Paraschat HaSchawua – Der wöchentliche Toraabschnitt, kommentiert von Nechama Leibowitz
Die Vorschriften für Jom Kippur, diesem grossen, weissen Fasttag, an dem sich jeder Jude von seinen Sünden reinigt, bilden das Abschlussthema zu den Reinheitsvorschriften, die in dem Abschnitt dieser Woche beendet werden. Wir wählen für unsere Diskussion zwei miteinander verbundene Ideen des Kapitels 16 aus, in dem die Gottesdienstordnung für Jom Kippur behandelt wird.
In Vers 6 wird festgestellt:
Und Aharon bringe den Farren der Sühne dar, welcher für ihn, und sühne sich und sein Haus.
Unsere Weisen in der Mischna „Joma“ („Der Tag“ – der Talmudtraktat, das den Vorschriften und Bräuchen für den Jom Kippur gewidmet ist) verstanden, daß diese Sühne ein mündliches Sündenbekenntnis einbezieht:
Dazu gehört mündliches Bekenntnis. Wie bekannte der Hohe Priester? „O Gott, ich habe Missetaten begangen, ich habe gesündigt, ich habe gegen Dich gesündigt, ich und mein Haus Ich flehe Dich an, entsühne meine Misstaten, meine Übertretungen, meine Sünden, denn ich habe Missetaten, Verfehlungen und Sünden gegen Dich begangen, ich und mein Haus …
Wir sollten uns daran erinnern, daß das von der Tora eingesetzte Widui (Sündenbekenntnis) – wie Hirsch ausführte – nicht aus einem Sündenbekenntnis besteht, das vor einem anderen Menschen abgelegt wird. Es ist nicht einmal ein Bekenntnis vor Gott, sondern, wie die rückbezügliche grammatikalische Form (Hitpael) impliziert, es ist ein Bekenntnis, das dem Sünder selbst seine Sünden vor Augen führt:
Wir sollen unsere Verfehlungen der Vergangenheit nicht vor uns selbst verbergen, sondern sie mit einem unvoreingenommenen Auge, ohne Beschönigung betrachten. Wir sollen vor uns beknnen, daß wir nicht nur anders hätten handeln sollen, sondern es in unserer Macht stand, anders zu handeln. Dadurch bekennen wir uns zu unserer Wahlfreiheit und proklamieren sie. Wenn wir die Formel „Wir haben gesündigt“ in aller Aufrichtigkeit sagen, dann ist die Idee des „Ich werde diese Verfehlung nicht wiederholen“ eingeschlossen.
(Hirsch zu Leviticus 16, 4)
Einen zweiten Verweis auf die Sühne finden wir in Vers 11:
Und Aharon bringe herbei den Farren der Sühne, der für ihn, daß er sühne sich und sein Haus, und schlachte den Farren der Sühne, der für ihn.
Diesen Vers kommentiert Raschi:
Dies bezieht sich auf ein zweites Bekenntnis für ihn selbst und seine priesterlichen Kollegen, die alle im Begriff „Haus“ eingeschlossen sind, wie es heisst: „Haus Aharon, preiset den Ewigen“ (Psalm 135, 19).
Die Formel des zweiten Bekenntnisses wurde ebenfalls von unseren Weisen berichtet:
Wie legte er dieses Bekenntnis ab? O Gott, ich habe gesündigt, ich habe gegen dich Verfehlungen begangen, ich und mein Haus und die Söhne Aharons, dein heiliges Volk.
Misrachi, Raschis Super-Kommentator rätselt über die Notwendigkeit eines zweiten Bekenntnisses:
Warum rief die Tora zu einem zweiten Bekenntnis auf? Hätte das erste Bekenntnis nicht so formuliert werden können, daß auch die Priester inkludiert waren? O Gott, ich habe gesündigt, ich habe gegen dich Verfehlungen begangen, ich und mein Haus und die Söhne Aharons, dein heiliges Volk?
Die Antwort, die unsere Weisen geben, stattet uns mit dem Schlüssel zum zentralen Konzept des gesamten Jom Kippur aus:
Es ist besser, der bereits Geläuterte kommt und bekennt für den Schuldigen als der Schuldige für den Schuldigen.
Resch Lakisch, der Autor dieser Feststellung gründet sich auf einem Text in Zephanja 2, 1: „Hitkoscheschu wa-koschu“, was seiner Meinung nach bedeutet: „Verbessere zuerst dich selbst, dann verbessere andere.“ Mit anderen Worten: das zentrale Konzept des Jom Kippur ist Selbst-Läuterung. Das wird auch durch den Text ausgedrückt, den der Hohe Priester sprach, als er am Jom Kippur drei Mal das Allerheiligste betrat:
Vers 30:
Denn an diesem Tage wird er euch sühnen, daß ihr rein werdet; von all euern Sünden sollt ihr rein werden vor dem Ewigen.
Die Struktur dieses Verses ist bei weitem nicht klar. Wenn wir dem Hebräischen sorgfältig folgen, bemerken wir, daß diese Stelle zwei Subjekte hat, zuerst den Hohen Priester, der das Sühneritual ausführt und dann „du“, das Volk, das rein werden soll. Daher gibt es auch zwei Sätze. Aber wo endet der erste Satz und wo beginnt der zweite?
Hoffman erklärt die Stelle so:
„An diesem Tage wird er euch sühnen“ – der Hohe Priester soll sühn en für dich, daß du – wie es später heisst – rein wirst. Dies weist auf das Ziel der Sühne hin: die Reinigung und Läuterung des Menschen. Daher ist äusserliche Sühne nicht genug. Innere Reinigung ist notwendig, und die muß vor dem Ewigen, der alles weiss, stattfinden.
Mit anderen Worten: der zweite Satz unserer Passage „von all euern Sünden sollt ihr rein werden vor dem Ewigen“ ist eine spezifische Erweiterung dessen, was im Eröffnungssatz allgemein festgestellt wurde.
Die Mischna jedoch hat eine andere Erklärung:
Wer sagt, ich sündige und dann bereue ich, dem wird die Gelegenheit zur Umkehr nicht gegeben. Ich sündige und der Jom Kippur sühnt. Der Jom Kippur sühnt nicht. Der Jom Kippur vergibt Sünden zwischen Gott und Mensch. Sünden zwischen Mensch und Mensch sühnt der Jom Kippur nicht, solange der Mitmensch nicht um Verzeihung gebeten wurde. Dies ist R. Eleazar ben Azariahs Auslegung: „Von all euern Sünden sollt ihr rein werden vor dem Ewigen“. Der Jom Kippur vergibt Sünden zwischen Gott und Mensch. Sünden zwischen Mensch und Mensch sühnt der Jom Kippur nicht, solange der Mitmensch nicht um Verzeihung gebeten wurde.
Deshalb würde Hoffman die Stelle so lesen:
Denn an diesem Tage wird er euch sühnen, daß ihr rein werdet;
von all euern Sünden sollt ihr rein werden vor dem Ewigen.
R. Eleazar ben Azariah liest sie so:
Denn an diesem Tage wird er euch sühnen, daß ihr rein werdet von all euern Sünden vor dem Ewigen –
ihr sollt rein werden.
Durch den Tempeldienst und den Jom Kippur selbst kann der Hohe Priester nur Sünden gegen Gott sühnen. Aber für alle anderen Verfehlungen, die nicht zwischen Mensch und Gott sind, (nicht „Sünden vor dem Ewigen“), für jene zwischen Mensch und Mensch heisst es im Text „tit’haru“ – ihr sollt rein werden, ihr sollt euch selbst reinigen. Sie werden nicht gesühnt bevor sich nicht der Mensch selbst reinigt, indem er sein Verhalten bessert und die Opfer seiner Verfehlungen um Verzeihung bittet.
Die Mischna, die wir zitierten, ist immer noch rätselhaft. Welche neue Idee präsentiert R. Eleazar b. Azariah, die über das unmittelbar vorangehende Diktum der Mischna hinausgeht? Dieselbe Unterscheidung zwischen menschlichen und göttlichen Sünden wird nochmals angeführt. Man könnte argumentieren, alles, was R. Eleazar tat, war, diesselbe Idee aus dem Text selbst auszulegen. In diesem Fall, war die Wiederholung für die Mischna nicht notwendig. Es hätte genügt, hinzu zu fügen, daß R. Eleazar dasselbe Prinzip aus einem Text ableitete und den Text zu zitieren. In seinem Kommentar zu „En Ja’acov“ (Homiletische Auszüge aus dem Talmud) schlägt Joseph Pinto eine subtile Antwort vor, die eine beeindruckende moralische Lektion enthält:
Meiner bescheidenen Meinung nach leitete R. Eleazar aus dem Text ab, der Jom Kippur sühne für Verfehlungen zwischen Mensch und Gott. Wenn es darüber hinaus auch Verfehlungen gegen Mitmenschen gibt, dann wird die Sühne der Sünden gegen Gott zurückgestellt, bis der Mitmensch, gegen den gesündigt wurde, verzeiht. Sobald der Mitmensch verziehen hat, ist auch der Ewige, gepriesen sei Er, versöhnt und verzeiht die gegen ihn begangenen Verfehlungen. Dies leitete R. Eleazar aus dem Text ab, aus der überflüssigen Wiederholung des „ihr sollt rein werden“ am Schluß, nachdem der Text bereits feststellte „Denn an diesem Tage wird er euch sühnen, daß ihr rein werdet; von all euern Sünden.“ Der Text bedeutet, daß Jom Kippur tatsächlich „sühnt, daß ihr rein werdet von all euern Sünden vor dem Ewigen“ (Sünden gegen Gott), unter der Bedingung, daß ihr euch von den Verfehlungen auf menschlicher Ebene reinigt, den Sünden zwischen Mensch und Mensch. Wenn ihr jedoch nicht rein seid, euch nicht von den menschlichen Sünden reinigt, dann sühnt der Jom Kippur die Sünden vor dem Ewigen, die Verfehlungen gegenüber Gott, nicht. Das ist der feine Unterschied, den R. Eleazar im Text selbst fand.
Obwohl kein positiver Beweis von Joseph Pintos Erklärung angeführt werden kann, unterstützen unsere Liturgie und der talmudische Bericht über den Tempeldienst diesen Vorschlag bis zu einem gewissen Grad. Die Mischna berichtet, daß der Hohe Priester drei Bekenntnisse ablegte (für sich selbst und sein Haus, für die Söhne Aharons und für ganz Israel). Jedes Mal beendete er sein Bekenntnis mit den Worten:
… wie es heisst im Gesetz Moses‘, deines Dieners, bei Deinem ruhmreichen Gebot: „Denn an diesem Tage wird er euch sühnen, daß ihr rein werdet vor dem Ewigen.“
Der Hohe Priester beendete den Vers nicht, sondern hielt kurz inne, sprach den Namen Gottes aus, worauf „die Priester und das Volk, die im Hof knieten und sich niederwarfen, sagten: Gesegnet sei der glorreiche und erhabene Name jetzt und in Ewigkeit.“ Erst dann beendete der Hohe Priester den Vers und sagte zu ihnen „von all euern Sünden sollt ihr rein werden“. Einige Autoritäten erklären die letzten Worte des Verses „tit’haru“ im Sinn eines Segens – „Mögest du rein sein“, entsprechend dem Segen, der von den Betenden gesprochen wurde. Aber plausibler ist die Erklärung, diese letzten Worte seien eine Bekräftigung und eine Ermahnung, sich zu reinigen, denn erst dann werden alle Sünden gesühnt sein.
Wir können auch einen grammatikalischen Sprachgebrauch heranziehen, um diese Erklärung zu erhärten. Der Autor des Kommentars „Schem Olam“ zu Leviticus erklärt, es gebe einen Unterschied zwischen der Zukunft des Wortes „taher“ mit einem konsekutiven oder konversiven Waw, zwischen „we-taher“ und der Zukunftsform „tit’har“. Die erste Form wird richtig mit „du wirst rein sein“ übersetzt und spezifiziert das Endresultat: wenn du dies oder jenes machst, wirst du rein sein. Andererseits hat „tit’har“ rückbezügliche Bedeutung „sich selbst reinigen“.
Bis zum heutigen Tag kann es keine Sühne geben, wenn man sich nicht selbst reinigt und läutert.
Weiterführende Fragen
Die Mischna, die wir zitierten (Joma 8, 9) schliesst mit einem Diktum R. Akivas:
R. Akiva sagte: Gesegnet seist du, o Israel. Vor wem wurdest du gereinigt, und wer machte dich rein? Dein Vater im Himmel, wie es heisst: „Dann werde ich reines Wasser über euch sprengen, daß ihr rein werdet von aller Unreinheit“ (Ezechiel 36, 25). Und abermals heisst es: „Du Hoffnung (Mikwe) Israels, Ewiger“ (Jeremias 14, 8), denn die Mikwe (das Ritualbad) reinigt die Unreinen, so wie der Ewige, gepriesen sei Er, Israel reinigt.
Wie wird unser Text nach R. Akiva erklärt, wie wird er gelesen?
Stimmt die Verwendung der Form „u-tehartem“ – „und du wirst rein sein“ im Ezechiel-Zitat mit dem grammatikalischen Prinzip überein, das vom Autor von Schem Olam ausgesprochen wird?
Erklärt R. Akiva den Vers, den er aus Jeremias zitiert, im Wortsinn oder verletzt er ihn?
Haftara zu Acharei Mot: Ezechiel XXII, 1-19