Paraschat HaSchawua – Der wöchentliche Toraabschnitt, Kommentiert von Nechama Leibowitz
Die Vorschriften für den Aussätzigen können nicht adäquat als sanitäre Maßnahmen erklärt werden. Die Tora nimmt keinen medizinischen Zugang an, sondern betrachtet die Krankheit als Symptom geistiger Unausgewogenheit. Unsere Weisen verbanden Aussatz mit der Sünde der bösen Reden:
R. Jochanan sagte im Namen von R. Jose ben Zimra: Die Verbreitung böser Reden ist gleichbedeutend mit der Leugnung Gottes, wie es heisst (Ps. 12, 5): „Unsere Zunge ist unsere Macht, uns helfen unsere Lippen, wer ist Herr über uns?“ R. Jose sagte weiters: Wer schlechte Reden verbreitet, wird von Seuchen heimgesucht … Resch Lakisch sagte: Was bedeutet der Satz „Das sei das Gesetz für den Aussätzigen“ (Metzora) – dies sei das Gesetz für denjenigen, der böse Reden verbreitet (mozi-schem-ra).
(Arachin 15b)
Soll das Hüten der Zunge wirklich so hoch bewertet werden? Bevor wir diese Frage beantworten, wollen wir uns daran erinnern, daß die Macht der Sprache den Menschen vom Tier unterscheidet. Er hat die Fähigkeit, sich auszudrücken und seine Leistungen den Nachkommen zu hinterlassen. Durch die Sprache ist der Mensch mit der Gesellschaft verbunden. Raschi, der sich in seinen Kommentaren zu den Berichten über das Stiftszelt und die Opfergesetze (die ideale Subjekte für solche Interpretationen darstellen) sehr bemüht, allegorische und homiletische Erklärungen zu vermeiden, zögert nicht, die symbolische Beziehung zwischen Aussatz und bösen Reden zu betonen:
„Zwei lebendige reine Vögel“: Da diese Seuchen Strafen für böse Reden sind, die aus nutzlosen Tratsch bestehen, wurde von ihm gefordert, zu seiner Reinigung Vögel zu bringen, die andauernd schwätzen und tschirpen.
„Zedernholz“: denn diese Seuchen sind Strafen für übertriebenen Stolz (die mächtige Zeder ist das Symbol von Überheblichkeit und Stolz).
„Karmesin und Ysop“: welches Mittel wird ihn heilen? Er muss von seinem Stolz herabsteigen wie der (purpurrote) Wurm und der Ysop (die niedrigste Pflanze).
Das Sefer HaChinuch zitiert ebenfalls die Interpretationen, denen Raschi folgt. Wir zitieren hier die Erklärung für das Eintauchen in das lebendige Wasser:
Das Eintauchen in Wasser symbolisiert die augenblickliche Neuschöpfung der unreinen Person, so wie die Welt zum Zeitpunkt der Schöpfung, bevor der Mensch in die Welt kam, völlig aus Wasser bestand. Der erneuernte Effekt an seinem Körper wird ihn veranlassen, sein Verhalten neu zu bewerten.
Und jetzt Hirschs Interpretation:
Der anti-soziale Charakter des wilden, ungezähmten Vogels steht im direkten Kontrast zum sozialen des Ausgestossenen, der sich wünscht, wieder in die menschliche Gesellschaft aufgenommen zu werden. Seine Wiederaufnahme jedoch ist abhängig von der Ausführung der Vorschrift „daß man einen Vogel schlachte“ (Lev. 14, 5). Damit wird symbolisiert, daß der Mensch seine früheren unkontrollierten, animalischen Instinkte den allumfassenden moralischen Forderungen der Gesellschaft unterordnen muss.
Zedernholz und Ysop, der grösste und kleinste Repräsentant der Pflanzenwelt, aber auch der purpurne Wurm symbolisieren die unbewohnte Feste der Natur, wohin er als Resultat seines anti-sozialen Verhaltens exiliert wurde – das Feld am Rande der Stadt. Der „lebendige Vogel“ symbolisiert seine animalischen Instinkte, deren natürlicher Platz das offene Feld sind und nicht die Gesellschaft.
Das siebenmalige Besprengen ermahnt denjenigen, dem befohlen wurde, allein unter den Pflanzen und Tieren des Feldes zu leben, daß er siebenfache Anstrengungen unternehme, um sein Benehmen zu reinigen und sich wieder zu einem Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu machen.
Wir haben die ernste Wirkung der bösen Reden, wie sie in der Tora reflektiert wird, bereits bemerkt. Wir zitiern nun einige Beispiele aus anderen Büchern der Bibel, um diese Bewertung zu bekräftigen.
Welche Sünden stellt Jeremias als Beispiel für die Verderbtheit seiner Generation in den Vordergrund?
Hütet euch voreinander, und keiner traue seinem Bruder. Denn jeder Bruder spielt Jakobs Rolle, und jeder Freund verbreitet Verleumdung. Einer hintergeht den andern, sie reden kein wahres Wort. Sie haben ihre Zunge eingeübt zum Lügenreden, sie sind gründlich verdorben.
(Jeremias 9, 3-4)
In den Psalmen ist eher der Verleumder als der Gewalttätige der Prototyp der Bösartigkeit. Die Verfolgung des Armen und Bedürftigen ist die unvermeidbare Begleiterscheinung der bösen Reden:
Seinem Nächsten redet jeder voll Trug mit falschen Lippen, mit zwiefachem Sinn. Vernichten möge der Ewige die Lippen der Lügner, die prahlerisch redende Zunge. Sie, die da sagen: „Unsere Zunge ist unsere Macht, uns helfen unsere Lippen, wer ist Herr über uns?“
(Ps. 12, 3-5)
Beide, der Psalmist und Jeremias vergleichen die böse Rede mit einem Pfeil:
Scharfe Pfeile des Kriegers, glühenden Ginsterbrand.
(Ps. 120, 4)
Ihre Zunge gleicht einem tödlichen Pfeil.
(Jeremias 9, 7)
Unsere Weisen beschäftigten sich mit diesem Vergleich:
Warum wird die Zunge mit einem Pfeil verglichen? Wenn jemand sein Schwert zieht, um seinen Mitmenschen zu töten, so bittet dieser um Gnade. Der ihn zu töten beabsichtigte, ändert seinen Sinn und steckt sein Schwert wieder in die Scheide. Ein einmal abgeschossener Pfeil jedoch kann nicht zurückgerufen werden, wünscht es der Schütze auch noch so sehr.
(Midrasch Schocher Tow)
Mit anderen Worten, der Schaden, der durch böse Reden verursacht wird, ist irreparabel. Wenn sie einmal vom Stapel gelassen wurden, beginnen sie ein unheilvolles Eigenleben zu führen, da sie von Mund zu Mund weiter gegeben werden:
Der Böse schlägt den Mitmenschen mit seiner Zunge wie mit einem Pfeil. Das Opfer weiss nichts davon, bis es ihn nicht wirklich erreicht hat. So werden die Folgen der Verleumdung vom Opfer erst gespürt, wenn ihn der Pfeil des Bösen ritzt.
(ebda)
Daher sind nicht die grossen Kanonen und Jets die gefährlichsten Feinde des Menschen, sondern die Worte jener, „deren Mund Lüge redet“ (Ps. 144, 11).
Der friedliebende Psalmist, umgeben von seinen Feinden, beendet seinen Psalm verzweifelt:
Ich will den Frieden: aber rede ich, so ist es für sie der Krieg.
(Ps. 120, 7)
Was erbat der Psalmist von Gott am Anfang seines Gebetes?
Rette meine Seele, Ewiger, vor der gottlosen Lippe, rette mich vor der tückischen Zunge.
(ebda, 2)
Aber für das geistige Wohlbefinden sind böse Reden und Verleumdungen, die man über sich selbst hört, nicht so gefährlich wie die Falschheiten, die von den eigenen Lippen ausgehen. Daher, beendet jeder Jude sein tägliches Gebet mit der folgenden Bitte:
O mein Gott, bewahre meine Zunge vor Bösem und meine Lippen vor Arglist.
Haftara zu Metzora: II Könige VII, 3-20