Sidra Kedoschim: Deinen Nächsten lieben, wie dich selbst

Paraschat HaSchawua – Der wöchentliche Toraabschnitt, kommentiert von Nechama Leibowitz

Das Eröffnungskapitel dieser Sidra zählt die praktischen Massnahmen auf, die ein Jude beachten muss, um in jeder Sphäre des Lebens die göttliche Forderung nach Heiligkeit, mit der der Abschnitt beginnt, zu erfüllen.
Diese Forderungen an das menschliche Verhalten kulminieren in einem Text, der als die Quintessenz der gesamten Tora bezeichnet wurde:

Du sollst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst.
(Lev. 19, 18)

Trotz seiner Vertrautheit ist dieser Text in Formulierung und Inhalt rätselhaft. Zuerst ist er der menschlichen Natur entgegengesetzt. Der Mensch ist, wie unsere Weisen feststellten, sich selbst am nächsten. Rabbi Akiva formulierte diese fundamentale menschliche Charakteristik als religiöse Regel: „Dein Leben hat vorrang vor dem deines Mitmenschen.“ Wie kann dann die Tora verlangen, daß wir unseren Nächsten wie uns selbst lieben, ohne Rücksicht auf seine Handlungen? Raschbam beantwortet diese Schwierigkeit, indem er die Anwendung des Textes limitiert:

„Du sollst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst“ – wenn dein Nächster gut ist, aber wenn er böse ist: „Die Furcht des Ewigen ist der Abscheu vor dem Bösen.“
(Sprüche 8, 13)

Mit anderen Worten: liebe alle Menschen, die sich wie Menschen benehmen. Aber wenn du einen Schurken triffst, sollst du dem Hinweis aus den Sprüchen folgen: „Die Furcht des Ewigen ist der Abscheu vor dem Bösen.“ Obwohl Raschbam für sein striktes Festhalten am Wortsinn des Textes bekannt ist und er über jeden Verdacht eines homiletischen Zuganges erhaben ist, ist es zweifelhaft, ob wir ihm in diesem Zusammenhang erlauben dürfen, so zu seinen Prinzipien zu stehen. Der Text selbst gibt keinen Hinweis auf eine solche Unterscheidung zwischen einem guten und einem bösen Menschen. Im Gegenteil, er verwendet den neutralen, umfassenden Begriff „Nächster“.
Auch Nachmanides bemühte sich, die Anwendung des Gebotes, den Nächsten zu lieben, zu begrenzen. Statt die Konzeption des „Nächsten“ zu limitieren wie Raschbam, engte er die Anwendung des Verbums „lieben“ ein:

Der Satz „Du sollst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst“, ist nicht wortwörtlich gemeint, denn es kann vom Menschen nicht erwartet werden, daß er seinen Nächsten liebt wie die eigene Seele. Rabbi Akiva selbst machte aus dem Gegenteil eine Regel, daß das eigene Leben vor dem des Nächsten Vorrang aht. Die Tora will uns hier sagen, daß wir unserem Nächsten dasselbe Wohlergehen wünschen sollen, wie uns selbst. Vielleicht ist dies der Grund für den Dativ (im Hebräischen) statt des Akkusativ. Es heisst nicht „Liebe deinen Nächsten“, sonder „Liebe / für (le) deinen Nächsten, wie für dich selbst.“ Manchmal ist jemand am Wohlergehen seines Nächsten nur in einem gewissen Maß interessiert. Er mag ihm Gesundheit wünschen, aber keine gelehrten Errungenschaften oder ähnliches. Aber sogar wenn er ihm Reichtum, Ehre, Gelehrsamkeit und Weisheit wünscht, wird er dennoch für ihn das Gleiche wollen wie für sich selbst. Er wird immer noch – in einem gewissen Sinn – über ihm stehen wollen. Diese Art von Egoismus wird von der Tora verurteilt. Denn man sollte seinem Nächsten in allem Wohlergehen wünschen, so wie er es sich für sich selbst wünscht, ohne Einschränkungen. Der Text bezog sich auf eine solche Liebe im Fall von David und Jonathan, wenn es heisst, daß Jonathan ihn wie die eigene Seele liebte. Dies bedeutet, daß er alle Eifersucht aus seinem Herzen verbannt hatte und sagen konnte: „Denn du sollst über Israel regieren.“

Dieser Interpretation liegt Hillels negative Formulierung der Goldenen Regel des Judentums zugrunde: „Was Du selbst hassest, sollst du deinem Nächsten nicht tun.“ Diese Erklärung entfernt die Schwierigkeit, die im Biur vorgelegt wird.

Wenn der Text meint, der Mensch solle seinen Nächsten lieben, wie sich selbst, ist es kaum begreiflich, daß Gott etwas gebietet, was über die menschlichen Fähigkeiten hinausgeht. Gefühle wie Liebe und Haß sind kaum die Objekte von Geboten, da sie nicht unter menschlicher Kontrolle stehen. Ein solches Gebot buchstäblich zu erfüllen, bedeutete, sich wegen der Sorgen des Nächsten ebenso zu kränken, wie wegen der eigenen. Dies wäre untragbar, da kaum ein Moment vergeht, indem wir nicht vom Unglück eines anderen Menschen unterrichtet werden. Daher interpretierte Hillel diese Passage korrekt auf eine negative Weise. Tue wenigstens deinem Nächsten nichts, was du für dich selbst nicht willst. Es ist offensichtlich, daß wir niemals irgend jemanden beschimpfen oder verletzen dürfen, gleich ob es ein guter oder ein böser Mensch ist, ausser durch den passenden juristischen Vorgang oder durch eine liebevolle Ermahnung, um sein Verhalten zu bessern. So wie die Tora die Todesstrafe für Blutvergiessen verhängte, gleich ob es sich um das Blut eines Heiligen, eines Sünders, eines Gelehrten oder eines Toren handelt, so gebietet sie uns, die Gefühle und Interessen unseres Nächsten zu respektieren. Auch dies wird auf jeden Menschen angewandt, ohne Unterschied. Hillel schränkte den Charakter des Gebotes nur ein.

Plausibler jedoch ist die Ansicht, die mit „wie dich selbst“ (kamocha) nicht den Grad der Liebe qualifiziert, sondern das motivierende Prinzip meint, das im Text verkörpert wird.

Das Wort ‚kamocha“ wird normalerweise nicht als Adverb verwendet, sondern eher als Adjektiv, wo es „du bis wie“ (vergl. Genesis 44, 18) bedeutet. Liebe dienen Nächsten, der wie du ist. Jeder Mensch wurde im Bilde Gottes erschaffen. Daher liebe ihn, da er ist wie du. Der Text bietet keinen rat, wie weit wir in dieser Liebe zu unserem Nächsten gehen müssen. Er sagt uns nur, daß wir ihn lieben sollen, da er ein menschliches Wesen ist, „wie du“. Der hebräische Ausdruck für „eine Person lieben, wie sich selbst“, wird an einer anderen Stelle verwendet, im Fall von David und Jonathan, wo es heisst, Jonathan liebte David „wie seine eigene Seele“ (ke-nafscho).
(Biur)

Diese Erklärung wird durch einen weiteren Kontext, in dem diesselbe Fromulierung vorkommt, unterstützt:

Wie der Eingeborene unter euch sei euch der Fremdling, der bei euch weilet, und du sollst ihn lieben, wie dich selbst; denn Fremdlinge waret ihr im Lande Mitzrajim.
(19, 34)

Nähmen wir die Phrase „wie dich selbst“ als Indikator für das Ausmaß und die Intensität der Liebe, die wir zeigen sollen, hätte das Ende des Verses keine Beziehung zum Kontext. Die Tatsache, daß wir Femdlinge waren in Ägypten, motiviert uns nicht, einem Fremden gegenüber mehr Liebe zu zeigen. Wenn aber „wie dich selbst“ impliziert, daß der Mitmensch wie wir selbst ist, der unsere Hilfe braucht, dann ist der nachfolgende Satz plausibel. Einst warst du in derselben Verlegenheit, daher weisst du sehr gut, was es bedeutet, diskrimiert zu werden, hilflos zu sein, so wie damals, als wir Fremde waren im Lande Mitzrajim. Liebe deinen Nächsten, er ist ein menschliches Wesen, so wie du selbst.
Bevor wir abschliessen, wollen wir Ben Azzais Ansicht zitieren, der talmudische Weise, der das vorhin zitierte Diktum Rabbi Akivas behandelt. Hier der Bericht des Disputes:

„Du sollst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst“. Rabbi Akiva sagte: Das ist das fundamentale Prinzip der Tora. Ben Azzai sagte: Das ist das Buch der Nackommen Adams (Gen. 5, 1) – es ist ein fundamentales Prinzip, diesem überlegen.

Im Midrasch behandelt Ben Azzai sein Diktum so:

Du sollst nicht sagen: da ich verachtet bin, soll auch mein Nächster verachtet sein, da ich verflucht bin, soll auch mein Nächster verflucht sein. Rabbi Tanchuma sagte: Wenn du so handelst, wisse, wen du verachtest, „in der Ähnlichkeit Gottes machte er ihn“ (Gen. 5, 1)

Mit anderen Worten, das Kriterium der Liebe zum Nächstenist nicht das Maß für die Liebe zu sich selbst. Wer seinem eigenen Schicksal gegenüber gleichgültig ist, wer keinen Selbstrespekt hat, ist nicht berechtigt, seinem Nächsten weniger Respekt zu zeigen. Daher wählte Ben Azzai den Text, der die gemeinsame Anstammung der Menschheit bezeugt, die Erschaffung in Gottes Ebenbild, um das fundamentale Prinzip des Judentums zu illustrieren.

Weiterführende Fragen

Ramban kommentiert das biblische Gott, den Nächsten zu lieben, so:

Liebe deinen Nächsten mit allen Qualitäten und Arten der Liebe, wie dich selbst. Der Text bezieht sich auf die Qualität der Liebe und nicht auf die Quantität. Der Mensch mag ein unbelebtes Objekt lieben. Aber die Qualität der Liebe ist verschieden. Der Mensch liebt sein Tier nicht wie seinen Sohn. Seine Frau, sein Silber, Gold, sein Wein und seine Feigen, sie all mögen Objekte seiner Liebe sein. Aber in jedem Fall ist die Natur der Liebe unterschiedlich. Bei Objekten, die derselben Kategorie angehören, mögen die Stärke oder die Intensität variieren, soweit es die Natur der Liebe betrifft. Jemand mag seinen jüngeren Sohn mehr lieben als den älteren. Woimmer die Liebe nicht auf zwei Objekte zur selben Zeit ausgedehnt werden kann, wird derjenige bevorzugt werden, der mehr geliebt wird. Gott gebot uns, den Nächsten zu lieben, so wie uns selbst. Die Qualität und die Natur unserer Liebe muss von der höchsten Kategorie sein – parallel zu jener, die wir verwenden, um unser eigenes Wohlergehen zu fördern. Wo diese Liebe zu den anderen mit unseren eigenen legitimen Interessen nicht kollidiert, sind wir verpflichtet, das Wohlergehen unseres Nächsten zu fördern, wie unser eigenes. Die Qualität muss diesselbe sein, nicht unbedingt die Quantität. Die Intensität, die Stärke unserer Liebe, kann sich mit den Umständen ändern. Wenn wir sein Wohlergehen nicht ohne die Verletzung unserer eigenen legitimen Interessen fördern können, dann sind wir nicht dazu verpflichtet. Die Tora meinte nicht das Ausmaß unserer Liebe, sondern ihren Charakter.

Erkläre, wie sich die Erklärung Rambans von den vorher zitierten unterscheidet.

Haftara zu Kedoschim:
Aschkenasim: Amos IX, 7-15;
Sefardim: Ezechiel XX, 2-20