Paraschath Acharej Moth: Priorität des Lebens

Von Zwi Braun

„Hütet Meine Gesetze und Meine Rechtsordnungen, die der Mensch zu erfüllen hat, damit er durch sie lebe, Ich bin Gott“ (Waj. 18,5).

Diesen Worten haben unsere Weisen die Lehre entnommen, dass zur Rettung eines Menschenlebens eine Gesetzesübertretung erlaubt, ja sogar ausdrücklich geboten ist:

„Woher entnehme ich, dass Lebensgefahr (Pikuach Nefesch) den Schabath verdrängt? Es heisst: ‚…die der Mensch zu erfüllen hat, damit er durch sie lebe‘, und nicht damit er durch sie sterbe“ (BT – Joma 85b).

Es ist kein Zufall, dass unsere Weisen die Maxime, menschliches Leben unter allen Umständen zu retten, ausgerechnet im Talmudtraktat Joma diskutieren, der dem Versöhnungstag gewidmet ist. Am Jom Kippur „besiegelt“ Gott Seine Entscheidung über das Leben aller Menschen im kommenden Jahr. Wir alle hoffen, definitiv in das Buch des Lebens eingeschrieben zu werden. Da ist es nur logisch, dass wir bekräftigen, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um menschliches Leben zu erhalten.

Aus jüdischer Sicht besitzt menschliches Leben einen unantastbaren, unendlichen Wert. Der ehemalige Oberrabbiner von Grossbritannien, Dr. Immanuel Jakobovits, hat dies so formuliert:

„Der Wert eines menschlichen Lebens ist unendlich und nicht messbar, so dass jeder Teil dieses Lebens, sogar wenn es sich nur um eine Stunde oder Sekunde handelt, genau denselben Wert besitzt wie siebzig Jahre desselben. So wie jeder Bruchteil der Unendlichkeit, da diese nicht teilbar ist, unendlich bleibt. Daher stellt das Töten eines altersschwachen Patienten, dessen Ende nahe ist, genau dasselbe Verbrechen – Mord – dar, wie das Töten eines jungen gesunden Menschen, der noch viele Lebensdekaden vor sich hat“ (in Rosner/Bleich: Jewish Bioethics, New York, 1979).

Eine heute oft diskutierte Frage ist der Status des ungeborenen Lebens, des Embryos und des Fötus (nach Abschluss der Organentwicklung, ungefähr acht Wochen nach der Befruchtung). Der Talmud ist der Meinung, dass die Seele sich bereits ab dem Zeitpunkt der Befruchtung im Embryo befindet:

„Ferner fragte Antoninus (Kaiser Marc Aurel, 170 nZ) Rabbi Jehuda Hanassi: Wann kommt die Seele in den Menschen, beim Bedenken (Konzeption) oder bei der Bildung (des Embryos)? Dieser erwiderte: Bei der Bildung. Jener entgegnete: Ist es denn möglich, dass ein Stück Fleisch ungesalzen drei Tage, ohne übel riechend zu werden, sich hält? Vielmehr beim Bedenken. Rabbi sagte: Dies lehrte mich Antoninus und ein Schriftvers (Ijow 10, 12) unterstützt ihn, denn es heißt: ‚Dein Bedenken wahrte meinen Geist'“ (Sanhedrin 91b).

Dennoch besitzt nach der Halacha der Embryo nicht bereits ab dem Zeitpunkt der Befruchtung volle menschliche Rechte. Bis zur Geburt wird er, bzw. der Fötus, als Teil der Mutter und nicht als eigenständige Person angesehen. Daher besitzt das Leben der schwangeren Mutter, falls es in Gefahr ist, Priorität vor dem Leben des ungeborenen Kindes. Bis zum vierzigsten Tag nach der Befruchtung betrachtet der Talmud den Embryo als „bloßes Wasser“ (z.B. Nidda 30b), was bei den Überlegungen eines Schwangerschafts-abbruches bei einigen Dezisoren eine Rolle spielt. Die meisten halachischen Kapazitäten betrachten den Embryo vom Zeitpunkt der Befruchtung an als „potentielle Persönlichkeit“, die Schutz verdient. Der Fötus wird dann zur Person, wenn der größte Teil von ihm geboren ist. Dann besitzt er die gleichen Rechte wie die Mutter. Dies geht aus der Mischnah hervor:

„Befindet sich eine Frau in schweren Geburtswehen (die lebensbedrohend sind), so zerschneide man den Fötus und hole ihn stückweise heraus, denn ihr Leben geht seinem Leben vor. Ist die größere Hälfte (des Fötus) herausgekommen, so rühre man ihn nicht an, denn man verstoße nicht ein Leben wegen eines anderen Lebens“ (Ohalot 7, 6). Der Schulchan Aruch ersetzt den Ausdruck „der größere Teil“ durch Kopf (Choschen Mischpath 425, 2). Halachisch besitzt ein Mensch also erst nach der Geburt volle Rechte. Das Töten von ungeborenem Leben wird nicht als Mord, aber als schweres Vergehen angesehen, für welches man sich vor dem göttlichen Gericht des Todes schuldig macht – chajav Mitah bijdej Schamajim (Meschekh Chochmah). Die Torah ist eine Torath Chajim, die unabhängig von irgendwelchen, letztendes willkürlichen Kriterien den Wert menschlichen Lebens nicht als relativ sondern als absolut betrachtet – vechaj bahem!

Vorbereitung zur Versöhnung

„Und es sei euch zur ewigen Satzung: Im siebten Monat, am zehnten des Monats sollt ihr euch kasteien und keinerlei Arbeit verrichten, der Bürger und der Fremde, der unter euch weilt“ (Wajikra 16.29)

Was haben wir unter Kasteiung, hebräisch Inuj, zu verstehen? Ibn Esra verweist unter anderem auf einen Vers in Jeschajahu (58,10), wo von einer kasteiten Seele die Rede ist, die man sättigen soll. Kasteiung hat also mit Fasten zu tun. Neben dem Verbot zu essen und zu trinken nennt die Mischnah (Joma 8,1) vier weitere Handlungen, welche am Jom Kipur verboten sind und eine Kasteiung darstellen: das Waschen und Salben des Körpers, das Anlegen von Lederschuhen und den Verkehr zwischen Mann und Frau.
Nach Raw Chisda finden wir in der Tora an fünf Stellen den Ausdruck „Inuj“, was den fünf vorgeschriebenen Kasteiungen entspricht.
Rabbi Menachem ben Binjamin Recanati erklärt, warum die Enthaltsamkeit bei diesen fünf Dingen eine Vorbereitung und ein Mittel zur Versöhnung ist. Der Mensch ist ein irdisches Wesen aus Fleisch und Blut und kann sich den Versuchungen zur Sünde nicht vollständig entziehen. Was berechtigt ihn dazu, für seine Vergehen um Vergebung zu bitten? Himmlische Wesen, Engel, sündigen nicht. Indem der Mensch an Jom Kipur auf seine körperlichen Bedürfnisse verzichtet, wird er gleichsam, wenigstens für einen Tag, den Engeln ähnlich, die keine physischen Bedürfnisse haben und nicht sündigen. In diesem Rahmen erlangen wir am Jom Kipur Vergebung. Wir erheben uns über unsere materiellen Grundlagen hinaus und stellen im intensiven Gebet das Geistige in den Vordergrund.

Einen fast gleichlautenden Vers finden wir in Paraschat Emor (Waj. 23, 32), wo ebenfalls von Jom Kipur die Rede ist:

„Eine Schabbatfeier sei er euch und ihr müsst euch kasteien; am neunten des Monats abends, von Abend bis Abend sollt ihr eure Feier halten.“

Hier lässt die Tora in Ergänzung zum oben zitierten Vers (Waj. 16, 29) die Kasteiung bereits am 9. Tischri beginnen. Im Talmud wird dies so gedeutet:

„Rabbi Chija bar Raw aus Difte lehrte: Fastet man etwa am neunten, man fastet ja am zehnten? Dies besagt vielmehr, dass die Tora jedem, der am neunten isst und trinkt, es anrechnet, als faste er am neunten und am zehnten“ (Brakhoth 8b).

Wie sollen wir diese Auslegung verstehen? Rabbi Jakow ben Ascher, der Verfasser der Arba’a Turim, ein Werk auf dem der Schulchan Aruch aufbaut, erklärt dies anhand eines Gleichnisses mit einem König und seinem einzigen Sohn. Der König ordnet für den Sohn ein eintägiges Fasten an, befiehlt aber, ihm zuvor reichlich zu essen und zu trinken zu geben, damit er für den Fasttag gerüstet sei. Auch wir kennen den Brauch, am Vorabend des Versöhnungstages ein festliches Essen einzunehmen. Geschieht dies im Bewusstsein, uns damit für den heiligsten Tag im Jahr zu rüsten, so wird diese Mahlzeit selbst zu einer Mizvah. Der Sfath Emeth betont, dass man mit der richtigen Absicht (Kavanah) an diesem Tag gleichsam alle Übertretungen der Speisegesetze im vergangenen Jahr „neutralisieren“ kann. Auch Essen und Trinken sollen im Dienst Gottes stehen. In typisch chasidischer Auslegung gibt uns Rabbi Elimelech von Lyzhansk zu verstehen, warum Essen am Vorabend des Jom Kippur einer Kasteiung gleichkommt. Kann man denn angesichts des bevorstehenden Tages, an dem das himmlische Urteil über jeden Einzelnen besiegelt wird, überhaupt an Essen und Trinken denken? Dies allein ist eine Peinigung!

Die Erwähnung des neunten Tischri als Beginn der Kasteiung erfährt im Talmudtraktat Rosch haSchanah (9a) eine weitere Deutung. Aus der Formulierung der Torah „am neunten“ und „am Abend“ leiten unsere Weisen das Prinzip von „Tosefeth Jom“ (Hinzufügung) ab, das heißt die Verpflichtung den Festtag etwas früher beginnen und etwas später enden zu lassen. Wir fügen vom „Profanen“ (Chol) zum Heiligen etwas hinzu. Dies gilt nicht nur für Jom Kippur, sondern auch fur Schabath und alle weiteren Festtage. So symbolisieren wir unsere Erwartung und Sehnsucht nach diesen Tagen der Heiligkeit und unser Bedauern, dass sie so rasch wieder vorbei sind. Manchmal ist die Vorbereitung auf eine Mizvah mindestens so bedeutend wie die Mizvah selbst!

Quelle: Zwi Braun, Zeitlos aktuell, Morascha Zürich