Von Rabbi Lawrence Kushner
Wie kann alles, was man wissen muss, in der Tora, in nur fünf Büchern, stehen?
Vor langer Zeit erkannten unsere Lehrer, dass die Tora wie ein wunderschöner Obstgarten ist. Aus der Entfernung sieht man nur ein Stück Land mit Bäumen. Wenn man näher kommt, sieht man, dass jeder Baum Blätter, Blüten und Früchte trägt. Wenn man noch näher kommt, stellt man fest, dass jede Frucht mit einer Haut bedeckt ist. Und, wenn man nicht locker lässt und die Haut abstreift, ist ein köstlicher Geschmack unser Lohn. Jetzt erkennst du, dass etwas, was zunächst nur ein Stück Land voll mit Bäumen zu sein schien, tatsächlich Schicht für Schicht köstliche Dinge birgt.
Das hebräische Wort für Obstgarten ist pardes. Man schreibt es mit den hebräischen Buchstaben pe, resch, dalet und samech. Jeder dieser Buchstaben steht für eine Schicht der Tora.
pschat
Der Buchstabe pe ist der erste Buchstabe von pschat. Das bedeutet die „Geschichte an sich“, die man erfährt, wenn man nur oberflächlich in der Tora liest, ohne tiefer nachzudenken. Zum Beispiel: Als Adam Gott ungehorsam war und vom Baum der Erkenntnis aß, schämte er sich und deshalb versteckte er sich {Tora: Genesis 3,8-10). Das ist die Geschichte an sich.
remes
Der Buchstabe resch ist der erste Buchstabe des Wortes remes, das bedeutet „Hinweis“. Wenn du über eine Geschichte oder ein Wort in der Tora nachdenkst, führt dies in der Regel dazu, dass du über andere, weitere Dinge nachdenkst. Wenn du fragst, was ein Wort bedeutet, wirst du feststellen, dass es dich an etwas erinnert, worüber du heute oder früher nachgedacht hast oder was du schon einmal getan hast oder gerade tust. Vielleicht hast du wie Adam selbst schon einmal etwas getan, wofür du dich geschämt hast und weshalb du versucht hast, dich zu verstecken. Adams Geschichte enthält also Hinweise auf Dinge in deinem eigenen Leben.
drasch
Der Buchstabe dalet ist der erste Buchstabe des Wortes drasch, das bedeutet „Predigt“. Einige der Lehren in den Geschichten erinnern dich vielleicht an andere Geschichten in der Tora, diese wiederum können dich etwas über dein Leben lehren. Wenn Gott weiß, wo Adam sich versteckt hat, warum fragt er ihn dann: „Wo bist du?“ Vielleicht möchte Gott, dass Adam erkennt, dass er sich in Wirklichkeit nur vor sich selbst versteckt, wenn er versucht, sich vor Gott zu verbergen.
sod
Der vierte Buchstabe in dem Wort pardes, der Buchstabe samech, ist der erste Buchstabe des Wortes sod, das bedeutet „Geheimnis“. Diese Schicht der Tora ist „geheim“, nicht weil sie nicht erzählt werden darf, sondern weil ihr Sinn, selbst wenn er entdeckt wird, geheimnisvoll bleibt. Nur ein fortgeschrittener Schüler der Tora vermag die geheime Bedeutung zu verstehen, wenn Gott sagt: „Gestern, Adam, warst du so groß, dass du von einem Ende der Welt bis zum anderen reichtest, aber jetzt, nachdem du gesündigt hast, kannst du dich zwischen den Bäumen des Gartens verstecken“ (Midrasch Genesis Rabba 19,9).
Alle Buchstaben zusammengenommen, Pe, Resch, Dalet und Samech: die Geschichte an sich, der Hinweis, die Deutung und das Geheimnis, ergeben das Wort Pardes, Obstgarten. Die Tora, die Quelle des Judentums, ist also wie ein Obstgarten. Sie birgt viele wundervolle und köstliche Überraschungen. Aber mehr als das: sie erzählt uns alles, was wir Juden wissen und tun müssen. Indem sie uns sagt, wie wir leben sollen, gibt die Tora uns das Leben. Wie es im Buch der Sprüche heißt: „Sie ist ein Lebensbaum für die, die an ihr festhalten“ (Sprüche 3,18).
Quelle: Lawrence Kushner, Das Buch der Wunder: Jüdische Spiritualität für junge Leute