Sidra Wajigasch: „Das Seil folgte dem Eimer“

Paraschat HaSchawua, der wöchentliche Toraabschnitt, kommentiert von Nechama Leibowitz

Judahs bewegende Rede ist der Hoehepunkt der Geschichte von Joseph und seinen Bruedern. Judah aeussert sich zu einem kritischen Zeitpunkt. Die Brueder, denen die Gefuehle der Bruederlichkeit einst fremd gewesen waren, die ihn – trotz seines Flehens – in die Sklaverei verkauft hatten, wurden nun einer Pruefung unterzogen. Wuerden sie den anderen Bruder, ebenso einen Sohn Rachels, in der Sklaverei zuruecklassen und abermals um einen Sohn Rachels weniger zu ihrem alten Vater zurueckkehren, oder wuerden sie um seine Rettung kaempfen, auch wenn es sie die eigene Freiheit kostete?

Judah, verwendet in seiner Rede jeden psychologischen und rhetorischen Kunstgriff, um die Gefuehle der Aegypter aufzuwuehlen. Unsere Weisen verwandelten diese Rede in ein Wortduell, ein „Gerangel“ zwischen Joseph und Judah.

Hier ein Auszug:

„Mein Herr fragte seine Knechte also: Habt ihr einen Vater oder einen Bruder?“ (44,19) Von Anfang an begegnetest du uns unter einem Vorwand. Aus vielen Provinzen kamen sie nach Aegypten, um Getreide zu kaufen. Niemanden befragtest du. Wir kamen nicht um die Hand deiner Tochter, noch suchtest du die Hand unserer Schwester. Und wenn dem so waere, wir verbargen nichts vor dir.
Joseph antwortete ihm: Judah! Warum bist du der Sprecher der Brueder? In meinem goettlichen Kelch sehe ich, dass du aeltere Brueder hast? Judah antwortete: Alles, was du siehst ist wegen des Bandes, da ich fuer ihn stand.
Joseph antwortete: Warum standest du nicht vor deinem Bruder, als sie ihn fuer zwanzig Silberstuecke an die Jischmaeliter verkauften und betruebtest deinen alten Vater, als du ihm sagtest: „Joseph wurde von einem wilden Tier zerrissen“, wenn er nichts Schlechtes tat? Siehe diesen, er tat etwas Schlechtes, er stahl den Becher, sage deinem Vater: Das Seil folgte dem Eimer.
Als Judah dies hoerte, weinte er bitterlich: Wie kann ich zu meinem Vater kommen, und der Knabe ist nicht bei mir? Da sagte Joseph zu ihm: Komm, lass uns die Angelegenheit besprechen. Sagt eure Argumente. Darauf rief Judah sofort seinen Bruder Naphtali: Geh und sieh, wieviele Maerkte es in Aegypten gibt. Dieser sprang, kehrte zurueck und sagte ihm: Zwoelf. Judah sagte: Ich werde drei davon zerstoeren, ihr anderen nehmt jeder einen der Maerkte und verschont keinen. Seine Brueder antworteten: Judah, Aegypten ist nicht Schechem. Zerstoerst du Aegypten, zerstoerst du die ganze Welt. (Tanhuma)

… Judah wurde sofort zornig und tobte mit so lauter Stimme, dass der Ton vierhundert Parasangs reiste, bis Hushim, der Sohn Dans ihn hoerte und von Kanaan ihm zur Seite sprang. Beide tobten und suchten dem Lande Aegypten ein Ende zu machen. (Bereschit Rabbah)

Judah sagte zu Joseph: Wusstest du, dass du von Anfang an nur einen Vorwand suchtest? Zuerst sagtest du zu uns: Ihr seid Kundschafter. Dann fuegtest du hinzu: Um die Bloesse des Landes zu sehen, seid ihr gekommen. Und dann: Ihr habt einen Becher gestohlen. Du schwoertest beim Leben des Pharao, des Boesen; ich schwoere beim Leben meines Vaters, des Gerechten. Wenn ich mein Schwert aus der Scheide ziehe, fuelle ich Aegypten mit Leichen. Joseph sagte zu ihm: Wenn du dein Schwert ziehst, werde ich es um deinen Hals binden. Judah: Wenn ich meinen Mund oeffne, verschlinge ich dich. Joseph sagte: Wenn du willst, oeffne deinen Mund. Ich werde ihn mit einem Stein stopfen. Judah sagte: Was werden wir dem Vater sagen? Joseph sagte: Ich habe es dir schon gesagt. Sage ihm: Das Seil folgte dem Eimer. Judah sagte: Du auferlegst uns ein perverses Urteil. Joseph sagte: Perversitaet fuer die Verderber. Keine groessere Perversitaet der Gerechtigkeit ist vorstellbar als der Verkauf eures Bruders! Judah sagte: Das Feuer von Schechem brennt in mir. Joseph sagte: Das Feuer deiner Schwiegertochter Tamar ist es – ich werde es loeschen. Judah sagte: Nun gehe ich und faerbe alle aegyptischen Maerkte mit Blut. Joseph sagte: Ihr wart auch frueher Faerber, als ihr den Rock eures Bruders mit Blut faerbtet und eurem Vater sagtet: Er wurde in Stuecke gerissen.
Joseph sagte: Sagtet ihr nicht so, dass sein Bruder tot ist? Ich kaufte ihn. Ich gehe jetzt, um ihn zu rufen. Er wird zu euch kommen. Und er rief: Joseph, der Sohn Jakobs, komme zu mir! Joseph, der Sohn Jakobs, komme zu mir. Sprich mit deinen Bruedern, die dich verkauften. Sie blickten in die vier Ecken des Hauses. Joseph sagte zu ihnen: Warum blickt ihr umher? Ich bin Joseph, euer Bruder! Ihre Seelen flogen hinaus, und sie konnten ihm nicht antworten. Rabbi Jochanan sagte: Wehe uns wegen des Tages des Gerichtes! Wehe uns wegen des Tages der Vergeltung! Als Joseph seinen Bruedern sagte: Ich bin Joseph, euer Bruder, flogen ihre Seeln hinaus. Wieviel mehr, wenn der Ewige aufsteht, um Gericht zu halten, wie es heisst: Wer wird den Tag seines Kommens ertragen, und wer wird bestehen bei seinem Erscheinen. (Maleachi 3,2) Und wenn, in diesem Fall, die Brueder sich in seiner Gegenwart fuerchteten, wieviel mehr, wenn der Ewige, gelobt sei Er, kommt, um uns fuer die Vernachlaessigung seiner Gebote und die Verletzung der Tora zu richten!
Der Ewige, gelobt sei Er, vollfuehrte fuer sie ein Wunder, und ihre Seelen kehrten zurueck. (Tanhuma)

Was ist der Grund fuer diese phantastische Interpretation von Judahs bewegender Rede, diese Verwandlung eines geschickten, gefuehlvollen Aufrufes und Monologes in einen bitteren, denunziatorischen Dialog?
Aber die gewandte Ausschmueckung unserer Weisen ist ebenso geschickt aufgebaut, in einem ebenso bewegenden Dialog, der Stufe fuer Stufe seinem Hoehepunkt zustrebt. Dennoch gibt es einen Unterschied. Judah weist in der originalen biblischen Petition nur indirekt auf Ungerechtigkeit hin. Im Midrasch fleht, droht und beschuldigt er, waehrend Joseph ihm aggressiv in einem spoettischen und ironischen Tonfall antwortet: „Das Seil folgte dem Eimer.“ Je mehr Judah tobt, umso mehr erzuernt und verletzt ihn „Joseph“ und erinnert ihn an die Vergangenheit, an die Behandlung des juengeren Bruders. Joseph kann selbstverstaendlich diese Worte nicht gesagt haben. Wer ist dann der „Joseph“ des Midrasch, der den Anklaeger spielt? Unsere Weisen wollten Judahs Gewissen personifizieren, die innere Stimme der Reue, die ihn plagte.
Je mehr Judah die Ungerechtigkeit im Verhalten des Regenten geisselt, desto mehr erinnert ihn sein Gewissen an die Ungerechtigkeit, die er Joseph antat.

Du auferlegst uns ein perverses Urteil. Perversitaet fuer die Verderber.
Keine groessere Perversitaet der Gerechtigkeit ist vorstellbar als der Verkauf eures Bruders!

Als Judahs natuerliche Entruestung ueber Ungerechtigkeit keine Schranken kennt, droht er, ein ganzes Reich zu zerstoeren, da es unschuldige Menschen zum Hungertod verurteilt.

Nun gehe ich und faerbe alle aegyptischen Maerkte mit Blut.

Aber sein Gewissen kuehlt seinen tobenden Zorn mit den Worten:

Ihr wart auch frueher Faerber, als ihr den Rock eures Bruders mit Blut faerbtet und eurem Vater sagtet: Er wurde in Stuecke gerissen.

Vielleicht soll das Bild von Judahs Zorn als Beschreibung seiner Bemuehungen verstanden werden, die Stimme seines Gewissens zu ertraenken.

Warum standest du nicht vor deinem Bruder, als sie ihn fuer zwanzig Silberstuecke an die Jischmaeliter verkauften.

Der Midrasch vergleicht ihre Situation in Aegypten und die ueber sie verhaengte Ungerechtigkeit mit ihrem vergangenen Verhalten gegenueber ihrem Bruder, ein Verhalten, dass ihnen von Judah geraten worden war. Diese Idee wird auch im Text selbst ausgedrueckt, in den letzten Worten von Judas Rede:

Und nun, lass doch deinen Knecht statt des Knaben bleiben, ein Sklave meinem Herrn, und der Knabe ziehe hinauf mit seinen Bruedern. (44,33)

Als Judah, der hier alle Brueder repraesentiert, dieses Stadium erreicht hatte, in dem er nicht ohne Benjamin zu seinem Vater zurueckkehren konnte, als er bereit war, sein Leben fuer ihn zu geben, war das Unrecht, das sie ihrem anderen Bruder zugefuegt hatten, gesuehnt, und Joseph konnte sich ihnen zu erkennen geben.

Haftara zu Wajigasch: Ezechiel XXXVII, 15 – 28