Paraschat HaSchawua – der wöchentliche Toraabschnitt, kommentiert von Nechama Leibowitz
Gott erscheint dem Jakob zum ersten Mal als dieser vor seinem Bruder und aus seinem Geburtsort flieht. Er wandert in der naechtlichen Wueste, schlaeft im Freien mit einem Stein als Polster. Diese Erscheinung Gottes manifestiert sich in einem Traum.
Der moderne deutsch-juedische Kommentator Benno Jacob teilt in seinem Werk ueber Genesis die verschiedenen Traeume dieses Buches in zwei Kategorien ein.
Die erste Kategorie umfasst jene, in denen Gott tatsaechlich zum Menschen spricht ( 20,3; 31,24). In der zweiten Kategorie kommen die Traeume vor, die als Vermittler des Gespraeches mit Gott dienen. Beispiele dafuer sind die Traeume Josephs, des Obermundschenken, des Oberbaeckers und des Pharao. Die Traeume der zweiten Kategorie arbeiten mit Parabeln, Bildern in Worten, die einer Erklaerung beduerfen.
In Jakobs Traum spricht Gott ihn tatsaechlich an. Vorher aber kommt das Bild, das nach unserer Interpretation ruft. Und es gab viele Interpretationsversuche.
Wir zitieren den Bildteil in Jakobs Traum, dessen Interpretation so viele Kommentatoren, Schriftsteller und Dichter im Laufe der Zeit beschaeftigt hat.
Da traeumte er und siehe, eine Leiter war gestellt auf die Erde.
Und siehe, Engel Gottes stiegen auf und ab an ihr.
Und siehe, der Ewige stand ueber ihr.
Es folgt eine der mannigfaltigen Interpretationen des Traumes im Midrasch:
„Und siehe, Engel Gottes stiegen auf und ab an ihr“: Diese sind die Prinzen der heidnischen Nationen, die Gott unserem Vater Jakob zeigte. Der Prinz von Babylon stieg siebzig Stufen hinauf und stieg herab, der Prinz von Medien zweiundfuenfzig und stieg herab; Griechenland hundert Stufen; Edom stieg auf und niemand weiss, wie viele Stufen! In dieser Stunde fuerchtete sich Jakob und sagte: Vielleicht stieg dieser nicht herab? Der Ewige sagte zu ihm: Fuerchte dich nicht, Jakob, mein Knecht … sei nicht entmutigt, Israel. Sogar wenn du ihn siehst, wie er aufsteigt und neben mir sitzt, von hier werde ich ihn herunter holen! Wie es heisst (Obadja 1,4): Und erhebst du dich wie der Adler, baust dein Nest zwischen den Sternen, ich will dich von da herunterholen, spricht der Ewige.
Der Midrasch inspirierte Sfornos Kommentar zum Traum:
„Aufsteigen und absteigen“ – Nach dem Aufstieg der nichtjuedischen Prinzen beginnt wiederum ihr Abstieg. Der Allmaechtige steht fuer immer oben und er wird sein Volk nicht im Stich lassen: (Jeremias 30,11): Denn ich werde allen Voelkern Vernichtung bringen, wohin ich dich zertreut habe. Aber dir werde ich keine Vernichtung bringen.
Gemaess dem Midrasch schildert Jakobs Traum den Aufstieg und Fall der Nationen und ihrer Kulturen in der Arena der Weltgeschichte. Was hat dies mit Jakobs Situation zu tun, seiner Flucht vor dem Zorn des Bruders nach Padan-Aram, seiner Mission, eine Frau zu waehlen, um die Familie weiterzufuehren? Es koennte geantwortet werden, dass der Midrasch den Traum nicht allein auf Jakob, das Individuum bezieht, sondern auf Jakob als das Symbol Israels, der Verkoerperung der Wanderungen des juedischen Volkes, wie es von einem Land ins andere getrieben wird und den Aufstieg und Fall maechtiger Koenigreiche wie Aegypten, Assyrien, Babylon, Persien und Griechenland bezeugt. Der Autor des Midrasch, der zur Zeit des Roemischen Reiches lebte, war noch nicht Zeuge seines Unterganges geworden.
Rom und seine geistigen Nachfolger, die seinen Platz in Europa einnahmen, werden in der mittelalterlichen rabbinischen Terminologie „Edom“ genannt. Ihr Untergang wird gleichfalls vorhergesagt. Das juedische Volk, in Furcht vor der anscheinend niemals endenden Unterdrueckung, ohne Zeichen, dass die Herrschenden untergehen werden, ruft: Vielleicht steigt dieser nicht herab? – Vielleicht bleibt dieser fuer immer? Jakob und die goettliche Botschaft der Rueckversicherung findet sich in der Botschaft Obadjas, des Propheten des schliesslichen Unterganges Edoms.
Und erhebst du dich wie der Adler, baust dein Nest zwischen den Sternen, ich will dich von da herunterholen, spricht der Ewige.
Die Jakobsleiter meint die Leiter der Geschichte. Der Aufstieg der einen Nation bedeutet den Niedergang ihrer Vorgaengerin. Die Leiter ist nicht endlos, aber Gott steht an ihrer Spitze, als der Herr der Geschichte. Er versichert uns, dass Er Stolz und Despotismus herunter holt, bis allein Seine Souveraenitaet am Ende der Tage anerkannt wird. Jesaja beschreibt uns diese „Endzeit“-Vision.
Raschi naehert sich dem Text auf eine voellig andere Weise. Er haftet an der buchstaeblichen Bedeutung. Das Thema der Erzaehlung ist die Reise unseres Patriarchen Abraham nach Padan-Aram, seine Flucht vor dem Bruder. Folgende Frage stellt Raschi hinsichtlich der Worte „aufsteigen und absteigen“:
Zuerst steigen sie auf, dann steigen sie ab?
Eigentlich, sagt Raschi, haetten die Engel, die Bewohner des Himmels, zuerst herabsteigen sollen. Die Reihenfolge sollte umgekehrt werden. Raschi antwortet:
Die Engel, die ihn im Heiligen Land begleiteten, gehen nicht aus dem Heiligen Land hinaus. Daher stiegen sie in den Himmel auf. Dann stiegen die Engel fuer ausserhalb des Heiligen Landes herab, um ihn zu begleiten.
Mit anderen Worten: die Erfahrungen des Menschen im eigenen Land sind mit seiner Situation in einem fremden Land nicht zu vergleichen. Um zu einer fremden Erde aufzubrechen, brauchte er Beschuetzer, die sich von denen, die an seinem Geburtsort, an dem vertrauten Ort, ueber ihn gewacht hatten, unterschieden. Aber wohin er auch immer ging, Jakob war immer von goettlichem Schutz umgeben.
Raschis kurze Bemerkung passt genau in das Bild, das uns die Sidra gibt. Die fuer das Ausland zustaendigen Engel begleiten ihn durch seine Truebsal ab dem Augenblick, da er Be’er Sheva verlaesst (28,10) bis zu seiner Rueckkehr nach Mahanaim (32,3) nach zwanzig Jahren im Exil. Hier ist er abermals mit Engeln konfrontiert – den Schutzengeln seines Heimatlandes:
Auch Jakob ging seines Weges und ihm begegneten Engel Gottes.
Diese Erfahrungen wiederholt der Psalmist, der sich nicht auf den Patriarchen Abraham, sondern auf dessen Nachkommen bezieht:
Denn er entbietet fuer dich seine Engel, dich zu behueten auf allen deinen Wegen. Sie sollen auf den Haenden dich tragen, dass nicht an einem Stein sich stosse dein Fuss.
Weiterfuehrende Fragen:
1. In der Einfuehrung zu seinem „Fuehrer“ behandelt der Rambam Parabeln und allegorische Beschreibungen der Bibel. Wir zitieren hier seine relevanten Bemerkungen.
Wisse, die Redefiguren, die von den Propheten verwendet werden, sind von zweierlei Art: jene, in denen jedes einzelne Wort der Parabel oder Allegorie von Bedeutung ist, und jene, in denen die Parabel als Ganzes signifikant ist, die Details der Beschreibung sind nebensaechlich und fuegen der Idee, die vermittelt werden soll, nichts Wichtiges hinzu. Sie sind bloss Ornament oder entworfen, um die Idee, die allegorisch beschrieben wird, zu verhuellen.
Ein Beispiel fuer die erste Kategorie der prophetischen Redefiguren ist in Genesis zu finden: „Da traeumte er und siehe, eine Leiter war gestellt auf die Erde und die Spitze reichte an den Himmel. Und siehe, Engel Gottes stiegen auf und ab an ihr. Und siehe, der Ewige stand ueber ihr…“ (28,12) Das Wort „Leiter“ bezieht sich auf eine erste Idee; „gestellt auf die Erde“ auf die zweite, „und die Spitze reichte an den Himmel“ auf die dritte, „Engel Gottes“ auf die vierte, „stiegen auf“ auf die fuenfte, „und ab“ auf die sechste und „der Ewige stand ueber ihr“ auf die siebente. Jedes Wort in dieser Redefigur fuehrt ein neues Element in die Idee ein, welche die Figur praesentiert.
Ein Beispiel fuer die zweite Kategorie finden wir in Sprueche 7, 6-23: „Denn aus dem Fenster ihres Hauses, durch die Oeffnung schaute sie hinaus, um vielleicht zu erspaehen unter den arglosen jungen Leuten einen Jungmann, arm an Verstand: Er ging auf der Strasse, bei ihrer Ecke, und nahm dann den Weg, wo ihr Haus ist. Im Zwielicht zwischen Tag und Abend, beim Einbruch des naechtlichen Dunkels. Da begegnete ein Weib ihm, buhlerisch aufgemacht, von einem Schleier verhuellt. – Unbeherrscht war sie und unstet, ihre Fuesse hielten’s zu Hause nicht aus. Bald auf der Strasse, bald auf den Plaetzen, und an jeder Ecke lauerte sie. – Da hielt sie ihn fest, und schon hatte sie ihn gekuesst und sagte zu ihm mit frechem Gesicht: Ich war noch Opfer schuldig, habe heute mein Geluebde erfuellt. Deshalb ging ich aus, um dir zu begegnen, um dich zu treffen; nun habe ich dich gefunden. Mit Decken hab ich mein Lager bereitet, ausgebreitet hab ich aegyptische Leintuecher. Mein Bett habe ich mit Wohlgeruechen besprengt von Myrrhe, Aloe und Zimt. So komm, wir trinken Liebeslust bis zum Morgen, an Liebesfreuden wollen wir uns ergoetzen! Der Mann ist ja nicht zu Hause, ist auf Reisen weit fort. Den Beutel mit dem Gelde nahm er mit, erst am Vollmondstage kehrt er heim. Durch ihre Ueberredungskunst verfuehrte sie ihn, verleitete ihn mit dem Trug ihrer Lippen. Verwirrt folgte er ihr, wie ein Ochse zum Schlachthaus geht und wie ein Hirsch, der sich verfaengt in der Schlinge, bis ein Pfeil ihm die Leber durchbohrt. Wie ein Vogel sich ins Fangnetz stuerzt und sieht nicht, es kostet sein Leben.“
Das allgemeine Prinzip, das in diesen Versen dargelegt wird, ist es, sich von exzessiven koerperlichen Vergnuegungen fern zu halten. Der Mensch soll sich nicht gaenzlich von seiner animalischen oder materiellen Natur leiten lassen. Nun, da fuer die Redefigur eine adaequate Erklaerung gegeben und ihre Bedeutung gezeigt wurde, erwarte man nichts in den Details der Beschreibung. Man frage nicht: was bedeutet „Ich war noch Opfer schuldig, habe heute mein Geluebde erfuellt“. Dies fuegt der Kraft der Parabel nichts hinzu, ebenso wenig wie die Feststellung „Der Mann ist ja nicht zu Hause.“ Dies dient nur, um die Illustration der Metapher zu vervollstaendigen.
Welche dieser beiden verschiedenen Interpretationen von Jakobs Traum regte die Kommentare des Midrasch, Raschis und Sfornos an?
2. „Und siehe, der Ewige stand alav“
Worueber? Ueber Jakob oder der Leiter? Beantworte die Frage, indem du die verschiedenen Standpunkte, die von unseren Kommentatoren formuliert werden und den Traum als Ganzes betrachten, beruecksichtigst.
3. Vergleiche den folgenden Midrasch mit dem oben zitierten. Beide interpretieren die Jakobsleiter.
…Und siehe, Engel Gottes stiegen auf und ab an ihr. – dies bezieht sich auf die Prinzen der Nationen. Der Text lehrt, dass der Ewige, sein Name sei gelobt, Jakob den Prinzen von Babylon zeigte, wie er auf- und abstieg, den von Medien, Griechenland und Edom (Rom), dasselbe tuend. Da sagte der Ewige, sein Name sei gelobt, zu Jakob: Jakob, warum steigst du nicht hinauf? In diesem Augenblick fuerchtete sich unser Vater Jakob. Er sagte: Werde auch ich, wie jene, einen Niedergang erleiden? Er sagte zu ihm: Wenn du aufsteigst, wirst du keinen Niedergang erleiden. Er glaubte nicht und stieg nicht hinauf. Rabbi Schimon b. Yosina pflegte den Text auszulegen: (Psalm 78,32) Doch sie suendigten immer fort, seinen Wundern glaubten sie nicht. Da sagte der Ewige, gepriesen sei sein Name, zu ihm: Waerst du hinaufgestiegen und haettest gelaubt. (Version Wajikra Rabbah: Haettest du geglaubt und waerst du hinaufgestiegen – beachte den Unterschied) Niemals haettest du einen Abstieg erfahren. Da du aber keinen Glauben hattest, werden deine Kinder durch diese vier Koenigreiche auf der Welt versklavt werden. Da sagte Jakob zu ihm: Fuer immer? Er antwortete: Fuerchte dich nicht, Jakob mein Knecht, sei nicht entmutigt Israel, denn ich werde dich von weit her retten, und deinen Samen aus der Gefangenschaft – aus Gallien und Spanien und ihren Nachbarn. Jakob wird aus Babylon zurueckkehren, in Frieden vor dem Meder sein, erleichtert aus Griechenland und ohne Angst vor Edom. Dich werde ich nicht vollstaendig zerstoeren, aber ich will dich mit Leiden zuechtigen, auf dass du deine Schaendlichkeit verlassest und dich laeuterst.
a) Welchen Unterschied gibt es in den Interpretationen?
b) Was symbolisiert die Leiter (ohne Engel)?
Haftara zur Parascha Wajetze: Fuer Aschkenasim: Hosea XII, 13 bis XIV, 10. Fuer Sephardim: Hosea XI,7 bis XII,12