Sidra Schoftim: Schütze den Baum, schütze den Menschen

Paraschath haSchawu’a, der wöchentliche Toraabschnitt, kommentiert von Nechama Leibowitz

Diese Sidra gibt uns die Anleitung für das Verhalten auf einem Feldzug, die Beziehungen mit den Waffenbrüdern, dem Feind, den Gefangenen. Sie beinhaltet auch eine Passage, die sich unseren Beziehungen zur Pflanzenwelt widmet.

Wenn du eine Stadt lange Zeit belagerst, um sie zu bekriegen, sie einzunehmen, so vernichte nicht ihr Gehölz, dass du dagegen die Axt erhebest; denn du kannst davon essen, haue ihn also nicht um; denn ist der Baum des Feldes ein Mensch, dass er dir vor der Belagerung komme? Nur ein Baum, von dem du weisst, dass er kein Fruchtbaum ist, den magst du vernichten und umhauen, und Belagerungswerke gegen die Stadt bauen, die mit dir Krieg führt, bis sie gefallen.
(20, 19 – 20)

Der letzte Satz von Vers 19 ist schwer verständlich. Wir werden zuerst Raschi zitieren, der ihn als rhetorische Frage betrachtet, die das Verbot motiviert:

„Ki“ hat hier die fragende Bedeutung von: „Wirklich?“ ist der Baum des Feldes ein Mensch, der von dir belagert wird, Hunger und Durst zu leiden wie die Bewohner der Stadt? Warum solltest du ihn dann umhauen?

Die Buber – Rosenzweig Version der Bibel folgt Raschis Erklärung. Ibn Ezra unterscheidet sich jedoch und lehnt es ab, hier eine Frage zu sehen und ihn zu lesen, wie es Raschi wünscht: „Ist der Mensch ein Baum im Feld, von dir belagert?“ Ibn Ezra fragt: Warum sagen wir hier: „Haue keinen Fruchtbaum um, denn er ist nicht wie ein Mensch, der vor dir fliehen kann.“?
Er setzt fort:

Meiner Meinung nach brauchen wir das alles nicht. Aber das ist die Bedeutung: „denn du kannst davon essen, haue ihn also nicht um, denn der Baum ist das Leben des Menschen.“ Vergleiche: „denn er nimmt das Leben eines Menschen zum Pfand“, d.h. er nimmt etwas als Pfand, wovon der Mensch zu seinem Unterhalt abhängig ist.

Hirsch folgte Ibn Ezra und nimmt folgendes rabbinisches Diktum als Grundlage:

Das Leben des Menschen ist nur vom Baum.

Diese beiden Erklärungen reflektieren nicht nur divergierende grammatikalische Zugänge zum Text. Sie führen unabwendbar zu Differenzen in Bedeutung und Implikation. Nach der ersten Erklärung wird der Gehorsam durch Barmherzigkeit zu allen, was Gott geschaffen hat, inspiriert (vergl. den Midrasch über die Korruption des Landes vor der Flut: „Der Mensch hat gesündigt, aber worin besteht die Sünde des Landes?“). Gemäss der zweiten Erklärung wird der Gehorsam durch den Gedanken an menschliche Wohlfahrt motiviert.

Diese Unterscheidung wird auch von jenen unserer Autoritäten reflektiert, die sich bemühten den Grund für den Gehorsam zu erklären. Einige betrachten ihn als eine utilitaristische Vorschrift, die beabsichtigt, den Menschen vor der vorsätzlichen Zerstörung von Dingen, von denen er Vorteile hat, zu bewahren. Der Verfasser des Sefer ha-Chinuch, der immer versucht, hinter jeder Mitzwah ein erzieherisches Motiv zu entdecken, kommentierte so:

Diese Vorschrift beabsichtigt, Liebe zum Guten und Vorteilhaften einzuprägen. Dies führt zur Vermeidung von Zerstörung und der Förderung unseres Wohlbefindens. Dies ist der Weg der Frommen und Wertvollen, die Frieden lieben und sich am Wohlbefinden aller Menschen erfreuen, indem sie ihnen das Gesetz nahebringen. Sie leiden nicht am Verlust auch nur eines Senfkornes und sind nicht betrübt durch den Anblick eines Verlustes oder einer Zerstörung. Wenn sie helfen können, verhindern sie jegliche Zerstörung mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln. Aber anders ist es mit dem Bösem, der Verkörperung des zerstörerischen Geistes, der in der Korruption der Welt schwelgt und sich selbst korrumpiert. Der Mensch wird mit seinem eigenen Mass gemessen. Mit anderen Worten: er wird immer durch seine eigene Haltung beeinflusst. Wer das Gute will und sich an ihm erfreut, wird sich immer daran erfreuen können.

Diese Erklärung passt mit der Idee zusammen, dass der Baum im Text nur ein Beispiel ist, ein Prototyp. Unsere Weisen verstanden das Verbot, Fruchtbäume zu zerstören so, dass es verboten ist, absichtlich etwas zu zerstören, wovon der Mensch profitiert. Hier Maimonides‘ Formulierung des Gesetzes:

Man darf keine Fruchtbäume ausserhalb der (belagerten) Stadt (zu Kriegszwecken) umhauen oder ihnen die Wasserzufuhr abschneiden, um sie verdorren zu lassen, wie es heisst: „so vernichte nicht ihr Gehölz“. Wer sie umschneidet, dem gebührt die Strafe des Auspeitschens. Aber dies gilt nicht nur in Belagerungsfällen, sondern immer. Wer einen Fruchtbaum in zerstörerischer Absicht umhaut, dem gebührt das Auspeitschen. Aber ein Baum kann umgeschnitten werden, wenn er andere Bäume beschädigt oder den benachbarten Felden schadet oder weil er einen hohen Preis bringt. Die Torah hat nur absichtliche Zerstörung verboten. Dies ist nicht nur der Fall mit Bäumen. Wer Gegenstände zerbricht, Kleidungsstücke zerreisst, ein Gebäude beschädigt, einen Brunnen zuschüttet und Nahrungsmittel willkürlich zerstört, verletzt das Verbot von „Vernichte nicht …“
(Mischneh Torah, Melakim 6, 8, 10)

Wir sind nicht davon ausgeschlossen, Gottes Schöpfungen zu nutzen. Tatsächlich ist uns befohlen, sie zu „unterwerfen“, alle natürlichen Resourcen zu verwenden. Er hat sie uns zur Verfügung gestellt. Es ist an uns, die Wüste zu erobern und Pflanzen auszureissen, wo sie Schaden verursachen. Aber es ist die willkürliche Zerstörung der Gaben der Natur, die uns verliehen wurden, vor der wir gewarnt werden.
Es spielt keine Rolle, ob das Objekt unserer Zerstörung uns gehört. Niemand hat ein exklusives Recht auf etwas, nicht einmal auf sein Eigentum. Die Erde und ihre Fülle sind des Ewigen, wie der Psalmist sagt. Alles wurde uns anvertraut. Ausserdem muss der Mensch vor Selbstzerstörung bewahrt werden. Wenn es dem Menschen erlaubt wird, sich selbst und sein Eigentum ohne Hinderung zu regieren, ist es unbekannt, wohin dies führen wird. Der Talmud formuliert diese Gefahrt so:

Wer in Zorn Kleidungsstücke zerreisst, seine Gegenstände zerbricht, sein Geld verschwendet, den betrachte wie einen Götzendiener. Denn so sind die Handlungen der bösen Neigung. Heute sagt er zu dir: Tue dies und morgen, Tue das andere, bis der Punkt erreicht ist, wann er zu dir sagt: Diene Götzen. Und er wird hingehen und es tun.
(Schabbat 105b)

Weiterführende Fragen

1. „Wenn du eine Stadt lange Zeit belagerst“ und es erforderlich ist, Bäume zu fällen, um Belagerungswerk zu bauen. „Denn du kannst davon essen“ – du wirst diese Bäume als Nahrung fordern, nachdem du die Stadt eingenommen hast und sie dein sind. „Haue ihn also nicht um“ – den Fruchtbaum, der die Bewohner der Stadt nicht stärkt und befestigt – zum Beispiel die Bäume weit weg von der Stadt. „Wenn …“ Jedes Mal, wenn auf „ki“ eine Verneinung (lo) folgt, hat es die Bedeutung von „sondern“, „nur“. Sondern du magst jenen Baum fällen, um dessentwegen jemand vor deiner Belagerung entkommt. Mit anderen Worten, jene Bäume, in denen sich der Feind verbergen kann, um vor dir zu fliehen, jene Bäume nahe der Stadt – „nur die Bäume des Feldes, die dem Menschen helfen, vor deiner Belagerung zu entkommen.“

a) Welche Schwierigkeit findet Raschbam im Satz „Haue ihn also nicht um“?
b) Was ist der Unterschied zwischen Raschis und Raschbams Erklärung des Satzes „Denn ist der Baum des Feldes ein Mensch“?

2. Vergleiche folgende Stelle aus Jeremias mit unserem Text:

Denn so hat der Ewige, der Herr der Heerscharen, gesprochen: Fällt Bäume und schüttet einen Wall auf gegen Jerusalem. Sie, die Stadt der Lüge …
(Jeremias 6, 6)

Alschich und einige nichtjüdische Kommentatoren behaupteten, Jeremias spiele hier direkt auf unseren Text (Deut. 20, 19) an. Erkläre die Absicht des Propheten, was er durch den Kontrast zur Torah betonen wollte.

Um den Kontext des Satzes „Fällt Bäume …“ zu verstehen, zitieren wir hier aus Josephus Flavius: „Der jüdische Krieg“, 5. Buch, Kapitel 12:

Titus begabb abermals, einen Wall aufzuschütten, obwohl es schwierig war, das notwendige Holz zu beschaffen. Alle Bäume rund um Jerusalem waren bereits für frühere Wälle gefällt worden, die die Juden niedergebrannt hatten. Daher brachten die Soldaten neue Bäume von einer Entfernung von neunzig ris. Auf diese Art war es möglich, vier grosse Wälle, viel grösser als die vorigen, gegen die Stadt aufzuschütten.

Haftara zu Schoftim: Jesaja LI, 12 – LII, 12