darauf hin, daß diese Zählung nach einer Seuche stattfand. Er zeigt die Moral der jüdischen Geschichte: trotz der Dezimierung durch Leiden und Verfolgung unterlagen wir nicht. Im Gegenteil, wir sind gewachsen und haben uns vermehrt. In der trockenen Sprache der Statistik und der Zahlen bezieht sich unsere Sidra auf das Wunder des Überlebens Israels. Bahja, in seinen „Chovot Ha-levavot“, drückt dies philosophisch aus:

Wenn jemand in unseren Tagen (wenn das Zeitalter der Wunder vorbei ist) eine Parallele zu den Geschehnissen der Antike (den Wundern der Bibel) sucht, dann lasst ihn einen Blick auf unseren Status unter den Nationen werfen, von der Zeit des Exils an, und auf unsere Beziehung mit ihnen. Obwohl wir weder öffentlich noch privat ihre Wege gehen, und sie sich dessen bewusst sind, ist es, wie es unser Schöpfer versprochen hat (Lev. 26, 44): „Und auch dann noch, wenn sie im Lande ihrer Feinde sind, habe ich sie nicht so verworfen und nicht so ausgestossen …“ Und in Psalm 124, 1-2 heisst es: „Wäre mit uns nicht gewesen der Ewige, so mag Israel sagen; Wäre mit uns nicht gewesen der Ewige, da sich Menschen wider uns stellten, …“

Haftara zu Bamidbar: Hosea II, 1 – 22