Sidra Ki Tetze – Nicht sollen getötet werden Väter um der Kinder willen

Paraschath haSchawu’a, der wöchentliche Toraabschnitt, kommentiert von Nechama Leibowitz

Nicht sollen getötet werden Väter um Kinder und Kinder sollen nicht getötet werden um Väter; jeglicher für seine Schuld sollen sie getötet werden.
(24, 16)

Wer diese Passage studiert, ist mir einer wohlbekannten Schwierigkeit konfrontiert. Widerspricht sie nicht direkt der Passage im Dekalog, die lautet: „… der die Schuld der Väter ahndet an Kindern, am dritten und am vierten Gliede, die mich hassen“? Viele Kommentatoren haben eine Antwort zu diesem Problem vorgeschlagen, alle im selben Stil:
Mit seinem üblichen Scharfsinn kommentiert Ibn Ezra:

Der Text „Nicht sollen getötet werden Väter um Kinder …“ ist ein Befehl an Israel; die Passage „Der die Schuld der Väter ahndet an Kindern …“ bezieht sich auf den Ahnder selbst!

Raschbam bemerkt kurz und einfach:

Unser Text ist an den Gerichtshof wie in 2 Könige 14, 4 gerichtet: „Aber die Söhne der Mörder tötete er nicht, wie es im Gesetzbuch des Mose geschrieben steht, wo der Ewige folgendes Gebot erlassen hat: Nicht sollen getötet werden Väter um Kinder und Kinder sollen nicht getötet werden um Väter; jeglicher für seine Schuld sollen sie getötet werden.“ Aber der Ewige, gelobt sei Er, ahndet die Schuld der Väter an den Kindern, wenn sie weiterhin die Taten ihrer Väter begehen, … um ihre Erbschaft zu zerstören, aber nicht durch das Gericht.

Ibn Kaspi räsoniert über den Unterschied zwischen der irdischen und der göttlichen Gerechtigkeit:

Die Väter sollen nicht um der Kinder willen durch eine gerichtliche Strafe getötet werden, denn es wäre nicht rechtens, die Schuld der Väter an den Kindern durch jemand anderen als Gott zu ahnden, denn Gott bildete die menschliche Seele und kennt die Aufrechnung der Schuld.

Zugegeben, in der täglichen Realität um uns sehen wir, wie das kriminelle Verhalten von Eltern, ihre Unverantwortlichkeit und Zügellosigkeit einen tragischen Einfluss auf ihre Kinder ausübt, die vom elterlichen Beispiel demoralisiert werden. Welche grössere Strafe kann es für Kinder geben als die Übertretungen ihrer Eltern? Aber ein irdischer Richter kann die Taten des Schöpfers und die Wege der Vorsehung nicht imitieren. Er muss innerhalb der schmalen und klar definierten Grenzen bleiben, die ihm die Torah setzt. Er muss jeden Menschen nach seinen Taten und den Aussagen der Zeugen beurteilen.
Rabbi Ischmael bemerkt in Midrasch Tannaim:

„Nicht sollen getötet werden Väter um Kinder …“ Wozu ist dieser Text notwendig? Weil in einem anderen Text heisst es: „Der die Schuld der Väter ahndet an Kindern …“ Ich möchte auch daraus schliessen, dass dies auch für jene gilt, die von einem Gericht zum Tode verurteilt wurden. Daher unterrichtet uns der Text: „Nicht sollen getötet werden Väter um Kinder.“

Die buchstäbliche Bedeutung des Textes ist dann, dass Kinder nicht für die Sünden der Eltern gerichtlich bestraft werden sollen und umgekehrt. Sforno führt dies im Detail aus:

Sogar für die Sünde des Hochverrates gegen die israelische Monarchie, als es bei den antiken Königen üblich war, die Kinder zu töten, um sie an Rach zu hindern. Siehe Jesaiah 14, 21: „Richtet eine Schlachtbank für seine Söhne ob ihrer Väter Schuld, dass sie nimmer sich erheben, um die Welt zu erobern und das Antlitz der Erde zu bedecken.“ Die Torah, aus Barmherzigkeit des Ewigen zu seinem Volk, untersagte den Königen eine solche Vorgangsweise. Diese Vorschrift wurde von Amaziah, dem König von Judah (2 Könige 14, 5 – 6) beherzigt. „Sobald er die Königsherrschaft fest in seinen Händen hatte, erschlug er seine Diener, die seinen Vater, den König ermordet hatten. Aber die Söhne der Mörder tötete er nicht, wie es im Gesetzbuch des Moses geschrieben steht: ‚Die Väter dürfen nicht getötet werden um der Söhne willen.'“

Eine andere Interpretation wird von unseren Weisen (zitiert von Raschi) in Sanhedrin 27b gegeben:

Was ist die Bedeutung des Textes „Nicht sollen getötet werden Väter um Kinder …“? Wenn er bedeutet, dass die Väter für die Sünden der Väter getötet werden, dies wurde bereits festgestellt. (Deut. ebda): „Jeglicher für seine Schuld sollen sie getötet werden.“ Aber der Text bedeutet, dass die Väter nicht wegen des Zeugnisses der Kinder und die Kinder nicht wegen des Zeugnisses ihrer Väter getötet werden sollen.

Da unsere Weisen die Torah nicht als der Tautologie schuldig betrachteten, nahmen sie die buchstäbliche Erklärung, der andere Kommentatoren folgten und wo diesselbe Idee einmal negativ und einmal affirmativ wiederholt wird, nicht an, einfach um sie zu betonen. Dieser Parallelismus, der in den poetischen Teilen der Schrift häufig vorkommt, ist unvorstellbar in einem legalen Kodex, wo jedes Wort etwas Neues hinzufügen muss. Daher erklärten sie die beiden Teile des Verses unterschiedlich. Den ersten Teil – die negative Formulierung – verstanden sie als Verbot eines Todesurteils, das auf Zeugenaussagen des Verwandten des Beschuldigten basiert. Den zweiten Teil – den affirmativen – verstanden sie so, dass ein Mensch nur um seiner eigenen Taten willen leiden soll und nicht um jene von anderen.
Aber es gibt noch einen anderen Grund , keinen rein formalistischen oder stilistischen, einen inneren Grund für ihre Interpretation.
Malbim gibt ihn an:

Es ist unvorstellbar, den Text buchstäblich zu erklären, im Sinne eines Befehls an den Gerichtshof, nicht den Vater um der Sünden der Kinder zu töten und umgekehrt. Denn wie könnte es einem in den Sinn kommen, dass ein Gericht, das verpflichtet ist, jeden Ausweg für den Beschuldigten auszuschöpfen, ihn für die Sünden anderer zum Tod verurteilt?

Unsere Kommentatoren gehen sogar noch weiter und argumentieren, wie es möglich ist, sich so etwas vorzustellen, wenn selbst ein Mörder nur für sein eigenes Verbrechen zum Tod verurteilt wird und nur dann, wenn es Zeugen gab, wenn er vor den Folgen seiner Tat gewarnt wurde und wenn ein richtiges Kreuzverhör durchgeführt wurde. Nur wenn es an seiner Schuld nicht den leisesten Zweifel gibt, dass er das Verbrechen in Bosheit und vor Zeugen beging, dann wird er exekutiert.
Natürlich erlaubt die Torah nicht, dass jemand für die Sünde eines anderen bestraft wird. Daher verstanden unsere Weisen unseren Text als eine Disqualifizierung der Beweise von Kindern und Vätern in einen Kapitalverbrechen. Das jüdische Gesetz weitet dies auf alle Verwandten eines Beschuldigten aus. Hier die Erklärung dieser Vorschrift im Sefer Ha-Chinuch:

Menschliche Angelegenheiten sind hauptsächlich und prinzipiell von menschlichen Zeugnissen abhängig. Gott wollte daher, dass menschliche Gerechtigkeit nur auf der Grundlage der stärksten und authentischsten Beweise, die über allen Verdacht erhaben sind, beruht. Daher disqualifizierte er die Zeugenaussagen von Verwandten. Dies ist ein Beispiel für die Wege der vollendeten Torah, die uns immer von Dingen, die in die Irre führen oder dem Menschen schaden, bewahrt.
In dieser Vorschrift gibt es noch einen weiteren Vorteil. Verwandte sind oft zusammen und einander im Wege. Es ist unmöglich, dass nicht nicht gelegentlich streiten. Wenn wir das Zeugnis, dass sie gegeneinander vielleicht in einem Augenblick des Zornes geben, glauben, sie würden sich dem Richter ausliefern, der mit ihren Köpfen zum König laufen würde. Wenn sein Zorn verraucht ist, würde sich der Verwandte für das, was er seinen Angehörigen angetan hat, am liebsten aufhängen. Alle Wege des Ewigen sind gerecht.

Die beiden Passagen aus „Könige“ und „Chronik“, besonders jene, die Amaziahs Verhalten beschreibt, scheinen die Erklärungen unserer Weisen zum Text zu widersprechen.
Hier die Zitate in voller Länge:

Sobald er die Königsherrschaft fest in seinen Händen hatte, erschlug er seine Diener, die seinen Vater, den König ermordet hatten. Aber die Söhne der Mörder tötete er nicht, wie es im Gesetzbuch des Moses geschrieben steht: ‚Die Väter dürfen nicht getötet werden um der Söhne willen.‘
(2 Könige 14, 5 – 6)

Sobald die Königsgewalt fest in seiner Hand war, liess er seine Diener hinrichten, die den König, seinen Vater ermordet hatten. Doch ihre Söhne liess er in töten in Übereinstimmung mit dem, was im Gesetzbuch des Mose geschrieben steht, was der Ewige mit folgenden Worten befohlen hatte: „Nicht sollen getötet werden Väter um Kinder und Kinder sollen nicht getötet werden um Väter; jeglicher für seine Schuld sollen sie getötet werden.“
(2 Chronik 25, 3 – 4)

In diesen beiden Passagen wird der biblische Text buchstäblich und nicht homiletisch verstanden, als Strafe für die Untaten der Väter und nicht aufgrund der Zeugenaussagen der Väter. Jene, die diese buchstäbliche Erklärung aufrecht erhalten, führen sie zur Unterstützung ihrer Ansicht an.
Aber der Verfasser des „Ha-ketav We-ha-Kabbalah“ gibt ein wichtiges allgemeines Interpretationsprinzip bei der Antwort auf dieses Problem. Der heilige Text lässt mehr als eine Interpretation zu. Es gibt viele Bedeutungsebenen, aber keine der Auslegungen und Exegesen, die von unseren Weisen in den Text hineingelesen wurden, unterdrücken den wörtlichen Sinn. Dieses Prinzip wurde von unseren Weisen selbst im folgenden Diktum festgestellt: „Die Schrift kann niemals von ihrer buchstäblichen Bedeutung getrennt werden.“ Raschi bemerkt dazu:

Obwohl der Text homiletisch ausgelegt wird, verliert er niemals ganz seine wörtliche Bedeutung.

Dies ist ein fundamentales Prinzip, dass der Torahstudent immer vor Augen haben sollte. Der beste Beweis ist der Text, den wir gerade studierten.

Haftara zu Ki Tetze: Jesaja LIV, 1 – 10