Parschat Nizawim – Der Fremde in unserer Mitte

Chabad Lubawitsch

Wenn Sie diese Worte lesen, können wir etwas über Sie sagen: Sie sind wahrscheinlich ein Jude.

Das hört sich selbstverständlich an, aber es ist äußerst kompliziert, heute Jude zu sein. Unser Volk ist nicht nur klein, sondern es ist auch dadurch gefährdet, dass es verschiedene „Arten“ von Juden gibt.

Manche glauben, dass bestimmte Juden sich von ihrer eigenen Gruppe so sehr unterscheiden, dass sie nicht zu ihnen gehören. Oder sie fühlen sich von anderen ausgeschlossen.

Für andere ist das Judentum so etwas wie ein Hobby. Sie finden seine angenehmen Seiten — zum Beispiel Purim — interessant, aber sie ignorieren die „anstrengenden“ Seiten unseres Glaubens.

Einige halten sich für „kulturelle Juden“ und meiden jede religiöse oder rituelle Identifikation mit dem Judentum, als handle es sich dabei um eine andere Nation.

Aber jetzt nähern wir uns Rosch Haschana, dem Fest, an dem wir unser Leben ernsthaft unter die Lupe nehmen. Darum wollen wir auch das Judentum ernsthaft prüfen. Die schlichte Wahrheit ist: Ein Jude ist ein Jude, in unseren Augen und in den Augen anderer. Daran ändert sich auch nichts, wenn sein Glaube, sein Handeln, seine Erziehung oder seine Nähe zur Religion von der Norm oder vom Ideal abweichen. Boris in Russland, Mosche in China, Rosanna in Argentinien haben alle etwas mit Ihnen gemeinsam.

Es handelt sich nicht unbedingt um Ihre Vorstellungen von Moral oder um Ihre einzigartige Weise, „Tikkun Olam“ (die Heilung der Welt) zu praktizieren. Vielleicht ist es nicht einmal die Art und Weise, wie Sie in der Synagoge beten.

Nein, es geht darum, dass wir ein gemeinsames Fundament haben, auf dem das alles ruht: die Torah und die Mizwot. Wenn wir das nicht begreifen und wenn das nicht für Boris, Mosche, Rosanna oder Edith in Ihrer Straße gilt, dann haben wir als jüdisches Volk etwas falsch gemacht.

Wir sind ein Volk. Das ist das Ideal. Wir haben Verantwortung. Das ist die Wirklichkeit. Und eine unserer Aufgaben, vielleicht die wichtigste, besteht darin, zu verstehen, was G–tt von uns will, und dann genau das zu tun, einerlei, ob wir es selbst tun oder ob wir anderen Juden helfen, es zu verstehen. Wenn Sie diese Worte lesen, betrachten Sie sich wahrscheinlich als Jude, Also darf kein anderer Jude für Sie ein Fremder sein.

Der Standpunkt des Rebbe:
Gedanken und Einsichten des Lubawitscher Rebbe

Denken Sie daran, dass Sie nicht der Körper sind. Und Sie sind auch nicht das Tier, das im Körper tobt und seinen Willen durchsetzen möchte. Sie sind eine g-ttliche Seele.

Verwechseln Sie die Schmerzen und den Kampf des Körpers nicht mit der Freude und der Reinheit der g-ttlichen Seele.

Leitgedanken

„Wenn nun das alles über dich kommt, der Segen und der Fluch, den ich vor dich gelegt habe …“ (30:1)

Frage: Das Wort wehaja („es wird sein“) weist meist auf simcha („Glück und Freude“) hin. Wie passt das zu wehakelalla („und der Fluch“), der über uns kommen kann, G–tt verhüte es?

Antwort: Die Gemara (Berachot 54a) sagt, wir seien verpflichtet, Haschem zu preisen, wenn uns etwas Schlechtes zustoße – so wie wir Haschem loben, wenn uns etwas gutes widerfährt. Unsere Weisen erklären das so: Das Gute im Leben – simcha – beruht ebenso auf einer Entscheidung G–ttes wie das Schlechte, und wir müssen beides annehmen (ebenda, 60b). Darum ist das Wort wehaja, das auf Freude hinweist, in diesem Pasuk angemessen, und diese Freude ist auch erreichbar, wenn wir daran denken, dass ascher natati lefanecha, „dass ich, Haschem, derjenige bin, der es vor dich gelegt hat“.

Rabbi Suscha von Anipoli war Schüler von Rabbi Dow Ber von Mesritsch (dem Mesritscher Maggid). Er war krank und sehr arm, aber das hinderte ihn nicht im Geringsten daran, fromm und bescheiden zu sein und Haschem zu lieben. Dafür war er berühmt. Einmal kam Rabbi Schmelke von Nikolsburg zu Rabbi Dow Ber und fragte ihn, wie man den Rat unserer Weisen befolgen und einen Segen sprechen könne, wenn man schlechte Neuigkeiten höre, so wie man gute Nachrichten segne. Rabbi Dow Ber riet ihm, zu Rabbi Suscha zu gehen, der werde ihm antworten.

Also besuchte Rabbi Schmelke den kranken und armen Rabbi Suscha. Als er seine Frage stellte, war Rabbi Suscha überrascht und antwortete: „Du hättest jemanden fragen sollen, dem es schlecht geht, G-tt verhüte es. G-tt sei Dank ist mir in meinem ganzen Leben nur Gutes widerfahren!“

Das war die Antwort für Rabbi Schmelke. Wir sollen uns über unser Schicksal so freuen, dass wir es gar nicht merken, wenn es hart ist. Genau so lebte Rabbi Suscha.

Die lebensrettende Mizvvah

Alle freuten sich über die bevorstehende Hochzeit, und niemand merkte, dass ein Mitglied der Familie, nämlich Rabbi Akiwa, der Brautvater, sich Sorgen machte.

Sein Herz war schwer, weil vor vielen Jahren einige heidnische Sterndeuter vorhergesagt hatten, seine Tochter werde an ihrem Hochzeitstag sterben – eine Schlange werde sie beißen, und niemand könne das verhindern.

Der Tag der Hochzeit kam.

Mitten in den Feierlichkeiten kam ein armer Mann und blieb in der Tür stehen. Sehnsüchtig schaute er auf die vielen Teller mit dampfenden Speisen. Wann hatte er sich zuletzt satt gegessen? Er schaute sich nach jemandem um, der ihm etwas abgeben würde. Aber er war zu verlegen, um hineinzugehen, und niemand achtete auf ihn, denn alle waren zu sehr beschäftigt.

Aber er ging auch nicht weg, denn er hoffte, jemand werde ihn bemerken und mit ihm Mitleid haben. Und tatsächlich – die Braut sah die einsame Gestalt in der Tür und seine sehnsüchtigen Blicke. Rasch und still schlich sie sich fort und brachte ihm einen großen Teller mit köstlichen Speisen, die eigentlich für sie reserviert waren. Sie bat ihn, nach Herzenslust zu essen und schlicht sich unauffällig zurück auf ihren Platz.

Als das Fest vorbei war, ging die kalla in ihr Zimmer, entfernte die schöne goldene Nadel, die ihren Schleier geschmückt hatte, und steckte sie zwischen zwei Steine in die Wand.

Als sie am nächsten Morgen aufwachte schaute sie nach ihrer hübschen Brosche. Da war sie, genau über ihrem Kopf in der Wand. Sie zog sie heraus – und schrie. Die Nadel hatte nämlich den Kopf einer Giftschlange durchbohrt und das Tier getötet!

Sie rannte zu ihrem Vater und erzählte ihm alles. Rabbi Akiwa seufzte tief vor Erleichterung. „Sag mir, liebe Tochter, hast du gestern etwas Gutes getan, was dich vielleicht vor dem Tod errettet hat?“

Sie dachte nach und antwortete: „Ja, Vater. Beim Festmahl sah ich einen Bettler in der Tür stehen. Er schaute hungrig auf die gefüllten Teller. Niemand beachtete ihn, darum stand ich auf und brachte ihm einen Teller mit Essen – mit meinem Essen.“

„Du hast etwas sehr Schönes getan, mein Kind. Und diese Mizwa hat dir das Leben gerettet. Dir war bestimmt, durch einen Schlangenbiss zu sterben; aber Haschem war dir gnädig, so wie du gnädig zu einem hungrigen Bettler warst.“