Paraschat Mischpatim: Handeln und Verstehen

Von Zwi Braun

„Er nahm das Buch des Bundes und las es dem Volk vor. Da sprachen sie: alles, was Gott gesprochen, wollen wir tun und hören“ (Schmoth 24,7).

In der Reihenfolge „N’ase venischma“ drückte das Volk seine Bereitschaft aus, der praktischen Ausführung der Mizwoth Priorität zukommen zu lassen. Erst dann sollte das Suchen nach deren Bedeutung, das Nachdenken und Verstehen folgen. Diese „umgekehrte“ Reihenfolge rief bereits in der Vergangenheit den Spott unserer Gegner hervor. Der Talmud berichet uns folgende Episode:

„Ein Ungläubiger sah, wie Rawa so in das Studium der Tora vertieft war, dass (im Sitzen) seine Hand unter den Fuss geriet und er sie so stark quetschte, dass sie zu bluten begann. Da sprach er zu ihm: ‚Voreiliges Volk, die ihr den Mund den Ohren vorangeschickt habt, noch immer befindet ihr euch in eurer Gedankenlosigkeit. Ihr solltet vorher hören, ob ihr die Lehre auf euch nehmen könnt oder nicht.‘ Da antwortete ihm Rawa: ‚Von uns, die wir in Aufrichtigkeit wandeln, heisst es (Mischle 11,3): ‚Die Rechtschaffenen leitet ihre Unschuld. Von jenen, die in Verdrehungen wandeln, heisst es (Mischle 11,3): ‚Die Treulosen richtet ihre Bosheit zugrunde“‚ (Schabbat 88b).

Das aufrichtige Befolgen der Mizwoth führt den jüdischen Menschen auf den richtigen Lebensweg und lässt ihn auch mit der Zeit den vollen Sinn seiner Lebenshaltung verstehen. Mit der Bedeutung der Mizwot („T’ame haMizwoth“) hat sich unter vielen jüdischen Denkern auch Maimonides auseinandergesetzt. Seine Worte haben bis heute nichts an Aktualität verloren:

„Ebenso wie die Theologen in der Frage geteilter Meinung sind, ob die Handlungen Gottes das Ergebnis Seiner Weisheit oder nur Seines Willens ohne jegliche Absicht sind, so sind sie es, was den Zweck der Gebote anbetrifft, die Gott uns gab. Einige denken, dass die Gebote überhaupt keinen Zweck haben und nur durch den Willen Gottes angeordnet wurden. Andere sind der Meinung, dass alle Gebote und Verbote durch Seine Weisheit vorgeschrieben wurden und ein bestimmtes Ziel verfolgen; daher gibt es einen Grund für jede Vorschrift; sie werden uns eingeschärft, weil sie nützlich sind. Wir alle, das gewöhnliche Volk wie die Gelehrten glauben, dass es einen Grund für jedes Gebot gibt, obwohl Gebote vorkommen, deren Grund uns unbekannt ist und die Wege göttlicher Weisheit uns unverständlich sind. Diese Ansicht wird klar in der Schrift ausgedrückt: ‚Gerechte Satzungen und Vorschriften‘ (Dew. 4,8) und ‚Die Aussprüche des Ewigen sind wahr und alle zusammen gerecht‘ (Teh. 19, 10).

Folglich gibt es einen Grund für jedes Gebot, jede positive oder negative Vorschrift dient einem nützlichen Zweck; in manchen Fällen ist der Sinn augenscheinlich, z.B. das Verbot zu morden und zu stehlen; in anderen nicht so sehr, wie z.B. das Verbot eine Baumfrucht in den ersten drei Jahren zu geniessen (Waj. 19,23).

Die Gebote, deren Absicht im allgemeinen klar ist, werden ‚Mischpatim‘ (Rechtsvorschriften) genannt, diejenigen, bei denen dies nicht der Fall ist, ‚Chukim‘ (Satzungen). Es heisst: ‚Es ist nicht ein leeres Wort für euch‘ (Dew. 32,47). Das will sagen, die Anordnung dieser Gebote ist nicht eine vergebliche Sache, ohne sinnvolle Absicht. Und wenn dies bei irgendeinem Gebot der Fall zu sein scheint, dann ist dies auf dein fehlendes Verständnis zurückzuführen“.
(More Newuchim, Buch 3, Kap. 26).

Da es also Gebote gibt, die uns nur schwer oder gar nicht verständlich sind, kann deren Befolgung nicht von ihrem Verständnis abhängig gemacht werden, denn der menschliche Geist ist unvollkommen. So findet jede Generation in der Torah und den Mizvoth die Antwort auf ihre spezifisch zeitgebundenen Fragen, und es gilt das Wort unserer Weisen: „Forsche in ihr und forsche in ihr, denn alles ist in ihr enthalten!“ (Pirke Awoth 5,25). Viele unserer Weisen haben zu jeder Zeit den Mizvot sehr verschiedene und sich ändernde Bedeutungen beigelegt, die praktische Verwirklichung der Mizwa blieb stets dieselbe.

Kaum von einer Mizwa kann man behaupten, dass ihr geistiger Hintergrund voll ausgeleuchtet sei. Ein Beispiel aus der Naturwissenschaft möge diese Vielfalt der Erklärungen für eine Mizwa verdeutlichen. Die Chemie kennt die Erscheinung, dass die Struktur eines Moleküls nicht durch eine Formel allein, sondern erst durch mehrere Formeln zu beschreiben ist (Mesomerie). Alle Formeln zusammen erst ergeben das wahre Bild des Moleküls. Genauso verhält es sich mit den Mizvot und ihrer Bedeutung. Jeder Grund für ein Gebot hat einen gewissen Wahrheitscharakter, aber erst alle Bedeutungen zusammen erfassen die Mizvah im ganzen.

Rabbi Me’ir Simcha von Dvinsk macht uns in seinem Kommentar „Meschech Chochma“ darauf aufmerksam, dass wir den anfangs zitierten Passuk bereits in einer leicht abgewandelten Form in der vorangehenden Parascha angetroffen haben:

„Das ganze Volk antwortete einstimmig und sprach: Alles was Gott gesprochen, wollen wir tun“ (Schmot 19,8).

Natürlich kann nicht jeder Jude alle Mizvoth erfüllen. Es gibt z.B. Gebote nur für Leviim oder Kohanim, nur für Frauen oder Männer. Doch wenn jeder die Mizvah erfüllt, die ihm obliegt, so erfüllt das ganze Volk die ganze Torah, im Sinne der Mitverantwortung jedes einzelnen für seinen Mitmenschen. Und wenn wir weiter auf die Gebote hören, d.h. uns mit ihnen beschäftigen, sie studieren und uns in sie vertiefen, selbst wenn wir sie nicht ausüben können, so ist ebenfalls das ganze Volk an der Realisierung der ganzen Tora beteiligt!

Quelle: Zwi Braun, 3 Minuten Ewigkeit. Aktuelle Betrachtungen zum Wochenabscbnitt und zu den jüdischen Feiertagen, Morascha Zürich