Sidra Ha’asinu – Jüdische Geschichte aus der Vogelperspektive

Paraschat HaSchawua – Der wöchentliche Toraabschnitt, kommentiert von Nechama Leibowitz

Beginnen wir unser Studium dieser Sidra mit Nachmanides‘ Zusammenfassung des Inhalts und der Bedeutung des Gesanges, den Moses das Volk lehrte:

Der Gesang, der für uns einen wahren und treuen Zeugen darstellt, erzählt uns alles, was uns widerfahren wird, beginnend mit der Beschreibung der Güte des Ewigen seit er uns als Volk erwählte, gefolgt von einem Bericht seiner Freigebigkeit während der Wüstenwanderung, und wie Er mächtige Nationen für uns enterbte. Von einer Überfülle an guten Dingen wird unsere Rebellion gegen Gott vorhergesagt – wie wir absteigen werden, um fremde Götter zu verehren. Dann wird berichtet, wie wir uns in der Folge Gottes Zorn zuziehen, schliesslich aus dem Land vertrieben und zerstreut werden, wie es uns tatsächlich geschah. Der Gesang erzählt, wie der Ewige schliesslich unseren Feinden vergilt und seine Rache über sie auslässt. Denn ihr Hass und ihre Verfolgung Israels waren nicht durch die Tatsache motiviert, dass Israel Götzendienst beging wie sie selbst, sondern dass Israel solche Taten nicht beging, es vorzog, sich zu unterscheiden, es ablehnte, von ihren Opfern zu essen, ihre heidnischen Kulte von sich wies und danach strebte, sie auszumerzen, wie es heisst: „Deinetwegen werden wir ständig gemordet“ (Psalm 44, 23). Daher quälen sie uns aus Hass auf Gott und Er wird eine solche Beleidigung rächen.
Es ist klar, dass der Gesang auch von unserer endlichen Erlösung spricht … indem er bezeugt, dass wir einen Verweis des Ewigen erleiden werden, begleitet vom Versprechen, dass unser Andenken trotzdem nicht ausgelöscht wird, sondern dass uns Gott unsere Sünden vergeben wird und unseren Feinden in seinem Namen vergelten wird. So versteht es der Sifrei: „Grossartig ist dieser Gesang, er umfasst die Gegenwart, die Vergangenheit und die Zukunft, dieses Leben und das Danach.“
Wäre dieser Gesang nur unser von einem Astrologen gestelltes Horoskop, müssten wir es glauben, da der gesamte Inhalt bis heute durch Ereignisse bestätigt wurde, ohne die kleinste Abweichung. Wieviel mehr müssen wir aus ganzem Herzen daran glauben und die Erfüllung der Worte Gottes aus dem Munde seines am meisten vertrauten Propheten erwarten …!

Man beachte, was Nachmanides über Gottes Zorn und seinen Verweis sagt. Trotzdem wird der Ewige unser Andenken nicht vollständig auslöschen, sondern – im Gegenteil – unsere Sünden vergeben und unseren Feinden um seines Namens willen vergelten. Dieser Wechsel beginnend mit dem göttlichen Zorn über uns durch das Medium der Feinde Israel, bis zu deren Bestrafung durch diesselbe Hand, um seines Namens willen, ist das Thema des folgenden Verses:

Da sprach ich: Ein Ende mit ihnen!
austilge ich aus den Menschen ihr Gedächtnis.
Wenn ich nicht die Kränkung mit dem Feinde scheute,
dass es nicht misskennen ihre Bedränger,
dass sie nicht sprechen: Unsere Hand ist erhoben,
und nicht der Ewige hat dies alles gewirkt.
(32, 26 – 27)

Dieser Vers enthält einen sehr gewagten Anthropomorphismus, der Gott das Attribut der Furcht zuschreibt: „Wenn ich nicht die Kränkung mit dem Feinde scheute“. Dafür gibt es in der Torah keine Parallele. Ibn Ezras Versuch, die Kraft zu schwächen, indem er feststellt, der Vers spreche mit menschlicher Terminologie, ist nicht geeignet, die unübliche Kühnheit und Stärke dieses Audrucks weg zu erklären.
Es ist die Absicht des Ewigen, den spirituellen Standard Seiner Geschöpfe zu heben, ihr Wohlergehen in allen Aspekten zu verbessern, bis der Status erreicht ist, wie er im vertrauten Aleinu – Gebet berichtet wird: Alle Bewohner der Erde werden anerkennen und wissen, dass nur vor ihm jedes Knie sich beugen und jede Zunge schwören soll. In unserer Sidra drückt der Ewige die Besorgnis und Befürchtung aus, dieser schliessliche Zweck werde gehemmt und untergraben. Die Menschheit werde sich weiter als Folge seiner Rache an Israel für seine Sünden von Gott entfremden.
„Wenn ich nicht die Kränkung mit dem Feinde scheute, dass es nicht misskennen ihre Bedränger, dass sie nicht sprechen: Unsere Hand ist erhoben, und nicht der Ewige hat dies alles gewirkt.“ Daher ist das göttliche Gericht über Israel aus Angst vor der Entweihung des göttlichen Namens annulliert. Dieselbe Besorgnis wird von Moses ausgedrückt, als er versuchte, das göttliche Dekret über Israel nach der Sünde des Goldenen Kalbes abzuwenden:

Warum sollen die Mizrajim sprechen: Zum Unglück hat er sie herausgeführt, sie zu erschlagen auf den Bergen.
(Exodus 32, 12)

Es ist abermals Thema von Moses Fürsprache nach der Sünde der Kundschafter:

Wenn du dieses Volk tötest wie einen Mann, so werden die Völker, die deinen Ruf hören, also sprechen: Aus Unvermögen, dieses Volk in das Land zu bringen, das er ihnen zugeschworen, hat sie der Ewige geschlachtet in der Wüste.
(Numeri 14, 15 – 16)

Diese Besorgnis wegen der Entweihung des göttlichen Namens – Chillul haShem – nimmt in unserer Sidra eine gespanntere und extremere Form an. Hier ist es der Ewige selbst, der – wie es scheint – „besorgst ist“ wegen der missgeleiteten und vom Pfad der vorwärts bringenden Spiritualität abgewichenen Welt. Er ist voller Befürchtung, sein Name werde entweiht statt geheiligt werden, seine universelle Souveränität, die das letzliche Ziel aller Schöpfung ist, nicht anerkannt werden:

Wenn ich nicht die Kränkung mit dem Feinde scheute,
dass es nicht misskennen ihre Bedränger,
dass sie nicht sprechen: Unsere Hand ist erhoben,
und nicht der Ewige hat dies alles gewirkt.

Weiterführende Fragen:

1. In unserem Anfangszitat teilt Nachmanides den Gesang in vier Teile:
(1)“Der Gesang beginnt mit der Beschreibung der Güte des Ewigen …“
(2) „gefolgt von einem Bericht seiner Freigebigkeit während der Wüstenwanderung …“
(3) „Dann wird berichtet, wie wir uns in der Folge Gottes Zorn zuziehen …“
(4) „Der Gesang erzählt, wie der Ewige schliesslich unseren Feinden vergilt …“
Lies den Gesang und markiere Anfang und Ende dieser Teile.

2. Wo findet Nachmanides im Gesang eine Anspielung auf die Tatsache, dass die Nationen Israel nicht wegen der Götzenverehrung hassen, sondern wegen der Ablehnung, den Götzendienst zu imitieren, und dass es vorzieht, dem Ewigen anzuhangen. (Zitierend Psalm 44 „Deinetwegen werden wir ständig gemordet“).

3. Schlage Ezechiel 36, 16 – 32 auf. Welches Thema ist dieser Stelle und unserem Gesang gemeinsam (vor allem der Vers, mit dem sich unsere Lektion hauptsächlich beschäftigt?

4. „Denn ein Volk klugen Sinnes beraubt sind sie, und keine Einsicht ist in ihnen.“ (Deut. 32, 28)
Auf wen bezieht sich dieser Vers, auf die Heiden oder die rückfälligen Israeliten?

Haftara zu Ha’asinu: II Samuel 22