Sidra Nitzawim – Wajelech – Es ist nicht im Himmel

Paraschat HaSchawua – Der wöchentliche Toraabschnitt, kommentiert von Nechama Leibowitz

In diesem Kapitel widmen wir unsere Aufmerksamkeit einer der vielen Passagen, die sich mit den Grundlagen des Judentums beschäftigen, die gegen Ende der Torah erscheinen:

Denn dieses Gebot, dass ich dir heute gebiete, ist dir nicht verborgen und ist nicht fern. Es ist nicht im Himmel, dass du sagest: Wer steigt für uns in den Himmel hinauf und holt es uns, und macht es uns kund, dass wir es tun. Und es ist nicht jenseits des Meeres, dass du sagest: Wer reist für uns jenseits des Meeres hin und holt es uns und macht es uns kund, dass wir es tun. Sondern sehr nahe ist dir die Sache, in deinem Munde und in deinem Herzen, es zu tun.
(30, 11 – 14)

Unsere Kommentatoren interpretieren diese Stelle aus unserer Sidra unterschiedlich. Die Frage lautet, ob sich „dieses Gebot“ auf die Pflicht der Reue, mit dem sich der vorhergehende Vers (1 – 10) beschäftigt, bezieht, oder ob die gesamte Torah, alle Verpflichtungen und Vorschriften in dem Wort „dieses Gebot“ zusammengefasst werden.
Nachmanides folgt der ersten Meinung, dass sich die Passage auf die Mitzwah der Reue bezieht, da die Torah betonen will, dass nichts im Wege steht und es gibt keine Entschuldigungen von Zeit, Ort und Umständen gibt, die Pflicht der Umkehr zu Gott nicht wahrzunehmen.
Die Passage „Wenn deine Verstossenen sein werden am Ende des Himmels …“ kommentierend, stellt er fest:

Obwohl du immer noch verstreut unter den Völkern bist, wirst du immer zum Ewigen umkehren können und alles tun, was ich dir heute gebiete: denn das ist nicht jenseits oder zu wunderbar für dich, sondern nahe und zu allen Zeiten und an allen Orten ausführbar. Dies ist die Bedeutung dieser Stelle: „So du gehorchen wirst der Stimme des Ewigen, deines Gottes, zu beobachten seine Gebote und seine Satzungen, die in diesem Buche der Lehre geschrieben; so du zurückkehren wirst zu dem Ewigen, deinem Gotte, mit deinem ganzen Herzen und deiner ganzen Seele.“

Von hier aus ist es klar, dass Nachmanides „dieses Gebot“ mit der Pflicht zur Umkehr verbindet, die am Anfang des Kapitels umrissen wird. Umkehr ist nicht abhängig von äusseren Bedingungen, wo Menschen leben oder vom Druck fremder Kulturen. Sie ist eine Angelegenheit der individuellen freien Wahl. Sie hängt vom Entschluss zur Umkehr zu Gott ab, egal wie sehr jemand schon entfremdet ist, wie zahlreich die Barrieren zwischen ihm und seinem Schöpfer bereits sind: „Sondern sehr nahe ist dir die Sache, in deinem Munde und in deinem Herzen, es zu tun.“
Albo, der grosse jüdische Philosoph des Mittelalters, nimmt in seinem Buch „Sefer Ha-Ikkarim“ (Buch der Prinzipien) einen ähnlichen Standpunkt ein: alle drei Sektionen des Kapitels bilden ein Ganzes:

Ein Blick auf Nitzawim wird uns davon übrzeugen, dass sich der Kontext mit dem Thema der Umkehr beschäftigt: „Siehe, ich lege dir heute vor das Leben und das Gute, … Zu lieben den Ewigen, deinen Gott, seiner Stimme zu gehorchen und ihm anzuhangen“ (30, 15, 20). Das Kapitel beginnt mit der Vorschrift der Umkehr: „Dass du zurückkehrest zu dem Ewigen, deinem Gotte, … mit deinem ganzen Herzen und deiner ganzen Seele.“ Danach preist der Text den Wert der Umkehr, indem darauf hingewiesen wird, wie leicht sie zu erreichen ist: „Denn dieses Gebot, dass ich dir heute gebiete, ist dir nicht verborgen und ist nicht fern.“ Der Text spielt sicher auf die Umkehr an. Ein Hinweis darauf sind die Worte „In deinem Munde und in deinem Herzen, es zu tun“. Zur Umkehr gehören Bekenntnisse aus dem Munde und Reue aus dem Herzen. Der Satz „Es ist nicht im Himmel“ plaziert einen sogar noch grösseren Wert auf Umkehr, indem betont wird, dass keine Anstrengung zu gross ist, sogar wenn es bedeutet, in den Himmel hinauf zu steigen, um Umkehr zu erreichen. Keine Besserungsversuche durch den Sünder reichen aus. Wieviel mehr gilt dies für verbale Reue, die durch den Propheten Hosea empfohlen wird: „Nehmt mit euch Worte und kehret um zum Ewigen“ (14, 3). Ein spezieller Akt göttlicher Gnade muss vermutet werden, um eine solche Umkehr akzeptabel zu machen. Daher ruft uns der Text auf, das „Leben zu wählen“. Nachdem die Möglichkeit der Umkehr demonstriert wurde, bestärkt der Text, dass es nur vernünftig ist, diese Gelegenheit nicht zu vernachlässigen, denn für uns ist es eine Angelegenheit von Leben und Tod. Das „Leben“, worauf hier angespielt wird, wird durch die Beobachtung dieser Satzung der Umkehr und ihres Zieles erreicht: „Zu lieben, den Ewigen, deinen Gott, seiner Stimme zu gehorchen und ihm anzuhangen; denn er ist dein Leben und deiner Tage Verlängerung, dass du wohnest auf dem Boden …“

Albo vertritt daher die Ansicht, dass wir es mit dem Gebot der Umkehr zu tun haben. Fü die meisten Kommentatoren ist diese Ansicht unhaltbar und sie stellen fest, dass wir uns mit dem ganzen Komplex der Beobachtung der jüdischen Gebote beschäftigen. Unsere Talmudweisen vermuten in der folgenden Passage, dass dies der Fall ist:

Setze bestimmte Stunden für das Torahstudium fest (mache jede Anstrengung und nutze jede Ausflucht, um die Torah zu fördern) wie R. Avdimi bar Hama zu dem Text bemerkte: „Es ist nicht im Himmel … es ist nicht jenseits des Meeres.“ „Es ist nicht im Himmel“ – Wäre es im Himmel, wärest du verpflichtet, danach zu gehen. „Es ist nicht jenseits des Meeres“ – wäre es jenseits des Meeres, wärest du verpflichtet, es zu überqueren, um dahin zu gelangen.
(Eruvin 55a)

Raschi wiederholt dieses Diktum und sein Kommentar veranlasste seinen Superkommentatro Misrachi zu folgender Frage:

Der Text stellt das Gegenteil fest: wäre die Torah im Himmel, keiner könnte sie herunterholen, um sie zu lehren. Man soll daraus schliessen, dass der Text nicht bedeutet, wir müssten zum Himmel hinaufgehen, um sie zu holen, wenn die Torah dort wäre.

Die Antwort auf diese Frage findet sich in der Formulierung des Textes. Es hätte einfach heissen können: „Es ist nicht zu schwer für dich, sie ist auch nicht zu entfernt: sie ist nicht im Himmel und sie ist nicht jenseits des Meeres.“ Das genügt, um den Kontrast zur abschliessenden Phrase „Sondern sehr nahe ist dir die Sache“ herzustellen. Die Tatsache, dass es nötig war, den Satz “ Dass du sagest: Wer steigt für uns in den Himmel hinauf und holt es uns … Wer reist für uns jenseits des Meeres hin und holt es uns“ hinzu zu fügen, zeigt folgendes: wäre sie wirklich so unerreichbar, wären wir trotzdem verpflichtet, ihr zu folgen. Die Formulierung der Frage lässt ihre Stichhaltigkeit vermuten. Der Text hat daher zwei verschiedene Bedeutungen:

Wäre die Torah unerreichbar: jenseits des Meeres oder im Himmel, hätten sie die stichhaltige Entschuldigung gehabt, zu argumentieren: Wer steigt für uns in den Himmel hinauf etc. Aber, da sie so nahe ist, gab es keine weitere Ausflucht.
Wenn die Beobachtung dieses Gebotes miteinschliesst, in den Himmel hinauf zu steigen zur Erleuchtung oder jenseits des Meeres zu reisen, wäre ihre Bedeutung so gross, dass wir die Pflicht hätten, sie zu erreichen, ausrufend: „Wer steigt für uns in den Himmel hinauf und holt es uns … Wer reist für uns jenseits des Meeres hin und holt es uns?“ Wieviel mehr, da sie uns so nahe ist, ist es unsere Pflicht, sie zu umfassen und ihr aus Liebe anzuhangen, „wie ein Gürtel den Hüften des Mannes sich anschliesst“ (Jeremias 13, 11)
(Be’er Jitzhak)

Beide Interpretationen lesen die Frage als eine rhetorische. Der Unterschied liegt darin, dass gemäss der einen Lesart, die rhetorische Frage eine negative Folgerung trägt (Vgl. Jesaja 40, 12: Wer mass mit seiner hohlen Hand das Wasser des Meeres? oder Jeremias 16, 20: Kann denn ein Mensch sich Götter machen?). Gemäss der anderen Lesart trägt die rhetorische Frage eine positive, flehende Konnotation. (Vgl: II Samuel 23, 15: Wer holt mir Wasser zum trinken aus der Quelle?) Obwohl die erste Lesart plausibler erscheint, zieht der Be’er Jitzhak die zweite vor:

Der Leser kann selbst sehen, dass die zweite Interpretation vorzuziehen ist. Neben der Überlegung, dass das Thema selbst so bedeutend ist und zu Recht fordert, dass wir in ihrem Dienst bis ans Ende der Welt gehen müssen, trägt die erste Lesart den Einwand, dass siw nichts Neues enthält. Wussten die Israeliten nicht, dass die Torah nicht im Himmel sit? Zumindest genügte es, festzustellen, dass sie weder im Himmel ist noch jenseits des Meeres. Die zusätzlichen Fragen unterstützen unsere Behauptung und machen die zweite Lesart plausibel.

Daher haben wir in unserem Text zwei Aspekte. „Es ist nicht im Himmel“ betont die Möglichkeit und Erreichbarkeit der Torah. Es gibt keine Entschuldigung für Vernachlässigung. Zu diesem Aspekt gehört auch die schwere Verantwortung, die auf den Studenten und Torahgelehrten ruht. Da sie nicht im Himmel ist, kann sich der Mensch nicht länger auf himmlische Führung verlassen, sondern muss sie erklären und mit eigenen Resourcen lehren und lernen.
Die Torah ist nicht das Eigentum einer privilegierten Priesterkaste und Eingeweihten. Sie ist nicht im Himmel, sondern in unserer Mitte. Es ist die Pflicht aller, zu studieren, zu lehren und ihre Grundsätze zu praktizieren.

Weiterführende Fragen:

1. Warum verwendet die Torah zwei negative Sätze: „nicht im Himmel, nicht jenseits des Meeres“, statt sich mit einem zufrieden zu geben? Erkläre den Grund für die Reihenfolge, in der sie erscheinen.

2. „Es ist nicht im Himmel“ – Rava sagte: „man findet sie nicht in jemandem, der seinen Intellekt hochhebt wie die Himmel.“ R. Jochanan sagte: „Es ist nicht im Himmel“ – man findet sie nicht bei den Stolzen.
(Eruvin 55a)

Beide zitierten Interpretationen scheinen dasselbe zu sagen, dass die Torah nicht bei den Stolzen zu finden ist. Erkläre den Unterschied zwischen Rava und R. Jochanan.

3. „Denn dieses Gebot … ist nicht im Himmel.“ Moses sagte zu ihnen: Dass ihr nicht sagen sollt, Moses geht und bringt uns eine andere Torah vom Himmel. Hiermit sage ich euch, es ist nicht im Himmel, nichts davon ist im Himmel geblieben.
(Dewarim Rabbah 8, 6)

Die Vorschriften der Torah sind von ewigem und bleibendem Wert, sie werden nicht geändert, es wird nicht hinzugefügt, es wird nichts weggelassen, wie es klar heisst: „All dasjenige, was ich euch gebiete, sollt ihr beobachten, es zu tun; tue nichts hinzu und nimm nichts davon“ (Deut. 13, 1) und „Das Verborgene ist des Ewigen, unseres Gottes, aber das Offenbare ist unser und unserer Kinder bis auf ewig – all die Worte unserer Lehre auszuüben“ (Deut. 29, 28). Daraus lernen wir, dass die Worte der Torah von ewigem Wert sind, eine Tatsache, die durch folgendes Statement noch betont wird: „ein immerwährendes Statut für alle Generationen.“ Es heisst: „Es ist nicht im Himmel“ – das bedeutet, dass kein Prophet in Zukunft berechtigt ist, irgendeine Innovation einzuführen. Sollte daher irgend jemand – Jude oder Nichtjude – auftreten, um ein Wunder oder Zeichen auszuführen und behaupten, der Ewige habe ihn geschickt, eine Vorschrift hinzu zu fügen, abzuschaffen oder von einer akzeptierten Interpretation (wie wir sie von Moses gehört haben) abzuweichen oder festzustellen, die Gebote, die Israel gegeben wurden, seien nicht für die Ewigkeit gedacht, sondern temporär, – dieser ist ein falscher Prophet. Ebenso, wenn er irgendeine jener Traditionen verwirft, die uns mündlich vom Sinai überliefert wurden oder feststellt, Gott habe ihm erklärt, das Gesetz sei gemäss einer gewissen Autorität in einem Disput – dieser ist ein falscher Prophet … sogar wenn er seine Meinung durch Zeichen autentisch zu machen versucht. Denn er ist gekommen, um die Torah, in der es heisst: „Es ist nicht im Himmel“ zu verwerfen.
(Maimonides, Kodex, Jesodei Ha-Torah 9, 1)

a) Erklärten Maimonides und Raschi unseren Text auf diesselbe Weise wie die vorher zitierten Kommentatoren oder haben sie einen anderen Zugang?
b) Gegen wen wenden sich die Ansichten des Midrasch (Dewarim Rabbah) und Maimonides‘?

Haftara zu Wajelech: Hosea XIV, 2 – 10