Sidra Behar – Das Jubeljahr

Paraschat HaSchawua – Der wöchentliche Toraabschnitt, Kommentiert von Nechama Leibowitz

Und zähle dir sieben Ruhejahre, sieben Jahre siebenmal, so daß dir sei die Zeit der sieben Ruhejahre neunundvierzig Jahre.

Und lass Posaunenschall ergehen im siebenten Monat am zehnten des Monats; am Versöhnungstage sollt ihr Posaunenschall ergehen lassen durch euer ganzes Land.

Und heiliget das fünfzigste Jahr, daß ihr Freiheit ausrufet durch das Land all seinen Bewohnern; ein Jobel soll dasselbe euch sein, daß ihr zurückkehret jeglicher zu seinem Besitz und jeglicher zu seinem Geschlechte zurückkehre. (25, 8-10)

Es gibt die Ansicht, das siebenfache Omerzählen symbolisiere den unvollendeten Charakter der Befreiung aus Ägypten und die Freude auf die schliessliche Vollziehung durch den Empfang der Tora. Das Motiv des Siebenfachen erscheint in unserer Sidra und bezieht sich auf die Zeit der sieben Ruhejahre, die gezählt werden, um das Jubeljahr zu erreichen, in dem jeder Jude, der in Knechtschaft lebt, freigelassen wird und den Status als Diener des Ewigen, dem allein Dienst gebührt, wieder aufnimmt.

Denn mir sind die Kinder Israel Knechte, meine Knechte sind sie, die ich sie geführt aus dem Lande Mitzrajim. (25, 55)

Viele und mannigfaltige Vorschriften betreffen das Jubeljahr. Zusätzlich zur Befreiung der Sklaven, zum Verbot der landwirtschaftlichen Arbeit wie im Schmittahjahr, wird Land dem ursprünglichen Eigentümer zurückgegeben und der Käufer kann es nicht verhindern. Für diese göttliche Vorschrift, die das Recht des Käufers auch nach vielen Jahren der Bodenbearbeitung für null und nichtig erklärt, wurden viele Gründe angegeben. Der Autor des „Sefer Ha-Chinuch“ sieht den Grund – wie bei den meisten anderen religiösen Vorschriften – im Prinzip „Taten formen den Charakter“.

Der Ewige, gepriesen sei Er, wollte seinem Volk sagen, daß alles Ihm gehört und daß schliesslich alles zu dem zurückkehrt, dem er es geben wollte. Das Land ist Sein, so steht es geschrieben. Diese Vorschrift, die Jahre zu zählen, würde sie davon abhalten, das Land ihres Nachbarn zu stehlen oder danach zu gelüsten, denn es war ihnen bewust, alles werde zu dem zurückkehren, dem es der Ewige willens war, zu geben. Diese Angelegenheit erinnert an den Brauch weltlicher Könige, die von Zeit zu Zeit das Land der Barone rund um ihre Burgen anpassten, um die königliche Autorität zu behaupten. So erklärte auch der Ewige, gepriesen sei Er, seinen Willen, das ganze Land solle zu seinem ursprünglichen Besitzer zurückkehren und jeder Sklave solle von seinem Herrn befreit werden und unter die Autorität seines Schöpfers gestellt werden. Weltliche Könige tun dies, um ihre Barone einzuschüchtern und von einer Rebellion abzuhalten, während der Allmächtige, gelobt sei Er, diese Vorschrift einsetzte, um das Wohlergehen zu fördern und das Verdienst Seines Volkes zu vermehren.

Die Jubeljahrvorschriften traten daher dem natürlichen Erwerbinstinkt des Menschen entgegen und erinnerten ihn daran, daß die Erde Gott gehört.
Henry George, der berühmte Anwalt der Armen und Unterdrückten im Amerika des 19. Jahrhunderts, zitiert in seinem Büchlein über Moses die Institution des Jubeljahres als eine Massnahme zur Erhaltung und sogar Verteilung des Reichtums. Moses hatte durch seine Erfahrungen in Ägypten entdeckt, wie durch die Monopolisierung des Landes in den Händen weniger die Unterdrückung der Massen immer stärker wurde. Wo immer Land der Gegenstand absoluter privater Eigentumsverhältnisse war, statt der Nation zur Verfügung zu stehen, entstanden unvermeidlich zwei Klassen: die sehr Reichen und die sehr Armen. Arbeit wird zu Sklaverei, es kommt zu Korruption und Demoralisierung. Henry George lenkt die Aufmerksamkeit auf das Insistieren der Tora, das Land sei ein Geschenk des Schöpfers an alle seine Geschöpfe. Wir lesen immer über das „Land, das der Ewige, dein Gott, dir gegeben hat“ und niemals „das Land, das du für dich selbst erworben hast.“ Diese Monopolisierung des Landes in den Händen weniger führte zum Niedergang antiker Reiche, wie dem römischen, der Unterdrückung der polnischen Bauern und der Armut in Irland, der Überbevölkerung in den Städten und dem Exodus der Einwanderer in die Neue Welt. Das Jubeljahr sicherte die Neuverteilung des Landes in Übereinstimmung mit der ursprünglichen gleichen Verteilung unter allen Teilen des Volkes und schloss so jegliche Möglichkeit einer Monopolisierung aus.
Dieser Volkswirtschaftler betrachtet die Tora als einen legislativen Kodex, angeregt von den Idealen der Gerechtigkeit, und zielte auf die Sicherung einer gleichen Verteilung des Reichtums unter der Menschheit. Seiner Ansicht nach beabsichtigte die Tora, die Entstehung einer landlosen Klasse und die Konzentration der Macht und des Eigentums in den Händen weniger, zu verhindern. Im Gegensatz zum Autor des Sefer-HaChinuch, für den Ungerechtigkeit durch die Erziehung des Einzelnen bekämpft wird, verhindert hier die Einrichtung praktischer Massnahmen, daß das Böse aufsteigt. Diese Massnahmen fördern Gerechtigkeit und Gleichheit.
Wie verschieden ist Rabbiner Kooks Meinung zum Jubeljahr und seinen Vorschriften! Wir zitieren hier einen Ausschnitt aus der Einführung zu seinem Werk „Schabbat Ha-Aretz“ (Der Schabbat des Landes):

„Und zähle dir sieben Ruhejahre, sieben Jahre siebenmal, so daß dir sei die Zeit der sieben Ruhejahre neunundvierzig Jahre.“ …
Vom Jubeljahr strahlt eine spirituelle Kraft aus, die immer mehr angetrieben wird, bis sie genug Vitalität besitzt, um nicht nur das existierende Gut, das im Leben der Nation gehortet wird anzuzapfen und den Charakter des Lebens gemäß dem Muster der Schmittah zu bewahren, sondern auch um die Verzerrungen und Fehler der Vergangenheit zu heilen und das nationale Leben in seiner ursprünglichen Konzeption und ehemaligen Frische wieder herzustellen. …
„Und lass Posaunenschall ergehen im siebenten Monat am zehnten des Monats; am Versöhnungstage sollt ihr Posaunenschall ergehen lassen durch euer ganzes Land. “ Der göttlich-ätherische Geist der allgemeinen Vergebung, auf den jedes Individuum am Jom Kippur trifft, nimmt durch die Heiligkeit des Jubeljahres einen öffentlichen Charakter an, wenn die Nation erfüllt ist von einem Geist der Vergebung und Umkehr und alle Ungerechtigkeiten der Vergangenheit geheilt werden: „Daß ihr Freiheit ausrufet durch das Land all seinen Bewohnern.“
Zwischen Rosh HaShana und Jom Kippur verliessen Sklaven ihren Haushalt nicht, sie waren keine Untertanen ihres Herrn, sondern assen und tranken, waren fröhlich und wanden Blumenkränze ums Haupt. Zu Jom Kippur blies das Beit Din das Schofar, die Sklaven verliessen ihren Haushalt und ihre Felder und kehrten zu ihrem Besitzer zurück. Diese Freiheit brach nicht plötzlich aus, wie ein Vulkan, sondern war ein gradueller Prozess, der von der Heiligkeit des Ewigen ausging. Sie verletzte nicht die normale soziale Ordnung, sondern bildete einen wesentlichen Bestandteil des antiken Schabbatkreislaufes. … Einzelne Mitglieder der Nation waren vielleicht aus dem Lebensstandard, der vom heiligen Licht der Freiheit durchdrungen ist, herausgefallen und Sklaven geworden und hatten ihren noblen Status vergessen. Das Ohr, das das göttliche Wort vernommen hat: Denn Mir sind die Kinder Israels Knechte, Meine Knechte sind sie, und nicht Knechte von Knechten, und dieser ging und zog einen menschlichen Herrn vor. (Siehe Raschi zu Ex. 21, 6) Dann kommt die Wiederherstellung des individuellen Selbstrespektes und der Freiheit, die ausstrahlen vom lebensspendenden Strom ätherischer Heiligkeit und ihre Nahrung von der erhabensten Quelle beziehen, aus der das Licht der Nation genährt wird. Für alle Bewohner des Landes wird die Freiheit ausgerufen. Statt der Ungleichheit des Landbesitzes, die durch menschliche Fehler und hervorgerufen wurde und schliesslich zur Enteignung des alten Erbes führt, wird das Gleichgewicht in Übereinstimmung mit der ursprünglichen Eigentumsverteilung in der Nation in der Morgendämmerung der Geschichte wieder hergestellt. Im Jubeljahr kehrt jeder zu seinem Eigentum zurück.

Die wirtschaftlichen Ungleichheiten, die durch die Wechselfälle der Zeit verursacht werden, die der Volkswirtschaftler als Wurzel des Bösen betrachtet, sind nach Rabbiner Kook nur ein Ausdruck innerer Verzerrungen und Fehler, die Heilung erfordern und Hindernisse bilden, die den Glanz der spirituellen Herrlichkeit der göttlichen Seele vom Wohnen inmitten der Nation abhalten. Die praktischen Formen, durch die diese spirituellen Mangel ausgedrückt werden, verdunkeln das Licht der Heiligkeit.

Die Lebensqualität kann nur verbessert werden, indem im Lärm der täglichen Angelegenheit ein Raum zum Atmen geboten wird. Der Einzelne erholt sich regelmässig vom Einfluss des Weltlichen, jeden Schabbat. … Was der Schabbat bezüglich des Einzelnen darstellt, erreicht das Schabbatjahr im Hinblick auf die Nation als Ganzes. Die Nation hat ein besonderes Bedürfnis, von Zeit zu Zeit die Offenbarung ihres eigenen göttlichen Lichtes im vollsten Glanz auszudrücken, nicht unterdrückt von den Sorgen und Schwernissen des täglichen Lebens. … Die zeitweilige, periodische Einstellung der normalen sozialen Routine erhebt die Nation spirituell und moralisch und krönt sie mit Vollendung. Nation und Land bedürfen eines Jahres der feierlichen Ruhe, ein Jahr des Friedens und der Ruhe, ohne Unterdrückung und Tyrannei. „Er soll seinen Nachbarn und seinen Bruder nicht bedrücken, denn es ist Schmittah für den Ewigen.“ Es gibt kein privates Eigentum und kein spitzfindiges Privileg. Der Frieden Gottes regiert über allem, in dem der Atem des Lebens ist. „Es ist ein Schabbat für das Land, für deinen Knecht und deine Magd … für dein Vieh und die Tiere deines Landes, all seine Produktion sei zur Nahrung.“ Die Heiligkeit wird nicht durch die Ausübung privater Erwerbung der Produktion dieses Jahres profaniert und die Begierde nach Reichtum, die durch Handel aufgestachelt wird, ist vergessen. Zur Nahrung, nicht zum Handel. Grosszügigkeit und Dankbarkeit für den Segen des Ewigen über die Früchte der Erde, zur Nahrung, aber nicht zum Verlust. (Es ist verboten, absichtlich Nahrung, die zum menschlichen Genuss gedacht ist, verderben zu lassen.) Der Mensch kehrt zu seiner frischen Natur zurück, bevor Medikamente erforderlich sind, um Krankheit zu bekämpfen. Krankheit, die durch das Ungleichgewicht des Lebens entsteht, ist symptomatisch für das Getrenntsein von der Natur in ihren spirituellen und materiellen Aspekten. Zur Nahrung und nicht für Medikamente, zur Nahrung und nicht als Brechmittel. Giesse über allem den Geist der Heiligkeit und der Grossmut aus! „Es sei ein feierlicher Schabbat für das Land, ein Schabbat des Ewigen.“

Normale wirtschaftliche Bedingungen, Gleichheit, Freiheit von Armut und Unterdrückung bilden nicht das endliche Ziel der Gesellschaft und sind kein Kriterium eines höheren Wertes, sondern eine wesentliche Bedingung, um zu verhindern, daß der göttliche Geist, der inmitten der Menschheit wirkt und ein Mittel zur moralischen Förderung ist, nicht unterdrückt wird.
Der wöchentliche Schabbat wurde eingesetzt. um die Heiligung des Individuums zu ermöglichen, während Schabbat- und Jubeljahr landwirtschaftliche Arbeiten und privaten Besitz ihrer Produkte verbieten. Sie rufen die Freiheit der Versklavten aus, verleihen einer ganzen Nation den Geist der Vergebung und Umkehr und heilen die Ungerechtigkeiten der Vergangenheit.

Haftara zu Behar: Jeremia XXXII, 6 – 27