Paraschat wesot haBracha – Der Segen des Neubeginns

Von Zwi Braun

Die letzte Parascha der Tora kommt an Simchat Tora zur Vorlesung. Aus kalendarischen Gründen fällt außerhalb Israels Simchat Tora nie auf einen Schabbat. Diese Parascha steht auch nicht für sich allein, denn unmittelbar nach ihr beginnen wir noch am selben Festtag erneut mit der Lesung des ersten Kapitels der Tora, Bereschit. Dadurch demonstrieren wir, dass es in der Beschäftigung mit der Tora keinen Unterbruch geben darf, „sie stellt unser Leben dar“. Zum Thema der Wiederholung bemerken unsere Weisen, wie schon erwähnt, dass derjenige, der ein Kapitel 100mal studiert hat, sich nicht mit demjenigen vergleichen kann, der dasselbe Kapitel 101mal durchgegangen ist (Chagiga 9b). Jeder neue Zyklus bringt uns neue Einsichten, wir müssen uns nur darum bemühen!

Viele Kommentare versuchen zwischen der ersten und letzten Parascha der Tora einen Zusammenhang herzustellen. Nehmen wir die Namen der betroffenen Wochenabschnitte, so können wir lesen: „Und dies ist der Segen — im Anfang“. Nach den vorangegangenen Feiertagen, Rosch Haschana, Jom Kippur, Sukkot und Schmini Azeret werden wir in ein neues Jahr entlassen. Herbst und Winter mit den kürzer werdenden, dunkeln Tagen kündigen sich an, melancholische Gedanken bewegen oft unser Gemüt. Da teilt uns die Tora mit, dass wir die Möglichkeit zum Neubeginn haben. Gott segnet uns mit einem weiteren Lebensjahr, das es positiv zu gestalten gilt — der Segen des Neubeginns.

Die letzten Worte der Tora — „was Mosche vor den Augen von ganz Jisrael vollbrachte“ (Dew. 34, 12) — verbinden sich mit den ersten Worten der Tora — „Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde“ (Ber. 1, 1) — zu einer Botschaft. Das ganze Streben Mosches ging dahin, dem Volk Gott als den Schöpfer der Welt und Lenker der Geschichte nahezubringen. Diesen Gedanken wollte Mosche in jedem Juden verwurzeln und ihn als ewige Wahrheit verankern (Rabbi Jizchak von Worka).

Die Kabbala und die Werke des Chassidismus sehen in der Reihenfolge der Buchstaben der Tora nicht nur eine Möglichkeit, wie sie zu lesen ist. Es gibt deren viele, die uns nur noch nicht offenbart wurden. Der letzte Buchstabe der Tora, das „Lamed“ des Wortes Jisrael, und der erste Buchstabe, das „Bet“ von „Bereschit“, ergeben zusammen das Wörtchen „Lew“, Herz. Rabbi Jakow Jizchak, der „Seher“ von Lublin, sieht darin den Mittelpunkt, das Zentrum der Tora, oder wie die talmudischen Gelehrten bemerkten: Gott braucht das Herz des Menschen (Sanhedrin 106b). Auf die Frage des Mischnagelehrten Rabbi Jochanan ben Sakkai an fünf seiner Schüler, welches der beste Weg sei, den ein Mensch einschlagen solle, antwortete ihm Rabbi Elasar ben Arach mit den Worten — ein gutes Herz. Dieser Antwort gab Rabbi Jochanan ben Sakkai den Vorzug (Awot 2, 9). Tora lernen und praktizieren, dazu benötigen wir alle ein gutes Herz.

Israels Schwert

„Wohl dir Israel, wer ist dir gleich? Volk, dem durch Gott geholfen wird, Schild deiner Hilfe und Schwert deines Ruhmes; deine Feinde schmeicheln dir, du aber schreitest einher auf ihren Höhen“ (Dew. 33, 29).

Mit diesen Worten beendet Mosche seinen Segen für die einzelnen Stämme, bevor er den Berg Newo besteigt, wo ihn Gott von dieser Welt abberufen wird. Das hebräische Wort „Aschrecha“, wohl dir, veranlasste den Gaon von Wilna, auf einen Satz im Propheten Malachi zu verweisen, wo derselbe Ausdruck verwendet wird: „Und es werden euch glücklich preisen (we’ischru) alle Völker, denn ihr werdet ein Land sein, an dem der Ewige Wohlgefallen findet, spricht der Ewige der Heerscharen“ (3, 12).

In dem Moment kann sich das jüdische Volk glücklich preisen, in dem es über ein eigenes Stück Land verfügt, ein Fleckchen Erde, wo es in voller Souveränität über seine Geschicke bestimmen kann. Ein Land, in welchem das Gesetz Gottes vorbildlich für alle Völker der Welt gelebt werden kann, und an dem daher Gott Wohlgefallen findet.

„Mi Kamocha“, wer ist Dir gleich unter den Mächten, Gott? Mit diesen Worten hat Am Jisrael (das Volk Israel) nach der Durchquerung des Schilfmeeres Gott seinen Dank in der Schira ausgesprochen (Schmot 15, 1). Und mit genau denselben Worten lobt hier Mosche sein Volk. Gott und das von Ihm dazu bestimmte Volk, Seine Torah in der Welt zu verbreiten, beide sind einzigartig. Eine Idee, welche wir in der Schmone Esre des Minchagebets am Schabbat formulieren: Du bist einzig, und Dein Name ist einzig, und wer ist, wie Dein Volk Israel, ein einziges Volk auf Erden. Rabbiner Dr. Munk bemerkt dazu in seinem Kommentar „Die Welt der Gebete“: „Weil es seit den Uranfängen der Geschichte seinem Gott unbeirrbar die Treue gewahrt und keinen anderen als nur Ihn als seinen König anerkannte und darum wie kein anderes alle Stürme der Jahrhunderte ohne zu zerschellen siegreich überstanden, darum wird dieses Volk einzig dastehen auf Erden und wird zur ‚Krone der Verherrlichung in Gottes Hand werden‘ (Jesch. 62, 3).“

Der Ktaw Sofer sieht im obigen Satz den Verlauf der jüdischen Geschichte angedeutet. Beim Auszug aus Ägypten und während der vierzigjährigen Wüstenwanderung war es die direkte göttliche Intervention, welche das Volk rettete und beschützte. Von nun an, unter seinem Nachfolger Jehoschua, wird Israel sich auf die Kraft seines Schwertes, auf natürliche Verteidigungsmittel verlassen müssen.

Für viele Kommentatoren ist jedoch die alleinige Interpretation von „Cherew“ als physisches Schwert unbefriedigend. Heisst es nicht in der Tora (Ber. 27,22): „Die Stimme ist die Stimme Jakows, und die Hände sind die Hände Esaws?“ Beruht nicht die wahre, innere Stärke Jakows auf der Stimme, der Stimme des Gebetes? Tatsächlich übersetzt der aramäische Targum Onkelos die Worte Jakows zu seinem Sohne Josef, „… was ich von der Hand des Emori mit meinem Schwert und mit meinem Bogen gewonnen habe“ (Ber.48,22) mit „… was ich durch mein Gebet und mein Flehen gewonnen habe.“

Natürlich muss Israel zum Schwert greifen, wenn es gilt, sich zu verteidigen, doch nicht auf diese Waffe ist es stolz. Sein Stolz gilt dem geistigen Schwert, seiner Kraft, im Gebet immer wieder zu Gott zu finden und so den Sieg herbeizuführen. So verdanken wir bezeichnenderweise den Grossteil der Psalmen König David, der zugleich ein mächtiger und siegreicher Feldherr war. Die Orte seiner gewonnenen Schlachten müssen die meisten von uns wohl nachschlagen, doch sind seine wunderbaren Gebete uns geläufig und integraler Bestandteil jüdischen und sogar christlichen Gottesdienstes geworden!

Ha’amek Dawar assoziiert mit dem Schwert des Ruhmes ein anderes Metall, das Messer, mit welchem Awraham auf Geheiss Gottes Hand an Jizchak legen sollte. Die Bereitschaft von Jizchak, sein Leben Gott zu opfern, steht symbolisch für die Bereitschaft des jüdischen Volkes, seinem Gott und seiner Tora treu zu bleiben, trotz Verfolgung und Hass durch eine oft feindlich gesinnte Umwelt.

„Dein Stolz ist dein Schwert, deine Waffe“, so interpretierte Rabbiner Jizchak Nissenbaum unseren Passuk (Abschnitt). Der Stolz auf jüdische Identität, jüdische Geschichte, jüdische Kultur, der Stolz auf die Tora waren und sind unsere stärksten Waffen im Kampf gegen einen Feind, dem es oft genug gelang, uns physisch zu vernichten, dem es aber nicht gelang, uns geistig zu brechen. Rabbiner Jizchak Nissenbaum war lebendes Beispiel für diese Haltung. Führender Vertreter des religiösen Zionismus im Vorkriegspolen wurde er im Alter von 74 Jahren 1942 im Warschauer Ghetto von den Deutschen Okkupanten ermordet. Er prägte den Begriff von „Kiddusch Hachajim“, der Heiligung des Lebens.

Er propagierte, selbst unter den widrigsten Umständen die Befolgung der Mizwot aufrecht zu erhalten. Angesichts der drohenden totalen Vernichtung, setzte er der brutalen und grausamen Gewalt des Feindes unbeirrbar das Schwert jüdischen Selbstbewusstseins entgegen. Den Körper des Juden konnte man vernichten, nicht jedoch seinen Geist. Und so verwirklichte sich letztendes selbst unter diesen Umständen: „… Du (Jisrael) aber schreitest einher auf ihren Höhen“ (Dew. 33, 29).

Quelle: Zwi Braun, 3 Minuten Ewigkeit. Aktuelle Betrachtungen zum Wochenabscbnitt und zu den jüdischen Feiertagen, Morascha Zürich