Sidra Lech Lecha – Abrahams Wahl

Der wöchentliche Toraabschnitt kommentiert von Nechama Leibowitz

Zwischen Adam und Noach gab es zehn Generationen. Der Abstieg des Menschen von Adams Suende bis zu Mord, Goetzenverehrung und Verderbtheit wird vor uns bis zur Vergeltung durch die Flut vorgefuehrt. Weitere zehn Generationen liegen zwischen Noach und Abraham. Die Suenden der Menschheit vermehrten sich nach der Flut.

Den Taten des maechtigen Jaegers Nimrod folgte die Aufteilung der Menschheit in Sprachen und Nationen, bis der Ewige sich entschied, ein spezielles Individuum aus ihnen zu erwaehlen. Ihn betraute er mit der Aufgabe, ein Koenigreich von Priestern und ein heiliges Volk zu gruenden. Dieser goettliche Akt, ein menschliches Wesen auszuwaehlen, hat den Beigeschmack von Diskriminierung und unfairen Privilegien. Wie es Rabbi Jehuda HaLevi dem Chasarenkoenig in den Mund legt: „Waere es nicht besser gewesen, Gott haette seine Zustimmung allen Menschen gleichermassen gegeben?“ Die Antwort auf diese Frage wird uns in einem Midrasch ueber den Vers 51,9 des Jeremiasbuches dargelegt.

„Gehe aus deinem Lande“ – Rabbi Azariah zitiert in diesem Zusammenhang die folgenden Verse: „Wir haetten Babylon geheilt, aber es ist nicht geheilt; verlasst es und jeder gehe in sein eigenes Land.“ „Wir haetten Babylon geheilt“ bezieht sich auf die Generation Enoschs; „aber sie ist nicht geheilt“ – auf die Generation der Flut; „verlasse es“ in der Generation der Zerstreuung; und „jeder gehe in sein eigenes Land“ auf „Und der Ewige sprach zu Abram: Gehe aus deinem Lande.“ (Bereschit Rabbah 39,5)

Der Midrasch fuehrt uns die Fehler der Menschheit in drei Stufen vor Augen. Der Heiler allen Fleisches versuchte, die Menschheit zu heilen, aber sie wurde nicht geheilt. Adam und seine Nachkommen fehlten. Mit Noach und seinen Nachkommen wurde ein neuer Anfang gemacht. Nach dem Turmbau zu Babel wurde die Menschheit in Nationen geteilt, und es gab keine weiteren Heilungsversuche. Die Menschheit wuerde nicht mehr zu ihrer urspruenglichen Einheit und Bruederlichkeit zurueckkehren, bis zum dritten Anfang. Dann wuerde ein Volk ausgewaehlt werden fuer den Segen: „Und es werden sich segnen mit dir alle Geschlechter des Erdbodens“, bis alle Voelker, die jetzt die Sprache des anderen nicht verstehen, abermals eine Familie werden.

Der Midrasch rechtfertigt die Notwendigkeit der Auwahl, da alle anderen Menschen scheiterten. Aber er erklaert nicht, was die Wahl Abrahams rechtfertigt. Die Tora erzaehlt uns kein einziges Detail aus Abrahams vorhergehenden Leben, das uns die goettliche Auswahl verstaendlich machen koennte. Noach fand Gnade in den Augen des Ewigen, da er, wie es geschrieben steht, in seiner Generation ein gerechter und untadeliger Mann war, der auf Gottes Wegen wandelte. Selbst der Berufung Moses‘ beim brennenden Dornbusch gehen die Geschichten ueber seinen Einsatz fuer die Sache seiner unterdrueckten Brueder in Aegypten voraus. Wir erfahren, wie er die Toechter Jithros in Midian beschuetzte und wie er die Herde seines Schwiegervaters fuehrte. Der RAMBAN bezieht sich auf diese Schwierigkeit.

Die Passage erhellt nicht alle involvierten Probleme. Welchen Sinn hatte der Befehl des Ewigen, seinen Geburtsort zu verlassen? Welchen Sinn hatte es, dass Gott ihm Belohnungen verhiess, ohne mitzuteilen, ob Abraham sie durch seine Loyalitaet zu Gott oder seine Gerechtigkeit verdiente? Gott sagt ihm auch nicht, dass er durch das Verlassen seines Heimatlandes eine groessere Naehe zu Gott erhalten werde. Es ist ueblich in solchen Faellen einen Satz wie „gehe auf meinem Pfad und hoere auf meine Stimme und ich will dich belohnen“ voranzustellen, wie bei David oder Salomon oder Bedingungssaetze wie „wenn du meine Gebote achtest“ oder „wenn du auf den Ewigen, deinen Gott, hoerst.“ Isaak wird von Gott gesegnet „um meines Knechtes Abraham willen“ (26,24). Aber sicher liegt kein Sinn darin, Belohnung und Segen fuer das Verlassen des Heimatlandes zu versprechen.

Zugegeben, die muendliche Ueberlieferung beschreibt Abrahams inneren Kampf, die Erkenntnis des wahren Gottes in seiner Jugend und seinen Krieg gegen die Goetzendiener zu Hause und im Ausland. Basierend auf diesen Traditionen rekonstruierte der RAMBAN Abrahams fruehes Leben. Er verbindet Abrahams Erwaehlung nicht mit seinem Feldzug gegen den Goetzendienst. Gott erwaehlte Abraham wegen seines vorzueglichen Lebenswandels.

Der wirkliche Grund fuer das goettliche Versprechen war die Tatsache, dass die Chaldaeer Abraham wegen seines Glaubens an Gott verfolgten. Er floh vor ihnen Richtung Kanaan und weilte in Haran. Dann erschien ihm Gott und trug ihm auf, Haran zu verlassen und weiter zu gehen, als er vorgehabt hatte, um Gott zu dienen und andere Menschen im Gelobten Land um den wahren Gott zu scharen. Dort wuerde sein Name gross werden und die Nationen wuerden durch ihn gesegnet werden. In Chaldaea hatte man ihn verachtet, wegen seines Glaubens geschmaeht und in den Feuerofen geworfen. Im neuen Land wuerde Gott jeden segnen, der Ihn segnete und jeden verfluchen, der Ihn verfluchte.

Unsere Weisen sind mit der Beschreibung Abrahams als Goetzenzertruemmerer und Kaempfer fuer den wahren Glauben bis zum Maertyrertum nicht zufrieden. Sie halten ihm zugute, dass er die ganze Tora hielt, sogar noch bevor sie gegeben wurde. Unsere Weisen wollten wahrscheinlich betonen, dass der Glaube an einen Gott und der wahre Glaube im Judentum ohne die Befolgung der Gebote nicht moeglich sind. Wer immer einen Gott anerkennt, muss logischerweise seine Gebote beobachten. Wenn es Abraham verdiente aufgrund seiner Leistungen in seiner Jugend von Gott erwaehlt zu werden, warum zaehlt die Tora diese Leistungen nicht auf? Darauf antwortet der RAMBAN:

Die Tora wuenschte nicht, sich mit den Meinungen der Goetzendiener auseinanderzusetzen und sich mit den religioesen Problemen in Abrahams Kontroverse mit den Chaldaeern zu beschaeftigen. Ebenso handelt die Tora nur sehr kurz die Generation Enoschs und ihre Goetzenverehrung ab.

Die Antwort stellt nicht zufrieden. Sicherlich, die Tora haette einen Weg finden koennen, Abrahams Kampf zu beschreiben, ohne den Praktiken der Goetzenverehrung zu viel Raum zu geben! Aber noch eine andere Antwort wurde vorgeschlagen. Abraham war dazu ausersehen, vom Ewigen zehn Mal versucht zu werden. Die Tora interessierte sich nicht fuer Abraham als Sohn Terachs oder Untertan Nimrods, sondern nur fuer seine Rolle als Stammvater des juedischen Volkes und als Traeger der goettlichen Botschaft. Die Tatsache, dass Gott ihn als „Objekt“ seiner Versuchungen aussuchte, ist schon der Beweis, dass er wuerdig war, auserwaehlt zu werden. Diese Idee wird vom Midrasch vorgelegt:

Rabbi Jonathan sagte: Ein Toepfer probiert keine gesprungenen Toepfe aus, auf die man nicht ein Mal schlagen kann, ohne dass sie zerbrechen. Was probiert er aus? Gute Topefe, die nicht zerbrechen, auch wenn man viele Male auf sie schlaegt. Ebenso versucht der Ewige, gepriesen sei Er, nicht den Boesen, sondern den Gerechten, da es heisst: „Der Ewige versuchte den Gerechten…“ (Bereschit Rabbah 32)

Und so folgt vom ersten „Lech lecha“ bis zum Schluss der Sidra „Wajera“ eine Versuchung nach der anderen.

Weiterfuehrende Fragen:

1. „Und der Ewige sprach zu Abram: Gehe aus deinem Lande und aus deinem Geburtsorte und aus dem Haus deines Vaters in das Land, das ich dir zeigen werde. (12,1)
„Nimm doch deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebst, den Jitzchak, und gehe hin in das Land Moriah und bringe ihn dort zum Opfer auf einem Berge, den ich dir ansagen werde. (22,2)
Rabbi Levi bar Hama sagte: Der Ewige, gepriesen sei Er, sagte zu ihm: In der ersten und letzten Probe versuche ich dich mit „Gehe hinaus“, „Gehe aus deinem Lande“ und „Gehe hin in das Land Moriah“. (Tanhuma Jaschan 4).
Moderne Gelehrte zeigten, dass die Schrift Schluesslewoerter und -saetze benutzt, um die Verbindungen zwischen verschiedenen Geschichten der Bibel oder Teilen einer Geschichte hervorzuheben. Aber unsere Weisen gingen viel weiter als die modernen Gelehrten. Sie unterstrichen die Identitaet von Ausdruecken, um die betreffenden Ereignisse und Lehren, die aus ihnen gezogen werden, zu verbinden. Sie verwoben diese Faeden sogar zwischen Vorschriften und Fakten und nur zwischen Vorschriften.
Erklaere den Zusammenhang zwischen den beiden Bibelstellen. Was wollten unsere Weisen betonen?
Welche anderen sprachlichen Beweise findest du, um unsere Passage mit dem Vers in Kapitel 22 zu verbinden?
Einige Kommentatoren fragen: Was fuegt das Wort „wajakom“ (und er machte sich auf) (22,3) hinzu, nachdem es im Text bereits hiess „wajaschkem“ (er stand Morgens frueh auf)? Eine aehnliche Einschaltung gibt es in Genesis 43,15: „Und die Maenner nahmen dieses Geschenk und zweifaches Geld nahmen sie in ihren Haenden mit, und auch Benjamin, und machten sich auf (wajakumu) und zogen nach Mitzrajim…“ Die andere Stelle ist Genesis 42,3: „Da zogen hinab zehn Brueder Josefs, Getreidevorrat zu kaufen aus Mitzrajim.“
Kannst du erklaeren, warum die beiden Offenbarungen (der Kapitel 12 und 22) nicht mit den Worten „Und der Ewige erschien ihm“, wie in 12,7; 17,1 und 18,1 eroeffnet werden?

2. Welche Meinung des RAMBAN ueber das Wunder des Feuerofens erkennen wir aus dem Zitat?

3. Welches ist der wichtigste Gedanke im letzten Satz des zweiten RAMBAN Zitates: “ Im neuen Land wuerde Gott jeden segnen, der Ihn segnete und jeden verfluchen, der Ihn verfluchte“? Welche stilistische Abweichung wird dadurch erklaert?

4. Auf welchen Vers in der Sidra Bereschit spielt der RAMBAN im letzten Zitat an: „die Generation Enoschs und ihre Goetzenverehrung“?

Haftara zu Lech lecha: Jesaja XL,27 – XLI,16.