Sidra Ki-Tissa: Das Zerbrechen der Bundestafeln

Paraschat HaSchawua, der wöchentliche Toraabschnitt kommentiert von Nechama Leibowitz

Und es geschah, als er dem Lager nahte und
das Kalb sah und Reigentänze;
da entbrannte der Zorn Moschehs,
und er warf aus seinen Händen die Tafeln
und zerschlug sie unten am Berge.
(32, 19)

Unsere Kommentatoren beschäftigten sich mit vielen Schwierigkeiten, die in dieser Passage auftauchen. Wir wählen zwei davon aus: eine bezieht sich auf die erste Hälfte, die andere auf die zweite.

A

Moses‘ Zorn enbrannte. Er hatte gerade eine Auseinandersetzung mit Gott hinter sich, in der er versuchte, Seinen Zorn zu versöhnen. Er hatte Sein Recht, zornig zu sein, in Frage gestellt und Ihn schließlich angefleht, „von seiner Zornesglut umzukehren.“ Jetzt war er selbst zornig. Es gibt hier keinen Widerspruch. Moses‘ Pflicht als Prophet war es, für das Volk zu intervenieren (siehe Gen. 20, 7: „Denn ein Prophet ist er und wird für dich beten.“). Aber als Mann Gottes war es auch seine Pflicht, Gott nachzuahmen. Was Seinen Zorn hervorrief, sollte auch ihm mißfallen.

Aber die wirkliche Frage lautet nicht, warum Moses überhaupt zornig war, sondern gerade zu diesem bestimmten Augenblick, als er sich dem Lager näherte und der Szene ansichtig wurde. Sicherlich, alles war ihm vom Ewigen vorausgesagt worden:

Denn ausgeartet ist dein Volk, das du heraufgeführt aus dem Lande Mitzrajim. Sie sind bald gewichen von dem Wege, den ich ihnen geboten; haben sich gemacht ein gegossenes Kalb und sich davor niedergeworfen, und ihm geopfert und haben gesprochen: Das sind deine Götter Israel, die dich heraufgeführt aus dem Lande Mitzrajim.
(32, 7-8)

Was war das Neue, dessen Zeuge er gerade geworden war? Warum entbrannte sein Zorn gerade jetzt? Diese Frage wurde im Midrasch dramatisch behandelt, indem sie in den Mund Gottes gelegt wurde:

Moses stieg vom Himmel herab und hielt die Tafeln. Woher wissen wir, daß er sie nicht zerbrach, bevor er mit eigenen Augen sah, was geschah? Aus dem Text: „Und es geschah, als er dem Lager nahte und das Kalb sah und die Reigentänze, da entbrannte der Zorn Moschehs.“ Der Ewige sagte: Moses, hast du mir nicht geglaubt, als ich dir sagte, daß sie ein Kalb gemacht haben?
(Devarim Rabbah)

Die Antworten der Kommentatoren zu diesem Problem repräsentieren einen von zwei Zugängen. Einige schlagen vor, das was Moses sah, passte nicht genau zu dem, was Gott ihm auf dem Berg gesagt hatte. Das „Tanzen“ war nicht Teil der göttlichen Voraussage. Diese Tatsache scheint auch syntaktisch untermauert.
Das Verbum „ja-ar“ – „er sah“ hat zwei Objekte: „Kalb“ und „Reigentänze“. Seltsamerweise ist das erste Objekt genau bestimmt: „das Kalb“ („ha-egel“); das zweite ist unbestimmt: „u-mecholot“ („und Reigentänze“). Der Artikel wird nicht wiederholt, wie es im Hebräischen üblich ist. Ibn Ezra löst dies auf seine charakteristische Weise, indem er darauf hinweist, der zweite Artikel werde durch den ersten verstanden, der erste „trage auch den zweiten.“ Eine solche Tilgung oder „Ausdehnung des ersten Artikels auf das zweite oder dritte Hauptwort“ bedarf nach Ibn Ezra keiner weiteren Erklärung.

Aber er erklärt nicht, warum die Tora gerade hier diese Tilgung oder Ausdehnung macht. Warum wiederholt der Text nicht den bestimmten Artikel vor dem zweiten Objekt, wie es üblicher ist? Die Schwierigkeit wird sofort gelöst, wenn wir akzeptieren, daß das Kalb aus Gottes Botschaft auf dem Berg bekannt war. Moses sah „das“ Kalb, von dem ihm Gott vorher gesprochen hatte. Das Tanzen aber sah er zum ersten Mal.

Andere Kommentatoren schlagen vor, es sei die Diskrepanz gewesen zwischen dem, was ihm gesagt worden war und dem, was er sah, was dann seinen Zorn entfachte. So wird unsere frühere Frage beantwortet.

Das Wesen der Gottesverehrung besteht darin, daß sie mit Freude und einem glücklichen Herzen ausgeführt wird. Ebenso für jene, der Seinen Willen übertraten: Hoffnung bleibt dem, der sündigt und darüber bekümmert ist, zu bereuen und Wiedergutmachung zu leisten. Wer aber in seiner Schlechtigkeit verharrt, ist – Gott verhüte – ein hoffnungsloser Fall. Der Ewige sagte Moses nicht, daß sie sich auch noch erfreuten. Er war deshalb nicht so zornig. Aber als er das Kalb und das Tanzen sah, daß sie sich auch noch daran erfreuten, das machte seinen Zorn brennen.
(Alshikh)

Sforno sagte dasselbe kürzer:

„Mit den beiden Tafeln des Zeugnisses in seiner Hand“. Er dachte, daß sie ihre Sünde bereits bereut haben würden, wenn er sie erreichte, und wenn nicht, würde er die Tafeln vor ihnen zerbrechen, um ihre Reue zu verursachen. „Und das Kalb sah und Reigentänze“. Dann sah er, daß sie in ihrer Schlechtigkeit verharrten: „Du sündigst und dann erfreust du dich“. Dies ließ den Zorn Moses‘ entbrennen und ihn verzweifeln, ob er fähig sein werde, die Angelegenheit ins reine zu bringen, sie zur Reue zu bewegen, um der Tafeln wert zu sein.

Mit anderen Worten: es war nicht die Herstellung des Kalbes, was seinen Zorn entfachte – dies hatte er bereits vorher gewusst – sondern die Haltung des Volkes gegenüber dieser Handlung. Es war ihr darauf folgendes Verhalten, die Schwelgerei und das Fehlen jeglicher Reue, was ihn verzweifeln ließ.

Hirsch bearbeitet denselben Punkt in seinem Kommentar zum Pentateuch:

Solange die falschen Konzeptionen des Götzendienstes nur in unserem Intellekt verwurzelt sind, können sie durch Aufklärung und Unterricht ausgerottet werden. Falsche Vorstellungen können durch die Kraft der Wahrheit korrigiert werden. Daher sind die Tore der Reue noch immer weit offen. Wenn aber die Konzeptionen des Götzendienstes durch die Barriere des Intellektes brechen und anfangen, das Verhalten des Menschen zu demoralisieren, werden seine unkontrollierbaren Leidenschaften öffentlich auf dem Altar der Falschheit geweiht. Sie entwickeln sich und werden der Inhalt des Herzens. So leicht es ist, den intellektuell missgeleiteten aufzuklären, so schwierig ist es, den unlenkbaren, korrupten und unmoralischen Mob zur Umkehr zu bringen. Solange Moses von der Sünde des Goldenen Kalbes und seiner Vergöttlichung nur wusste, glaubte er, das Volk auf den Pfad der Tora zurückbringen zu können. Er brachte die beiden Bundestafeln vom Berg herunter. Aber sobald er das Kalb und die Tänze sah, erkannte er, dasß das abergläubische Gift bereits begonnen hatte, zu wirken. Die schlechten Leidenschaften regierten schon, alle Bande der Moral waren zerbrochen. Er erkannte auchm daß ein neues Volk geschaffen werden müsste, fähig, die Tora zu erfüllen. Ohne Nachzudenken und ohne Zögern warf er die Tafeln auf die Erde und zerbrach sie. Denn das Volk war es nicht wert und auch nicht fähig, die Tora zu empfangen, die er ihm gebracht hatte.

Einige Kommentatoren ziehen sich in eine psychologische Erklärung zurück. Keine neue Information verursachte Moses‘ Zorn, sondern daß er sah, wovon er vorher nur gehört hatte. Arama schlägt dies in seiner zweiten und wahrscheinlich definitiven Antwort vor:

Ich stelle mir vor, obwohl Moses keinen Moment daran zweifelte, daß sie eine schwere Übertretung begangen hatten, konnte er nicht begreifen, daß die Dinge durch die Herstellung des Goldenen Kalbes so einen Höhepunkt erreicht hatten. Vielleicht hatten sie etwas Schändliches getan, das in der Herstellung des Kalbes seinen Ausdruck fand. Und wenn sie vielleicht auch eines gemacht hatten, waren nicht alle beteiligt. Vielleicht bedeutete die göttliche Botschaft „denn ausgeartet ist das Volk“ nicht mehr als die an Josua, als Er sagte: „Israel hat gesündigt, es hat den Bund verletzt, den ich ihm auferlegt hatte. Ja, sie haben genommen, was im Banne war, sie haben es gestohlen, sie haben es verhehlt, sie haben es unter ihre Sachen getan.“ (Josua 7,11). (Tatsächlich war nur eine Person beteiligt: Achan). Und wenn sie auch gesündigt hatten, vielleicht hatten sie bereut, oder einige hatten protestiert. Als er ankam, bemerkte er, daß der Bericht buchstäblich stimmte.

Seine zweite Antwort:

Das ist nicht ein so schwieriges Problem, wenn wir daran denken, daß Sehen ein viel lebhafteres Erlebnis ist als Hören, sogar wenn wir keinen Zweifel daran haben, daß das Gehörte stimmt.

Sogar Moses, der Meister der prophetischen Vision, konnte sich, obwohl er die Information über das Goldene Kalb direkt von Gott erhalten hatte, die Szene der Götzenverehrung so lebhaft vorstellen, wie er sie dann mit eigenen Augen sah. Erst als ihm die häßliche Szene ins Gesicht starrte, flammte sein Zorn auf.

B

Ein viel schwierigeres Problem stellt sich in der zweiten Hälfte unseres Verses – das Zerbrechen der Tafels. Was erhoffte sich Moses davon, was wollte er dadurch erreichen. Und wer erlaubte ihm, das zu tun?
Der folgende Vorschlag des Raschbam („Und er warf aus seinen Händen die Tafeln“) ist nicht plausibel:

Als er das Kalb erblickte, verlor er seine Vitalität und er schaffte es gerade, die Tafeln so weit weg zu stossen, damit sie nicht auf seine Füsse fielen. Er war wie jemand, dem die Last zu schwer ist. So sah ich es in Pirkei Derabbi Eliezer („Moses konnte weder sich selbst noch die Tafeln tragen. Er warf sie aus seinen Händen und sie zerbrachen“). Das ist die Szene.

Ähnlich bemerkt Raschbam in Deuteronomim, daß „Ich zerbrach sie“ bedeutet „Ich hatte nicht genug Kraft“.
Offensichtlich bewegt sich der Literalist par excellence Raschbam hier weit weg vom buchstäblichen Sinn. Im Text gibt es keinen Hinweis darauf, daß Moses‘ Kraft ihn verließ. Im Gegenteil, er betont seine positive und energische Handlung:

Und ich ergriff die zwei Tafeln
und warf sie aus meinen beiden Händen
und zerschlug sie vor euren Augen.
(Deut. 9, 17)

Und nicht, daß sie von selbst zerbrachen.

Unsere ursprüngliche Frage bleibt daher unbeantwortet.Was hoffte Moses durch diese absichtliche Zerstörungshandlung zu erreichen? Be’er Jitzchaks Formulierung ist genauer:

Das Zerschlagen der Tafeln erscheint seltsam und erstaunlich. Diese Tat wurde durch Zorn verursacht. Wir wissen, es ist verboten, sogar das kleinste Gefäß zu zerbrechen, wieviel mehr so heilige und wertvolle Gegenstände!

Viele verschiedene Antworten wurden vorgeschlagen. Einige unserer Weisen betrachten Moses‘ Handlung als Teil eines Programmes der Vermittlung und Abschwächung von Israels Sünde, als einen Versuch, etwas von der Schuld mit ihnen zu teilen:

„Schon gedachte er, sei ganz zu verderben, wäre nicht Moses gewesen, sein Erwählter“ (Psalm 106, 23). Rabbi Samuel b. R. Nachman sagte: Als Israel diese Tat ausführte, saß der Ewige, gepriesen sei Er, über es zu Gericht, um es zu verdammen, wie es heißt: „Jetzt laß‘ mich sie zerstören.“ Er kam zum letzten Urteil, wie es heißt: „Wer anderen Göttern opfert neben dem Ewigen, soll zerstört werden.“ Was tat Moses? Er nahm die Tafeln aus der Hand des Ewigen, um seinen Zorn zu besänftigen. Womit kann dies verglichen werden? Mit einem Prinzen, der einen Heiratsvermittler schickt, um sich mit einer Frau zu verloben. Er ging, aber sie hatte sich inzwischen mit einem anderen eingelassen. Was machte er? Er nahm die Heiratsurkunde, das ihm der Prinz gegeben hatte und zerriss es. Er sagte: Sie soll besser als unverheiratete Frau gerichtet werden und nicht wie eine verheiratete.
Moses tat das gleiche. Als Israel diese Tat ausführte, nahm auch er die Tafeln und zerbrach sie. Ferner sagte Moses: Es ist besser, daß sie als unabsichtliche Sünder gerichtet werden und nciht als absichtliche. Hätten sie ihre Strafe gekannt, sündigten sie nicht.
(Shemot Rabbah 43, 1)

Moses wird hier als Anwalt der Sache Israels gezeichnet. Er versucht, ihr falsches Verhalten zu mildern. Ein ähnlicher Zugang, aber mit einem optimistischeren Ende, wird in Avot DeRabbi Natan, skizziert:

… Er (Moses) nahm sie (die Tafeln) und begab sich voller Freude auf den Weg den Berg hinunter. Sobald er des schrecklichen Schauspiels der Verehrung des Goldenen Kalbes ansichtig wurde, sagte er: Wie kann ich ihnen die Tafeln geben? Sie würden ernste Gesetzesübertretungen begehen durch den Himmel mit dem Tod bestraft werden, da es geschrieben steht: „Du sollst keine anderen Götter ausser mir haben.“ … R. Jossi der Galiläer sagte: Ich will Euch ein Gleichnis erzählen. Womit kann dies verglichen werden? Mit einem irdischen König, der zu seinem Diener sagte: Geh und verlobe für mich eine Frau, anmutig und keusch, von schicklichem Betragen. Der Diener ging und verlobte sie. Nachdem er sie verlobt hatte, entdeckte er, daß sie die Hure eines anderen Mannes gespielt hatte. Sofort dachte er: wenn ich ihr jetzt das Heiratsdokument gebe, verurteile ich sie zum Tod, aber ich werde es zerreissen und sie für immer von ihrem Herrn trennen.
Moses, der Gerechte, dachte ebenso. Wie kann ich Israel diese Tafeln geben? Sie würden ernste Gesetzesübertretungen begehen durch den Himmel mit dem Tod bestraft werden, da es geschrieben steht: „Wer anderen Göttern ausser dem Ewigen opfert, soll zerstört werden.“ Stattdessen werde ich sie zerbrechen und das Volk bessern. Moses‘ Handlung fand mit dem Einverständnis des Ewigen statt, wie es heißt: „Die Tafeln, die du zerschlugst.“ Was bedeutet: „Mehr Macht für dich, da du sie zerbrachst.“

Der folgende Midrasch unterstreicht sogar noch mehr die Selbstaufopferung Moses“, des treuen Schafhirten:

„Und ich schaute, und siehe, ihr hattet gesündigt gegen den Ewigen, euren Gott!“ (Deut. 9, 16) Als er erkannte, daß es für Israel keine Zukunftshoffnung gab, warf er sein Schicksal in das des Volkes und zerschlug die Tafeln und sprach zum Ewigen, gepriesen sei Er: Sie haben gesündigt, und auch ich, da ich die Tafeln zerschlug. Wenn Du ihnen vergibst, vergib auch mir, da es heißt: „Und jetzt, wenn Du ihnen vergibst, vergib auch meine Sünde. Wenn Du ihnen aber nicht vergibst, vergib mir nicht, sondern „ich bitte Dich, lösche mich aus Deinem Buch, welches Du geschrieben hast.“
(Shemot Rabbah)

Nach diesen drei Midraschim verteidigte Moses Israel durch das Zerschlagen der Tafeln, um ihre Sünde abzuschwächen, verband er sein Schicksal mit dem ihren.
Raschi jedoch fand diese Interpretation nicht akzeptabel. Sie war zu weit vom buchstäblichen Sinn des Textes entfernt, nach dem Moses“ Handlung durch seinen Zorn motiviert war. „Moses‘ Zorn brannte.“ Raschi fühlte die Verpflichtung, jene Erklärungen des Midrasch einzufügen, die sich so nah wie möglich an den Kontext hielten. Daher übernahm Raschi die Lesart des Talmud (Shabbat 87a) in seinen Textkommentar zu: „Er warf die Tafeln aus seinen beiden Händen“:

Wenn die Tora hinsichtlich Pesach, das nur eines der Gebote ist, feststellt, daß „kein Fremder davon essen soll“ (Ex. 12, 43), dann umso mehr, wenn die gesamte Tora auf dem Spiel steht und ganz Israel Fremde sind.

Gemäß dem Vorangegangenen, wollte Moses die Israeliten streng bestrafen, als er sah, daß sie des kostbaren Geschenkes, das er mit sich trug, unwürdig waren. Durch ihre unbesonnene Tat hatten sie den Bund mit dem Vater im Himmel gebrochen. Daher zerbrach er die Tafeln vor ihnen am Fuß des Berges.
Abravanel beobachtet:

Ich stelle mir vor, daß Moses sie an dem Platz zerschlug, an dem er den Altar gebaut hatte, am Fuße des Berges, am Tag, an dem die Tora empfangen wurde. Er zerbrach sie, so wie jemand ein Gesetzesdokument zerreisst, das geschändet wurde. Er zerbrach sie nicht auf dem Berg, als er von der Sünde des Goldenen Kalbes erfuhr, sondern im Lager. Denn hätte Israel die Tafeln, dieses verehrungswürdige Werk Gottes nicht intakt gesehen, wären sie wegen der Fragmente nicht bewegt gewesen, denn die Seele wird durch Gesehenes mehr beeindruckt als durch Gehörtes. Daher brachte er sie vom Berg herab, um sie dem Volk zu zeigen. Und dann zerschlug er sie vor ihren Augen.

Isaak Arama schlägt eine andere Sichtweise vor, obwohl er ebenfalls von der Annahme ausgeht, daß Moses sie erschrecken wollte:

Vielleicht fand er es passend, um ihnen eine Lektion zu erteilen und zu erschrecken, wie unsere Weisen im Namen von R. Jochanan ben Nuri sagen: „Wer sein Gewand im Zorn zerreisst, Gefässe im Zorn zerbricht und sein Geld im Zorn zerstreut, den betrachte man als einen, der Götzen verehrt, denn dies sind Handlungen der Bösen Neigung. Heute sagt sie ihm: Tu dies! Und morgen sagt sie ihm: Tu das! Bis er zur Götzenverehrung aufgefordert wird, hingeht und sie ausführt.“

Der Talmud setzt seine Diskussion zu diesem Thema fort und äussert einen Vorbehalt. Der Zorn wurde nicht durch Selbstsucht motiviert, sondern durch den Wunsch, den eigenen „Haushalt“ zu disziplinieren. Dies ist nicht gleichbedeutend mit Götzendienst. Wenn jemand seinen Familienmitgliedern gegenüber sein Erschrecken und seine Enttäuschung über ihr Mißverhalten ausdrücken will, um sie zu verbessern, wird er von erzieherischen Motiven geleitet. Isaak Arama wendet dieses Prinzip auf unseren Fall an:

Als Moses sich ihnen näherte, sah er, daß das Kalb, worüber der Ewige gesprochen hatte, buchstäblich ein Kalb war, nicht mehr und nicht weniger. Der Lärm, den er gehört hatte, waren keine Schmerzenslaute, sondern der ungehemmte Tumult götzendienerischer Schwelgerei. „Da entbrannte der Zorn Moschehs, und er warf aus seinen Händen die Tafeln und zerschlug sie unten am Berge.“ Damit wollte er ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen und sie beschämen.
Der Text in Deuteronomium passt auf diese Interpretation. „Und ich ergriff die zwei Tafeln und warf sie aus meinen beiden Händen und zerschlug sie vor euren Augen.“

Mit anderen Worten: Moses sah keinen anderen Ausweg, um die Israeliten wieder zu besinnen, als vor ihren Augen die Tafeln zu zerschlagen, die er gerade am Sinai aus der Hand des Ewigen empfangen hatte.
Der Neziv gibt in Ha’amek Davar eine ähnliche Interpretation:

Der Text beschreibt die Größse Moses‘, wie er das Kalb nahm und verbrannte, und ihm niemand entgegentrat. Dagegen hatten sie Aaron gezwungen, es herzustellen. Dies geschah, weil Moses – mit tiefer psychologischer Einsicht – die Tafeln nicht am Berg zerbrochen hatte, sondern beschlossen hatte, zu warten, um sie zu dem Zeitpunkt zu zerschlagen, zu dem es sie am meisten beeindrucken würde. Er wollte sie erschrecken und bekümmern, und zwar zu einem solchen Grad, daß sie es nicht wagen würden, seine strengen Erziehungsmaßnahmen zurück zu weisen. Vor ihren Augen zerbrach er einen einzigartigen Schatz.

Aber war Moses‘ Handlung absichtlich auf ein erzieherisches Ziel gerichtet, wie diese beiden Kommentatoren darstellen? Wartete er wirklich, wie es der Neziv vorschlägt, bis der psychologische Augenblick gekommen war? Ein solches Bild lässt sich aus dem Text nicht ableiten. Im Gegenteil:

Und es geschah, als er dem Lager nahte und das Kalb sah und Reigentänze; da entbrannte der Zorn Moschehs, und er warf aus seinen Händen die Tafeln und zerschlug sie unten am Berge.

Das war keine vorbedachte Handlung, sondern eine spontane Reaktion, verursacht durch Entrüstung.
Ramban nahm daher einen ganz unterschiedlichen Standpunkt ein. Er beantwortet nicht die Frage, welchen Zweck Moses im Sinn hatte, sondern, was diese Handlung verursachte:

Moses zögerte nicht, sie zu zerschlagen, da sein Zorn aufstieg, als er ihr schlechtes Verhalten sah. Er konnte sich nicht beherrschen … (über 32, 16). Als ich euch vor dem Kalb tanzen sah, konnte ich mich nicht beherrschen und zerschlug die Tafeln … (über Deut. 9, 17).

Ramban konnte sich nicht vorstellen, daß Moses, dessen Herz sicher von Liebe zum Ewigen, zu Israel und zur Tora erfüllt war, in diesem Augenblick kaltblütig genug handeln konnte, um etwas absichtlich zu planen, entweder zur Erleichterung ihrer Strafe oder um sie durch das Zerschlagen der Tafeln aus ihrer Selbstzufriedenheit zu wecken. Was geschah, war unabsichtlich. Nach Ansicht des Ramban war es keine physische, sondern eine spirituelle Schwäche, die ihn überkam, Zorn und geistiger Schmerz wegen ihres Verhaltens: „Er konnte sich nicht beherrschen.“
Ich gebe zu, es ist schwierig, die Idee zu akzeptieren, daß Moses die Tafeln absichtlich zu zerschlagen plante. Aber die Alternative – daß es in einem spontanen Zornesausbruch, ohne Nachdenken geschah, ist ebenso wenig plausibel. Ein neuer Kommentator hat eine Interpretation vorgeschlagen, die beide Aspekte zu berücksichtigen scheint: die Entrüstung und den Schmerz, die ihn in diesem Augenblick befielen und das erzieherische Motiv der Bekämpfung des Götzendienstes an dem Tag für alle Zeit. Wir zitieren hier die relevante Stelle aus Meschech Chochmah: „Und es geschah, als er dem Lager nahte …“:

Tora und Glaube sind das Wesen der jüdischen Nation. Alle Heiligtümer – das Heilige Land, Jerusalem, etc. sind sekundär und untergeordnete Einheiten, geheiligt durch die Kraft der Tora. Deshalb sind Zeit und Raum im Zusammenhang mit der Tora keine limitierten Faktoren. Die Gebote und Verpflichtungen sind für jeden: vom höchsten – wie Moses, dem Mann Gottes – zum niedrigsten, sie gelten in allen Ländern, in Eretz Israel ebenso wie ausserhalb (ausser jenen Vorschriften, die direkt mit der Erde des Heiligen Landes verbunden sind).

Der Autor betont wiederholt, daß es nur eine Quelle der Heiligkeit gibt. Plätze, Gefässe oder Gebäude haben keine Heiligkeit, auch nicht der grösste Mensch. Sogar Moses wurde von unseren Weisen begrenzt – der „Mittler“ – der Botschafter, der die Tora von den Himmelshöhen auf die Erde brachte. Aber es war nicht seine Tora. Diese Konzeption der Heiligkeit ist zu geläutert, als daß sie vom Menschen, dem Sklaven seiner Sinne, erfasst werden könnte.

Daher suchte das Volk nach Mitteln und Wegen, seine Konzeptionen zu materialisieren. Als es bemerkte, daß sich Moses verspätete, wurde ihr Glaube untergraben und sie stellten das Kalb her. Moses verdammte ihre Vorstellung, es sei einzigartig, es existiere Heiligkeit ausserhalb Gott selbst. Daß Moses‘ Abwesenheit sie dazu veranlasst hatte. „Ich bin ein Mensch wie ihr, und die Tora ist nicht von mir abhängig. Und selbst, wenn ich nicht wieder gekommen wäre, die Tora bestünde weiterhin ohne Änderung.“
Stellt Euch nicht vor, daß das Wesen des Tempels und des Schreines heilig ist. Weit sei dies entfernt! Der Allmächtige lebt inmitten seiner Kinder. Wenn sie Seinen Bund übertreten, werden diese Strukturen ihrer Heiligkeit beraubt. Gewalttätige Männer kamen und entweihten den Tempel. Titus betrat das Allerheiligste gemeinsam mit einer Hure, und nichts geschah ihnen, da die Heiligkeit zerfallen war.
Sogar die Tafeln – „Gottes Handschrift“ – waren ihrem Wesen nach nicht heilig, sondern nur um deinetwillen. Als Israel sündigte und übertrat, was auf ihnen geschrieben war, wurden sie eine Antiquität ohne Heiligkeit.
Zusammenfassung: Ausser dem Ewigen gibt es nichts, was dem Wesen nach heilig ist. Ihm allein gebühren Verehrung, Preis und Huldigung. Das Heilige entsteht als Antwort auf die spezifischen Göttlichen Gebote. Zum Beispiel auf jene, die uns aufrufen, Ihm ein Haus der Verehrung zu errichten und Ihm die Opfer darzubringen. Jetzt verstehen wir vielleicht, warum Moses, um den physischen und mentalen Zustand des Volkes aufrecht zu erhalten, sofort die Tafeln zerschlug. Er fürchtete, sie würden vergöttlicht werden wie das Kalb. Hätte er ihnen die Tafeln intakt gebracht, wären sie als Ersatz für das Kalb verwendet worden und das Volk hätte seine Wege nicht refomiert. Aber nachdem er die Tafeln zerschlagen hatte, erkannten sie, wie weit sie vom wahren Glauben abgewichen waren.
Daher anerkannte der Ewige Moses‘ Handlungsweise und sagte: „Mehr Macht für dich, da du sie zerbrachst.“ Dadurch hatte er bewiesen, daß die Tafeln ihrem Wesen nach nicht heilig waren.

R. Meir Simcha geht weiter und erklärt, warum die Stücke in die Lade gelegt wurden:

Die ersten Tafeln waren das Werk des Ewigen – sie wurden zerbrochen. Und nicht die Tafeln, die Moses herstellte, die ganz blieben. Es wurde gezeigt, daß nur jene Dinge heilig sind, in die durch Israels Beobachtung der Tora investiert wird, gemäß dem Willen des Schöpfers und seines heiligen Namens.

Auf folgende Talmudstelle wird angespielt (Shabbat 87a):

In einer Baraita haben wir gelernt: Drei Dinge tat Moses aus eigenem Antrieb, und der Ewige, gepriesen sei Er, segnete sie. … Er zerschlug die Tafeln … warum segnete dies der Ewige, gepriesen sei Er? Aus dem Text (34, 1) asher shi barta (die du zerbrochen) jishar kohacha she shibarta (Mehr Macht für dich, da du sie zerbrachst).

Dieses Wortspiel gibt zu denken. Rashba fragt:

Welchen Hinweis gibt es hier auf die Formulierung des Textes, um die Verbindung des hebräischen Verhältniswortes „asher“ mit dem Zeitwort „asher“ (bestärken) herzustellen?

Die klassischen Kommentare zur rabbinischen Homiletik haben folgende Erklärung vorgeschlagen:

Der Text sollte einfach lauten: „al ha-luchot ha-shevurim“ – auf die zerbrochenen Tafeln: Warum „asher shibarta“ – die du zerbrochen“? Welchen Unterschied macht es, wer sie zerbrach? Aber der Text gab ihm Recht, anerkannte das Zerbrechen und entschied die Strafe dafür.
(Me’or Enayim)

Es sollte lauten „she-shibarta“ (das Verbum hat das Verhäl;tniswort als Präfix). Der ganze Relativsatz „die du zerbrachst“ ist überflüssig. Es wäre passend gewesen, den Vers mit „die ersten Tafeln“ zu beenden, wie in 34, 4: „Und er haute zwei steinerne Tafeln aus, wie die ersten.“ Dies waren die heiligen, die er zerbrach.
(Maharsha)

Ich habe Erklärungen bezüglich des Textes (Deut. 10, 2) gehört: „… die auf den ersten Tafeln waren, die du zerbrochen, und tue sie in die Lade.“ Beide Sets von Tafeln, die ganzen und die zerbrochenen wurden in die Lade gelegt. Verursachte ihr Zerbrechen eine Sünde, hätte der Beschuldigte (die ersten Tafeln) nicht mit dem Verteidiger (die zweiten Tafeln) zusammengelegt werden können. Daher müssen wir annehmen, das Zerbrechen wurde vom Ewigen anerkannt.
(Rashba)

Die letzte Interpretation des Midrasch „asher = jishar kohacha“ hängt von anderen homiletischen Quellen ab, die ihrerseits auf Anspielungen und Nuancen anderer biblischer Texte hinweisen. Es ist weitaus eleganter, den Hinweis auf die Interpretation in der Formulierung des Textes zu finden. Allein unter diesem Gesichtspunkt ist der Vorschlag in Tora Temimah am meisten zufriedenstellend:

Jemanden an etwas zu erinnern, das er im Zorn getan hat, ist normalerweise nicht anständig. Das kann ihn nur in Verlegenheit bringen und ärgern. Hätte Gott also das Zerbrechen der Tafeln durch Moses nicht gut geheissen, wäre es nicht richtig gewesen, die Worte „die du zerbrachst“ hinzu zu fügen, als auf die ersten Tafeln Bezug genommen wurde. Es hätte ihn nur geärgert, vor allem, da es keine Notwendigkeit gab, auf sie hinzuweisen. Das „wie die ersten beiden Tafeln“ hätte gereicht. Da der Text hinzufügt „die du zerbrachst“ zog der Erklärer den Schluss, Gott habe das Zerbrechen befürwortet. Und noch mehr, Er sagte zu ihm: „Mehr Macht für dich, da du dies getan hast.“

Haftara zu Ki-Tissa: 1 Könige XVIII, 1-39
Sefardim: 20-39