Sidra Wa’etchanan – Und du sollst tun, was recht und gut ist

Paraschat HaSchawua, der wöchentliche Toraabschnitt, kommentiert von Nechama Leibowitz

Die Grundsätze des Judentums – Verbot des Götzendienstes, die Prinzipien der Einheit Gottes, seiner Liebe und der Ehrfurcht vor ihm, die Zehn Gebote, die Pflicht des Torahstudiums – werden alle in unserer Sidra ehrenvoll erwähnt.

Sie betont auch konstant, die Verpflichtung, alle Vorschriften der Torah treu zu erfüllen.

Zuerst:

Und nun, Israel, höre auf die Satzungen und Vorschriften, die ich euch lehre zu tun.
(4, 1)

Siehe, ich habe euch gelehrt Satzungen und Vorschriften … also zu tun inmitten des Landes, whin ihr kommet, es einzunehmen.
(4, 5)

Danach abermals, als abschliessender Refrain der Erzählung der Übergabe der Torah:

Und seid bedacht zu tun, wie der Ewige, euer Gott, euch geboten; nicht weichet rechts, noch links.
(5, 29)

Nach diesen zahlreichen Ermahnungen, die Gebote, Statuten und Urteile im täglichen Leben zu praktizieren, ruft uns die Torah nochmals auf:

Beobachten sollt ihr die Gebote des Ewigen, eures Gottes, und seine Zeugnisse und seine Satzungen, die er dir geboten; Und du sollst tun, was recht und gut in den Augen des Ewigen.
(6, 17 – 18)

Die Frage, die uns augenblicklich in den Sinn kommt, lautet: Diese Ermahnung, zu tun, was recht und gut, ist bereits Teil aller Vorschriften der Torah. Jemand, der alle positiven und negativen Vorschriften der Torah beobachtet, erfüllt ipso facto die Ermahnung, zu tun, „was recht und gut in den Augen des Ewigen“! Welche neue Verpflichtung enthält dann diese Ermahnung? Oder ist sie vielleicht nur eine Zusammenfassung dessen, was zuvor gesagt wurde? Wir müssen selbstverständlich annehmen, dass die Torah Vorschriften nicht wiederholt um der rhetorischen Wirksamkeit willen. Daher müssen wir den speziellen Beitrag suchen, den dieser Vers zum Ganzen leistet, einen Beitrag, den wir aus keinem anderen Dictum der Torah ableiten können.
Raschi und Ramban erklären beide, dieser Vers enthalte eine weitere göttliche Vorschrift, die nicht in dem vorher aufgezeichneten enthalten ist:

„Was recht und gut in den Augen des Ewigen“ – dies impliziert einen Kompromiss jenseits des Buchstabens des Gesetzes.
(Raschi)

Ramban, der Raschi dieses Mal zustimmt, arbeitet seine Erklärung aus:

Die Idee hinter dieser Vorschrift ist folgende: Am Anfang gebot Er uns „seine Zeugnisse und seine Satzungen, die er dir geboten“ zu beobachten. Jetzt fügt Er hinzu, zu tun, was recht und gut in Seinen Augen, auch in jenen Dingen, auf die sich kein spezielles göttliches Gebot bezieht, da Er liebt, was recht und gut. Dies ist ein sehr wichtiges Prinzip, da es unmöglich ist, jedes Detail menschlichen Verhaltens in der Torah aufzuzeichnen, die Beziehungen der Menschen mit den Nachbarn und Freunden, geschäftliche Angelegenheiten, nationale und lokale Wohlfahrt. Aber nachdem Er sich auf viele Aspekte bezogen hat – „kein falsches Zeugnis reden“, „nicht Rache üben“, „nicht das Blut des Nächsten vergiessen“, etc. – wird eine allgemeine Vorschrift hinzugefügt, immer zu tun, was recht und gut, wenn es in einem Rechtsstreit notwendig ist, einen Kompromiss zu akzeptieren und über den Buchstaben des Gesetzes hinauszugehen.

Die Worte des Ramban werden klarer, wenn wir sie mit einer anderen Vorschrift der Torah vergleichen, die das edelste Prinzip des göttlich gebotenen Verhaltens ausdrückt:

Rede zu der ganzen Gemeinde der Kinder Israel und sprich zu ihnen: Heilig sollt ihr sein, denn heilig bin ich, der Ewige, euer Gott.
(Leviticus 19,2 )

Aber eine Frage bleibt immer noch: Jemand, der alle Vorschriften der Torah erfüllt, erfüllt ebenso das höchste Prinzip der Heiligkeit, das im vorigen Vers ausgedrückt wird. Heiligkeit und Gerechtigkeit sind die logischen Begleiterscheinungen der vollständigen Beobachtung der göttlichen Vorschriften. Ist es vorstellbar, dass jemand, der alle moralischen und rituellen Gebote der Torah loyal erfüllt, den Standard der Heiligkeit und Aufrichtigkeit, der in den bereits erwähnten Vorschriften „Heilig sollt ihr sein“ und „Du sollst tun, was recht und gut ist“ enthalten ist, nicht erreicht?
Gemäss Ramban ist ein solcher Status durchaus vorstellbar. Er kommentiert die Verse aus Leviticus und stellt dazu fest:

„Halte dich fern von Unmoral … wo immer du Schutzvorrichtungen gegen Unmoral findest, findest du Heiligkeit.“ Dies ist Raschis Interpretation, aber talmudischer Kommentar zum selben Text limitiert sich auf den folgenden allgemeinen Satz: „Du sollst dich fernhalten.“
Meiner Meinung nach bezieht sich das Fernhalten hier nicht bloss auf das Abstandnehmen von Unmoral, wie Raschi behauptet, sondern eher auf das Fernhalten, auf das sich der Talmud bezieht, auf die Praktiken, die „peruschim“ (asketisch) genannt werden. Da uns die Torah vor Unmoral und verbotenen Speisen warnt, aber eheliche Beziehungen und das Geniessen von Fleisch und Wein erlaubt, könnte ein massloser Mensch diese Erlässe missbrauchen, sich erlaubten sexuellen Beziehungen und Essen und Trinken übertrieben hingeben und gemeinsam mit allen Narren behaupten, dies sei von der Torah nicht speziell verboten. So jemand wäre ein von der Torah autorisierter Narr (naval bi-reschut ha-torah). Daher fügt die Torah zu ihrer Liste expliziter Verbote und Vorschriften eine allgemeine Mahnung hinzu, heilig zu sein, sich selbst durch Minimierung der Hingabe zu erlaubten Vergnügen, Essen, Trinken und Geschlechtsverkehr, zu heiligen. Der asketische Nasiräer wird von der Torah „heilig“ genannt. Ähnlich sollte sich jeder Mensch selbst heiligen, bis er ein höheres Niveau von Heiligkeit und Abstand erreicht hat, wie es von R. Chija heisst, er habe sich niemals nutzloser Konversationen hingegeben.

Hier zeigt uns Ramban, wie es für jemanden möglich ist, sich an den Buchstaben der Torah zu halten und trotzdem ihren Geist zu verletzen, ein von der Torah autorisierter Narr zu werden. Im täglichen Leben gibt es oft Situationen, auf die keine direkte und explizite Vorschrift der Torah anwendbar ist. Aber wir sind aufgerufen, unter diesen Umständen in Übereinstimmung mit dem allgemeinen Prinzip der Heiligkeit und Gerechtigkeit zu handeln. Dies ist der Sinn der beiden Ermahnungen „Heilig sollt ihr sein“ und „Du sollst tun, was recht und gut ist“. Wir können bemerken, dass Ramban zuerst seine Beispiele auf Vorschriften zur Beziehung zwischen dem Menschen und seinem Schöpfer begrenzt und dann auf die Beziehungen der Menschen untereinander. Unsere Weisen erklärten die Verse unseres Abschnittes als Bezug auf die Beziehungen der Menschen untereinander. Der Mensch ist aufgerufen, nicht immer auf seinen Rechten zu beharren, sondern im Interesse einen höheren Moral einen Kompromiss zu akzeptieren. Wir zitieren hier ein lehrreiches Beispiel einer Anwendung dieser göttlichen Ermahnung in der praktischen Heiligkeit unseres täglichen Lebens:

Rabbah bar Chanas Träger zerbrachen seine Weinkrüge (die Gemara erklärt, der Vertag machte die Träger für den Schaden verantwortlich). Er nahm ihre Mäntel (als Pfand der Kompensation, die sie zahlen mussten). Die Trägr kamen zu Rav und trugen ihren Fall vor. Rav sagte zu ihm: „Gib ihnen ihre Mäntel zurück.“ Bar Chana erwiderte: „Ist das das Gesetz!?“ Rav antwortete: „Ja, damit du einhaltest den Pfad der Gerechten“ (Sprüche 2, 20). So gab er ihnen die Mäntel zurück. Die Träger sagten dann zu ihm: „Wir sind arm und haben den ganzen Tag schwer gearbeitet, wir sind hungrig und haben nichts.“ Rav sagte zu ihm: „Geh, und zahle ihnen ihren Lohn.“ Rabbah Chana fragte: „Ist das das Gesetz!?“ Rav erwiderte: „Ja! Halte ein der Gerechten Pfade“ (Sprüche 2, 20).
(Baba Mezia 83a)

Ein weiteres Beispiel für die höchste Wichtigkeit des Handelns im Geist des Gesetzes und nicht nach dem Buchstaben, wird im folgenden rabbinischen Wort dargestellt:

R. Jochanan sagte: Jerusalem wurde allein deswegen zerstört, weil sie in Übereinstimmung mit dem Buchstaben der Torah handelten und nicht darüber hinaus.
(Baba Mezia 30b)

Der praktische legale Sinn dieser allgemeinen moralischen Gebote kann aus der folgenden Wiederholung rabbinischer Vorschriften im Codex des Maimonides ersehen werden. Diese Ermahnungen, heilig zu sein und gut und recht zu handeln, waren nicht als blosse Lippenbekenntnisse beabsichtigt:

Eine Person, die ihr Land verkauft, ist verpflichtet, die Nachbar, der ein angrenzendes Feld hat, das Vorkaufsrecht einzuräumen. Auch wenn der Käufer ein Gelehrter ist, ein Nachbar und Verwandter des Verkäufers und der angrenzende Landeigentümer ein Dummkopf und ein völlig Fremder, muss ihm das Vorkaufsrecht gegeben werden und er kann den Käufer hinausweisen. Dies ist in Übereinstimmung mit Prinzip der Schrift „Und du sollst tun, was recht und gut“. Unsere Weisen sagten, da alles ein Verkauf ist, ist es nur recht und gut, dass der angrenzende Landeigentümer ein Vorkaufsrecht bekommt über einen, dessen Felder weit weg sind.
(Kodex Schechenim 12, 5, siehe Baba Mezia 108a – 108b)

Ein Gericht hat einem Gläubiger angeordnet, das Eigentum des Schuldners oder verpfändetes Eigentum in der Hand eines Käufers zu nehmen. Wenn der Schuldner, der Käufer oder ihre Erben in der Folge genug Mittel aufbringen und das Geld dem Gläubiger bringen, kann das Eigentum entlassen werden. Eine solche Beschlagnahme für eine Schuld ist immer rückerstattbar an den ursprünglichen Eigentümer in Übereinstimmung mit dem Grundsatz „Und du sollst tun, was recht und gut“.
(Loveh U-malveh 22, 16, siehe Baba Mezia 16b)

Obwohl es dem Gesetz nach scheint, eine Person könne ihr Land verkaufen an wen sie will, fordert die Torah die höchste moralische Überlegung.
Beschliessen wir unser Studium mit einem Zitat eines modernen religiösen Denkers zu diesem Thema, Jeschaja Shapiro (gest. 1942), der als Bauer in Kfar Piness, im Heiligen Land, lebte.

Die Vorschrift „Heilig sollt ihr sein“ beinhaltet, dass nicht strikt am Buchstaben des Gesetzes gehaftet werden muss, sondern – wie es Ramban formuliert – „der Intention der Torah gefolgt werden soll“. Wer eine vollkommene Beobachtung der Torah wünscht, kann sich nicht damit zufrieden geben, strikt an ihren expliziten Vorschriften zu haften. Er muss tiefer eindringen, um das höchste Ziel dieser Vorschriften zu erreichen. Er darf nicht nur an das denken, was gut und recht in seinen eigenen Augen ist, sondern „was recht und gut in den Augen des Ewigen“. Es könnte scheinen, diese Vorschrift, die die Torah ihrer Liste hinzufügte, sei überflüssig, da alle göttlichen Vorschriften dem Menschen die rechte Art zu leben zeigen. Es gibt jedoch viele Dinge, die durch den Buchstaben des Gesetzes erlaubt und nur vom Asepkt des „Was recht und gut in den Augen des Ewigen“ verboten sind. Hinsichtlich der Beschlagnahme von Eigentum wegen einer Schuld, stellten unsere Weisen fest, das Gesetz fordere nicht die Rückgabe eines solchen Eigentumes, aber es muss gemäss der Vorschrift „Was recht und gut in den Augen des Ewigen“ zurück gegeben werden. Diese spezielle Vorschrift zeigt, dass das Judentum nicht damit zufrieden ist, aktives böses Tun zu limitieren, sondern danach strebt, das potentiell Böse aus der Seele des Menschen auszurotten.

Haftara zu Wa’etchanan: Jesaja XL, 1-26