Parschat wa’jischew

Von Rabbi Menachem Leibtag
Schiurimreihe Fraenkelufer

Wenn Sie Ihren Bruder zum Sterben in eine Grube geworfen hätten – könnten Sie sich da ‚hinsetzen und essen‘? Nun, Josefs Brüder haben genau das getan, und die Thora berichtet uns davon (siehe 37:24-25)!

Aber die Thora SAGT UNS NICHT, ob sie gleich neben der Grube gegessen und auf Josefs Schreie gelauscht haben, ODER ob sie ein ganzes Stück weit weg saßen, um ‚Ruhe und Frieden‘ zu haben?

Wo liegt hier der Unterschied?

Ob Sie es glauben oder nicht, dieses winzige Detail ist von entscheidender Bedeutung für unser Verständnis der gesamten folgenden Geschichte. Im Schiur dieser Woche studieren wir die Geschichte von Josef und seinen Brüdern, und wir werden dabei zwei Möglichkeiten nachgehen: wir werden zeigen, wie dieses ‚fehlende Detail‘ verschiedene Kommentatoren zu dem Schluß führt, daß die Brüder Josef vielleicht gar nicht verkauft haben!

EINFÜHRUNG

Haben wir da richtig gehört? Die Brüder haben Josef NICHT verkauft! Wer diesen Schiur nicht schon zuvor gehört hat, den wird diese Aussage schockieren, wenn er die Geschichte von Josef und seinen Brüdern gelesen hat. Je genauer wir uns jedoch die Einzelheiten ansehen und auch geographische Erwägungen mit einbeziehen, desto überzeugender wird diese Möglichkeit.

Im folgenden Schiur setzen wir voraus, daß der Leser die Geschichte schon kennt. Wir beginnen unsere Untersuchung, indem wir uns genau die verschiedenen Pläne der Brüder ansehen, Josef ‚loszuwerden‘, aber dann werden wir uns vor allem auf Reuwens Plan konzentrieren.

PLAN A – MORD ERSTEN GRADES DURCH DIE BRÜDER

Erinnern wir uns: sobald Josef in Dotan ankommt, schmieden die Brüder Mordpläne gegen ihn (siehe 37:18-20). Sie verändern jedoch ihren Plan mehrmals. Beginnen wir mit PLAN A:

„Da sahen sie (die Brüder) ihn von ferne; und bevor er noch zu ihnen herangekommen war, sannen sie gegen ihn Ränke, ihn zu töten. Und sie sprachen zueinander: >Seht, da kommt ja jener Traumheld! Nun denn, kommt, wir wollen ihn ERSCHLAGEN und in eine der Gruben werfen …<“ (37:18-20) Beachten wir, daß die Brüder zunächst planen, Josef sofort umzubringen und ihn in einer Grube zu ‚begraben‘, um alle Beweise zu beseitigen. Reuwen ist zwar gegen die Ermordung Josefs, aber ihm ist klar, daß er sich nicht gegen seine Brüder durchsetzen kann. Statt also seine Brüder überzeugen zu wollen, ersinnt er einen geschickten Plan, um zunächst die Ermordung Josefs zu verhindern, damit er ihn später heimlich nach Hause zurückbringen kann. [Siehe weitere Ijun zur Erklärung des GRUNDES, aus dem Reuwen Josef retten will.]

Plan 1: Die Brüder verließen Chewron, gingen am Schechem vorbei und schlugen ihr Lager in Dotan auf, 100 km von Zuhause entfernt.

PLAN B – REUWENS PLAN / MORD ZWEITEN GRADES

Wenn Sie von Reuwens Plan lesen, unterscheiden Sie auf jeden Fall zwischen dem, was Reuwen SAGT (zu seinen Brüdern), und was Reuwen DENKT (bei sich): „… Und Reuwen sprach… ‚Vergießt kein Blut! Werft ihn in diese Grube, [so daß er stirbt] DRAUSSEN IN DER ‚MIDBAR‘ (Wildnis), legt aber nicht Hand an ihn!“ [Ende des Zitats! Dann berichtet uns die Erzählung von Reuwens wahren Absichten …] „um ihn aus ihrer Hand zu retten und ihn zu seinem Vater zurückzubringen.“ (37:22). Reuwens ‚offizieller‘ Plan besteht darin, Josef einen weniger gewaltsamen Tod sterben zu lassen, d.h. ihn lebendig in eine Grube zu werfen, statt ihn kaltblütig umzubringen. Sein ‚heimlicher‘ Plan jedoch ist, später zurückzukommen und Josef zu befreien. Achten wir darauf, wie Reuwen sogar eine ganz bestimmte ‚Grube‘ vorschlägt, in die sie Josef werfen sollen – „ha’Bor HA’ZEH ascher ba’Midbar“! Sehr wahrscheinlich, damit er sich später zurückschleichen und seinen Bruder retten kann. [Vergleichen Sie dies mit dem ursprünglichen Plan der Brüder, ihn in ‚eine der Gruben‘ zu werfen (37:20) – wahrscheinlich in eine nähergelegene.] Die Brüder ahnen Reuwens wahre Absicht nicht und sind einverstanden. Josef kommt, und gemäß PLAN B ziehen ihm die Brüder sofort seinen besonderen Rock aus und werfen ihn lebendig in die Grube (siehe 37:23-24). Danach setzen sie sich zum Essen nieder (siehe 37:25). [Eine „Seudat Mitzvah“ sehr wahrscheinlich „w’akmal“!] WER IST WO? Bis zu diesem Punkt ist die Geschichte klar. Nun fehlen aber zwei wichtige Einzelheiten: a) WO setzen sie sich zum Essen nieder, in der Nähe oder weiter weg? b) WO ist REUWEN, ißt er mit ihnen oder für sich allein? Wenden wir ein wenig ‚Deduktion‘ an, um diese Fragen zu beantworten. (a) Wo essen die Brüder? Denken wir daran, daß sie Josef in eine Grube ‚draußen in der MIDBAR‘ warfen, dann ist am wahrscheinlichsten, daß sie zu ihrem Lager bei Dotan zurückkehrten, um dort zu essen (siehe 37:16-17). [Außerdem wäre es nicht sehr appetitlich, unter den Schreien des kleinen Bruders in Todesangst zu essen / siehe 42:21 zum Beweis, daß er tatsächlich schrie.] [Später im Schiur werden wir das auch am Text belegen.] b) Wo ist Reuwen? Reuwens Plan ist, Josef später aus der Grube zu retten, und daher wäre es logisch, daß er entweder in der Nähe bleibt oder aber bei seinen Brüdern (wo immer die auch sein mögen). Sicherlich kann er nicht einfach anderswohin gehen, jedenfalls kann er sich nicht weit entfernen! Aus der Fortsetzung der Geschichte wissen wir jedoch, daß er nicht in der Nähe der Grube bleibt, denn er kehrt erst zurück, NACHDEM Josef verkauft ist! Wenn die Brüder ihre Mahlzeit also wirklich in einiger Entfernung abhalten, dann ißt er sicher bei ihnen. Täte er das nicht, dann würde er sich schließlich nur ‚verdächtig‘ machen. Und überdies sagt uns die Thora an keiner Stelle, daß er seine Brüder verlassen hat. Somit ist es nur logisch zu schließen, daß Reuwen bei seinen Brüdern bleibt, und daß sie alle zusammen NICHT in der Nähe der Grube aßen.

Plan 2: Karawane von Yischmaelim unterwegs von Gilad nach Egypten.

PLAN C – JEHUDAS PLAN/ EIN SCHNELLES GESCHÄFT

Wir haben nun festgestellt, daß Reuwen und die Brüder sich in einiger Entfernung von der Grube zum Mahl niederlassen, und auf dieser Basis können wir unsere Analyse der Geschichte fortsetzen: „Dann setzten sie sich hin, um zu essen. / Da hoben sie ihre Augen, und sie sahen eine Karawane von Jischmaeliten, die von Gil’ad herkam; und ihre Kamele trugen [Gewürze]; sie waren auf dem Weg, es nach Mizraim (Ägypten) hinabzubringen. Da sprach Jehuda zu seinen Brüdern: >Was ists für ein Gewinn, wenn wir unsern Bruder erschlagen … Kommt, laßt uns ihn an die Jischmaeliten VERKAUFEN … denn unser Bruder, unser Fleisch ist er.< Und seine Brüder hörten darauf.“ (37:25-27) [Aus Jehudas Vorschlag geht hervor, daß die Brüder Josef wirklich sterben lassen wollten und keine Ahnung von Reuwens Rettungsabsicht hatten.] PLAN C (Josef zu verkaufen) bringt Reuwen in eine Zwickmühle. Einerseits kann er den Brüdern nicht widersprechen, weil sie sonst seinen wahren Plan ahnen könnten. Andererseits kann er nicht zulassen, daß sie Josef verkaufen, denn er fühlt sich für dessen Rettung verantwortlich. Reuwen hat nur eine einzige Alternative – er muß sich rasch entschuldigen und zur Grube laufen, um Josef zu befreien, bevor seine Brüder ihn verkaufen. Was geschieht nun bei Reuwens Rückkehr zur Grube? Das werden wir gleich sehen. Aber bevor wir fortfahren, brauchen wir etwas Hintergrundwissen zur Geographie Israels, das unabdingbar ist, um die folgenden Psukim zu verstehen. DER ALTE HANDELSWEG Erinnern wir uns, daß Josef seine Brüder beim Weiden der Schafe in den Hügeln von Dotan traf (siehe 37:17). Erinnern wir uns auch, daß die Brüder während der Mahlzeit ‚die Augen hoben‘ (siehe 37:25) und eine Karawane von JISCHMAELIM sahen, die aus GILAD herkam (heute die nördliche Gebirgsregion Jordaniens) und Richtung Ägypten unterwegs war. Wenn wir diese Geschichte in Chumasch heute lesen, nehmen wir beinahe selbstverständlich an, daß diese Karawane dicht an dem Flecken vorüberkommen wird, wo die Brüder beim Mahl sitzen. Aber dann wissen wir nichts von Geographie! Die Karawane von Jischmaelim (Kamele u.a.) zieht den alten Handelsweg entlang (besser als die Via Maris bekannt), der durch Emek Jisrael (das Jesreel-Tal) an die Mittelmeerküste führt. Daher muß die Karawane, die jetzt vom Gilad herabkommt, die Städte Bet Sche’an, Afula and Meggido in Emek Jisrael, aber NICHT das Hügelland von Dotan passieren. Dotan, heute das Gebiet von Jennin [z“l], liegt etwa 20 Kilometer nördlich von Schechem und ca. 10 Kilometer SÜDLICH dieser Hauptstraße (der Via Maris), die Emek Jisrael kreuzt. Dotan ist etwa 200 Meter höher gelegen als Emek Jisrael. Von Dotan hat man einen schönen Blick auf das Gilad-Gebirge und Teile des Jesreel-Tals. Von ihrem Aussichtspunkt in Dotan aus können die Brüder also eine Karawane aus Jischmaeliten erkennen, die sich dem Jesreel-Tal vom Gilad her zuwendet, auch wenn sie noch ziemlich weit entfernt ist. Dieser Konvoi wird nicht direkt an ihnen vorbeiziehen, sondern vielmehr in einigen Stunden ca. 10 Kilometer nördlich an ihnen vorbeikommen. Um auf die Karawane zu treffen, müßten die Brüder zuerst Josef aus der Grube holen und dann die kurze Entfernung von Emek Dotan nach Emek Jisrael zurücklegen. Sie haben genug Zeit, zunächst ihr Mahl zu beenden, dann Josef aus der „Midbar“ zu holen (und zwar auf ihrem Weg zum Emek), und schließlich die Karawane am Pass einzuholen und Josef an den ‚Meistbietenden‘ zu verkaufen. EINER WAR ZUERST DA Mit diesem Hintergrund kehren wir nun zur Geschichte von „Mechirat Josef“ zurück. Sehen wir uns den nächsten Pasuk ganz genau an und achten wir auf seine Grammatik: „Da kamen MIDJANITISCHE KAUFLEUTE vorüber, und SIE griffen zu und zogen Josef aus der Grube herauf, und SIE verkauften Josef an die Jischmaeliten um zwanzig Silberstücke. Und sie brachten Josef nach Ägypten.“ (37:28) [Lesen Sie diesen Pasuk noch einmal sorgfältig und machen Sie sich den Unterschied zwischen den Midjanim und den Jischmaelim klar. Beachten Sie auch, daß die Brüder in diesem ganzen Pasuk überhaupt nicht erwähnt werden!] „Pschat“ ist ganz einfach, daß es sich bei den Midjanim und den Jischmaelim um zwei VERSCHIEDENE Gruppen von Leuten handelt. Die Midjanim sind örtliche ‚Händler‘ („So’cha’rim“), während die Jischmaelim internationale ‚Transporteure‘ (Transportkarawanen) sind. Dieser Pasuk sagt ausdrücklich, daß zufällig eine Gruppe von Midjanitischen Händlern an der Grube vorbeikam (sehr wahrscheinlich haben sie Josefs Rufe gehört), ihn herauszogen und dann (später) an die Jischmaelim verkauften. Anders gesagt: die MIDJANIM selbst waren es, die Josef verkauften, NICHT seine Brüder, denn die werden in diesem Pasuk mit keinem Wort erwähnt! [Diese Auslegung erklärt auch, weshalb die Thora uns eigens etwas über MIDJANIM und über die JISCHMAELIM sagen muß, damit wir verstehen, daß es sich hier um zwei VERSCHIEDENE Gruppen handelt, was für die Geschichte sehr wichtig ist.] Wo waren also die Brüder während dieser Zeit? Wahrscheinlich saßen sie noch immer beim Mahl! Erinnern wir uns an die obige Erklärung: die Brüder warfen Josef in eine Grube draußen in der „Midbar“ und kehrten in ihr Weidegebiet zurück, um dort zu essen. Anscheinend sind sie so weit weg, daß sie nicht sehen und nicht hören konnten, was zwischen Josef und den Midjanim vorging! Und WO war Reuwen? Er aß mit seinen Brüdern, wie wir oben schon feststellen konnten. Sobald er jedoch Jehudas neuen Plan hörte, Josef zu verkaufen, entschuldigte er sich und lief zur Grube, um dort als erster anzukommen, VOR seinen Brüdern, wie der folgende Pasuk erklärt: „Reuwen aber KAM zur Grube ZURÜCK („wa’jaschow“), und siehe, Josef war nicht in der Grube. Da zerriß er seine Kleider.“ (37:29) Reuwen ist nicht der LETZTE, sondern der ERSTE der Brüder, der herausfindet, daß Josef verkauft wurde (wie gewöhnlich angenommen wird), oder vielmehr, daß er NICHT MEHR DA IST. [Beachten wir: Die Kommentare, die die Sache anders erklären und sagen, daß Reuwen nicht mit seinen Brüdern aß, haben Schwierigkeiten mit dem Wort „wa’jaschow“ und müssen erklären, wohin Reuwen gegangen war. Raschi z.B. behauptet, Reuwen habe mit seinem Vater lernen müssen; siehe weitere Ijun unten.] Was kann Reuwen nun tun? Zutiefst erschreckt kehrt er sofort zu seinen Brüdern zurück [die zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich beim Nachtisch angekommen waren], um ihnen die schreckliche Neuigkeit zu überbringen: „Und er KEHRTE zu seinen Brüdern ZURÜCK („wa’jaschow“) und sprach: >Der Knabe ist nicht da, und ich – wo soll ich nun hin?<“ (37:30) Achten wir auf das Wort „wa’jaschow“ [und Reuwen KEHRTE ZURÜCK] sowohl in 37:29 als auch in 37:30. Dieses Verb beweist, daß die Brüder nicht bei der Grube gegessen haben können, denn in diesem Fall hätte Reuwen nicht zu ihnen ‚ZURÜCKKEHREN‘ müssen. Nach unserer obigen Erklärung hat jedoch die Verwendung von „wa’jaschow“ in beiden Psukim einen einwandfreien Sinn. Da Reuwen und seine Brüder in einiger Entfernung von der Grube essen, muß Reuwen zunächst zur Grube und dann wieder zu seinen Brüdern ZURÜCKKEHREN, um ihnen die Neuigkeit mitzuteilen – daher die ZWEIMALIGE Verwendung des Verbs „wa’jaschow“!

Plan 3: Karawane von Yischmaelim unterwegs von Gilad nach Egypten, entlang der Via Maris.

PLAN D – HASHEMS PLAN

Die Brüder hatten zwar drei verschiedene Pläne, um Josef ‚loszuwerden‘, Gottes Plan jedoch war ein ganz anderer. An diesem Punkt der Geschichte sind die Brüder völlig verwirrt, denn sie haben keine Ahnung, was mit Josef geschehen ist. Aber dennoch wollen sie nicht, daß ihr Vater sich weitere Sorgen um Josefs Verbleib macht (oder sie wollen nicht, daß er SIE beschuldigt), und so schmieden sie einen letzten Plan, der ironischerweise ihrem ersten ähnelt (siehe „…chaya ra’ah acha’latu“ (37:20) – vgl. 37:33). Sie tränken Josefs Rock in Blut und schicken ihn an den Vater (siehe 37:31-32). „Und er (Jaakow) erkannte ihn und sprach: >Der „Ktonet“ meines Sohnes, „CHAYA RA’AH A’CHA’LATU; ta’rof, ta’raf Josef“ – Ein wildes Tier hat ihn gefressen!<“ (37:33)

Ironischerweise kommt Jaakow zum gleichen Schluß, wie ihn auch die Brüder gezogen haben mögen, wenn auch aus einem ganz anderen Grund!

Plan 4: Von Dotan hat man einen schönen Blick auf die Via Maris und Gilad.

RASCHIS SCHITA

Bis hierher ist unsere Erklärung Raschbam und Chizkuni gefolgt. [Ich empfehle, daß Sie beide nachlesen und darauf achten, wie sie sich leicht von unserer obigen Darstellung unterscheiden.]

Jetzt wollen wir uns eine Minute Zeit nehmen, um die verbreitete Deutung zu erörtern, wonach die Brüder selbst Josef verkauft haben; diese Deutung wird von Raschi und Radak vorgetragen.

Um diese „Schita“ (Meinung) zu verstehen müssen wir zu den beiden Fragen zurückkehren, die wir oben in diesem Schiur aufgeworfen haben: (a) wo halten die Brüder ihr Mahl und (b) wo ist Reuwen – um dann unsere Grundannahmen zu ändern.

Nach dieser Auffassung saßen die Brüder in der Nähe der Grube, um zu essen, und aus irgendeinem Grund entfernte sich Reuwen von ihnen. Raschi legt uns nahe, daß er entweder ‚heimging‘, um mit seinem Vater zu lernen, oder aber, daß er einen kurzen Spaziergang machte, zum Zweck der ‚Seelenerforschung‘ (siehe Raschi & Radak und weitere Ijun).

Man kann das Geschehene auf zwei Arten erklären. Entweder boten die Brüder ihre Dienste als ‚Zwischenhändler‘ für Josefs Verkauf an die Jischmaelim an, als die Midjanim vorbeikamen (siehe Raschbams zweite Erklärung), ODER aber ‚Jischmaelim‘ ist synonym mit dem Ausdruck ‚Midjanim‘ (siehe Radak).

WAS DENKT JOSEF?

Auf den ersten Blick scheint die Interpretation Raschbams und Chizkunis diese Psukim viel besser zu erklären als die von Raschi. Weshalb erklärt Raschi dann die Sache anders?

Sehr wahrscheinlich gründen Raschi und Radak ihre „Schita“ auf einen Schlüsselpasuk in Parshat Wa’jigasch. Als Josef sich dort seinen Brüdern zu erkennen gibt, sagt er:

„Ich bin Josef, euer Bruder, den ihr nach Ägypten VERKAUFT habt.“ (45:4)

Josef sagt hier ganz ausdrücklich, daß seine Brüder ihn VERKAUFT haben! Angesichts dieser ‚Tatsache‘ lassen sich die Psukim in Wa’jeschew kaum anders deuten, trotz der verschiedenen Schwierigkeiten, die diese Interpretation bietet.

Der Chizkuni, von diesem Pasuk beunruhigt, erklärt, daß Josef folgendes sagen wollte: „ihr habt DAFÜR GESORGT, daß ich nach Ägypten verkauft wurde“. Diese Erklärung ist aber ganz offensichtlich ein ‚Zwischen-den-Zeilen-Lesen‘ und scheint nicht „Pschat“ zu sein …

Auf der Grundlage des obigen Schiur könnte man annehmen, daß Josef wirklich dachte, seine Brüder hätten ihn verkauft, auch wenn diese selbst nie erfuhren, was mit ihm geschehen war.

Betrachten wir die Ereignisse aus Josefs Perspektive.

Josef wußte nichts von den Gesprächen zwischen seinen Brüdern und auch nicht von den drei Plänen. Er wußte nur eines: sobald er ankam, zogen ihm die Brüder seinen Rock aus und warfen ihn in die Grube. Kurz darauf kamen einige Midjanim vorüber, zogen ihn aus der Grube und verkauften ihn an die Jischmaelim, die ihn später an die Ägypter verkauften. Josef versuchte, sich das alles zusammenzureimen und nahm vielleicht an, daß seine Brüder alles so geplant und mit den Midjanim abgesprochen hatten. Seine Brüder hatten nicht den ‚Mumm‘, sein Geschrei mit anzuhören, und deshalb waren sie auch nicht dabei, als die Midjanim ihn fortbrachten.

Nach dieser „Schita“ hatte Josef keine Ahnung, daß die Midjanim ‚rein zufällig‘ vorübergekommen waren. Er wußte ja auch nicht, daß seine Brüder ihn ursprünglich töten wollten. [Im Schiur der kommenden Woche werden wir sehen, wie sich daraus Josefs Verhalten während der vielen Jahre in Ägypten besser verstehen läßt.]

PLÄNE & TRÄUME

Trotz all ihrer Pläne und trotz ihres Hasses auf Josef hätten die Brüder vielleicht nie den ‚Mut‘ aufgebracht, Josef wirklich umzubringen. Hätten sie ihn schreien hören, hätten sie vielleicht nicht einmal geplant, ihn zu verkaufen. Dennoch: sie sprachen darüber, sie planten es – und deshalb gelten sie als schuldig, auch wenn sie Josef nicht wirklich umbrachten oder verkauften.

Aber die Hand der Vorsehung brachte sie zum Glauben, daß ‚IHR‘ Traum [Josef loszuwerden] in Erfüllung gegangen war, während sich in Wahrheit Josefs Traum zu erfüllen begann.

FÜR WEITERE IJUN

A. Raschi zitiert den Midrasch, nach dem Reuwen nach Hause gehen mußte, um mit seinem Vater zu lernen.

Wie weit ist es von Chevron nach Dotan? (wie viele Tagesreisen?)
Hat es Sinn anzunehmen, daß Reuwen so lange fortgeht, während Josef in der Grube ist?
Glauben Sie, dieser Midrasch kann die Pschat über das erklären, was ‚geschehen‘ ist, oder vermittelt er uns eine Einsicht in bezug darauf, wie ‚frum‘ die Brüder waren und auch über die Tatsache, daß sie ‚Makpid‘ an ‚Kibud Aw‘ waren?
Wenn letzteres zutrifft, was sagt dieser Midrasch über die Natur von ‚Sinat achim‘?
Versuchen Sie nun, die zweite von Raschi ins Spiel gebrachte Möglichkeit zu erklären.
B. Aus irgendeinem Grund will Reuwen Josef retten. Weshalb ist Reuwen plötzlich seinem Vater so zugetan?

Man könnte annehmen, daß Jaakow ziemlich wütend auf Reuwen war, seit die Sache mit Bilha vorgefallen war (siehe 35:22); sehr wahrscheinlich wurde Reuwen danach von seinem Vater verflucht (siehe 49:4) und verlor damit seine „Bechora“. Reuwen hat vielleicht gehofft, daß er sich durch die Rettung Josefs der Achtung seines Vaters wieder wert erweisen könnte. Das würde seine Reaktion erklären, als er den Brüdern von Josefs Verschwinden berichtet – „w’ani ana ani bah“. Dies war seine große Chance, sich vom Fluch zu befreien. Und nun sieht es nur noch schlechter für ihn aus. Sollte Jaakow herausfinden, was geschehen war, dann war es ja im Grunde Reuwens Idee gewesen, Josef in die Grube zu werfen! Für Reuwen könnte das den ‚letzten Stoß‘ bedeuten! [Nur eine Überlegung.]

C. Vorbereitung für den Schiur der kommenden Woche (aus dem Parscha dieser Woche):

Untersuchen Sie Josefs Träume. Vergleichen Sie sie mit Jitzhaks ursprünglicher Bracha für Esaw /Jaakow und dem Standard-Segen der „Bechira“.
Welchem ähneln sie mehr?
Zu welchem Schluß sind die Brüder Ihrer Ansicht nach gelangt?
Wie, glauben Sie, hat Jaakow reagiert?
Haben die Brüder einen Grund für die Annahme, Jaakow mache mit der Bevorzugung Josefs einen Fehler? Haben sie dafür ein Beispiel aus der Vergangenheit?

Schabbat Schalom,
Menachem

Ein Projekt der Synagoge Fraenkelufer-Berlin