Paraschat Mikez

Von Rabbi Menachem Leibtag
Schiurimreihe Fraenkelufer

In Parschat Miketz steigt Joseph in Ägypten zu königlichen Würden auf, aber trotz seiner hohen Position versucht er kein einziges Mal, Kontakt zu seinem Vater aufzunehmen. Kümmert ihn sein Vater nicht mehr, der ihn so innig geliebt hat?

In Parschat Wa’jeschew verschworen sich Jaakow Awinus zehn Söhne, ihren eigenen Bruder zu töten, und zwar anscheinend aus niederer Eifersucht! Kann es für dieses grausame Verhalten irgendeine Entschuldigung geben?

Wie haben wir das Verhalten unserer Vorfahren in diesen beiden Parschiot zu verstehen? Lehren uns diese turbulenten Ereignisse von Sefer Bereschit einfach nur etwas über unser „schandbares“ Erbe, oder beinhalten sie auch eine Botschaft für künftige Generationen?

Im Schiur dieser Woche wollen wir diesen schwierigen Fragen nachgehen, indem wir den „Bechira-Prozeß“ – das Thema von Sefer Bereschit – mit der Geschichte von Joseph und seinen Brüdern verknüpfen. In Teil Eins wird mit Hilfe dieses Themas der Haß der Brüder Josephs erklärt; Teil Zwei erklärt mit diesem Thema Josephs HAUPTPLAN.

TEIL I – „SINAT ACHIM“ & IDEALISMUS

Um dem Motiv für den Haß von Josephs Brüdern auf die Spur zu kommen, müssen wir zur Geschichte der Träume Josephs zurückkehren (Anfang von Parschat Wa’jeschew). Sehen wir uns diese beiden Träume zunächst noch einmal kurz an:

„Sieh, wir banden Garben mitten auf dem Feld; da richtete sich meine Garbe auf und blieb auch stehen, und eure Garben reihten sich rings herum und warfen sich vor meiner Garbe hin.“ (37:7)
„… und sieh, die Sonne und der Mond und elf Sterne, die warfen sich vor mir nieder.“ (37:9)
Man muß kein Prophet sein, um die beiden Träume Josephs zu deuten. Ganz eindeutig weisen sie auf Josephs Überlegenheit über seine ganze Familie hin. In Ihnen klingt jedoch auch eine frühere Geschwisterrivalität in Chumash an, und zwar die zwischen Jaakow und Esaw! Denken wir an Jitzhaks Segen für Jaakow, den er eigentlich Esaw hatte erteilen wollen:

„So gebe dir Gott … Korn die Fülle …
HERR WERDE DEINEN BRÜDERN,
Dir BEUGEN sich die Söhne deiner Mutter.“ (27:28)

Diese Parallele läßt darauf schließen, daß Josephs Träume vielleicht nicht nur auf seine künftige Führungsrolle hinweisen, sondern auch darauf, daß Joseph der EINZIGE ‚auserwählte Sohn‘ sein könnte, genau wie Jaakow selbst sich als Jitzhaks einziger auserwählter Sohn erwiesen hatte! Nehmen wir noch folgendes hinzu:

* Jaakows Liebe und besondere Behandlung Josephs (siehe 37:3);

* sein „Ktonet pasim“ (besonderer Rock), ein Zeichen der Herrschaft;

* Joseph ist Rachels erster Sohn [sie ist Jaakows ‚erste‘ Frau];

* Jaakows Schweigen zu Josephs Träumen (siehe 37:11);

und die Folgerung liegt auf der Hand: die Brüder kommen zum Schluß, daß Jaakow die Benennung Josephs zu seinem Erben beabsichtigt. Josephs Träume gießen ganz einfach noch ‚Öl aufs Feuer‘!

Vor diesem Hintergrund können wir uns eine gedankliche Basis für den Mordplan der Brüder Josephs vergegenwärtigen.

ALLES IM NAMEN GOTTES

Wäre Joseph in den Augen seiner Brüder weniger überheblich gewesen, hätten sie sich vielleicht mit diesem Schicksal abfinden können. Ihre Wahrnehmung von Josephs Charakter beunruhigte sie aber. In ihren Augen war Joseph ein ‚Verleumder:

„Und Joseph überbrachte üble Nachrede („Diba ra’ah“) über sie ihrem Vater“ (siehe 37:2).

Die Brüder wußten um die Herausforderung für Gottes besonderes Volk und erkannten durchaus die Notwendigkeit einer eindeutigen Führerschaft. Konnte denn Joseph diese Rolle ausfüllen? Schon der bloße Gedanke, ‚Joseph, der Verleumder könnte ihr Führer werden, war den Brüdern zuwider. Aus ihrer Sicht war es schlicht UNDENKBAR, daß Joseph die Führungsrolle in einem Volk übernehmen sollte, das von Gott dazu bestimmt war, „Tzedek u’Mischpat“ zu zeigen (siehe 18:19). Zum Wohl von „Klal Jisrael“ kommen sie zum Schluß, daß Joseph ausgeschaltet werden muß!

Die Brüder waren also in einer Zwickmühle ähnlich derjenigen, in die Riwka in der Generation vorher geraten war. Genau wie Riwka klargeworden war, daß Jitzhak sich mit der Bevorzugung Esaws irrte, glauben nun die Brüder, daß Jaakows Bevorzugung Josephs ein Fehler ist. Riwka entschied sich, einen ‚Trick‘ anzuwenden, um sicherzustellen, daß der richtige Sohn den Segen erhielt, und ganz ähnlich greifen nun auch die Brüder zu einem ‚Trick‘, um sicherzustellen, daß Joseph nicht zu ihrem Führer ernannt wird. Das ganze Schicksal von „Am Jisrael“ steht auf dem Spiel, und so halten die Brüder es für durchaus zulässig, die Regeln ein wenig zu beugen, um die Zukunft des Volkes zu sichern.

Eine ideale Gelegenheit (für die Brüder) ergibt sich bei Josephs Ankunft in Dotan, als er sie besuchen will. Um die Bedrohung loszuwerden, planen sie seine Ermordung. Später dann entschließen sie sich, ihn in ein fernes Land zu verkaufen. In jedem Fall wollen sie erreichen, daß Joseph aus der göttlichen Familie verschwindet (siehe 37:20 – „w’nireh mah jihijeh im chalomotaw“). Aus Achtung vor ihrem Vater und aus Sorge um ihn, der sich den Rest seines Lebens um das Schicksal seines ‚verschwundenen‘ Sohnes den Kopf zerbrechen könnte, wollen sie Josephs Rock in Blut tränken, so daß Jaakow wirklich an seinen Tod glaubt. Durch ihr Tun soll der Vater schließlich erkennen, daß Joseph „nidcheh“ (verworfen) war und Am Jisrael nun auf dem rechten Weg weiterschreiten kann.

Auf der Grundlage des Themas von Sefer Bereschit ist also der Plan der Brüder zur Beseitigung Josephs, wenn auch unentschuldbar, so doch verständlich. Sie handeln nicht einfach aus unwürdiger und kleinlicher Eifersucht, sondern vielmehr aus einer ‚ernsthaften‘ Sorge um die Zukunft von Am Jisrael.

Hochfliegende spirituelle Ziele machen uns oft blind für die ganz grundlegenden Prinzipien moralischen Verhaltens. Die Lektion, die wir aus der Geschichte von „Mechirat Joseph“ lernen können, gilt insbesondere für unsere eigene Generation, sowohl auf der Ebene des Volkes wie auf der jedes Einzelnen von uns.

TEIL II – WARUM SCHREIBT JOSEPH NICHT NACH HAUSE?

Bis hierher haben wir uns auf die Wahrnehmung des „Bechira“-Prozesses durch die Brüder konzentriert. Nun wenden wir uns Josephs Auffassung des „Bechira“-Prozesses zu, um unsere zweite Frage zu beantworten:

In Anbetracht von Josephs [Jaakows „Ben zkunim“ /siehe 37:3] besonders engem Verhältnis zu seinem Vater könnte man erwarten, daß er alles tut, um Kontakt zu seinem Vater aufzunehmen. Aber selbst nach seiner Ernennung zum Hauptdiener im Haus Potiphars unternimmt Joseph nichts, um seinem Vater mitzuteilen, daß er lebt und daß es ihm gut geht. Und nach seiner Ernennung in eine Position direkt unter dem Pharao selbst hätte es für ihn erst recht keinerlei Problem gegeben, Kontakt zu seinem Vater aufzunehmen. Aber Joseph unternimmt nichts. Es scheint fast, als habe er seine Vergangenheit aus dem Gedächtnis gestrichen.

Besonders Ramban wirft diese Frage auf (siehe 42:9), und auch zahlreiche andere Kommentatoren beschäftigen sich mit dem Problem. Ramban erklärt, Josephs Handlungsweise gehe auf die Absicht zurück, seine Träume Wahrheit werden zu lassen. Irgendwie hat Joseph verstanden, daß er keinen Kontakt zu seiner Familie aufnehmen darf, wenn der göttliche Plan sich entfalten soll.

Awrabanel argumentiert auf der Grundlage von Rambans Annahme, Joseph habe vor allem seine Kindheitsträume erfüllen wollen. Er erklärt Josephs ganze Strategie als Versuch, seine Brüder zur Vollbringung der rechten Teschuva zu bringen (siehe Nechama Leibowitz zu Bereschit; sie befaßt sich ausgiebig mit dieser „Schita“). Awrabanels Erklärung kann jedoch nicht die Frage beantworten, weshalb Joseph keinen Kontakt zu seinem Vater aufnahm, BEVOR seine Brüder nach Ägypten kamen!

R. Joel Bin Nun bietet in einem Artikel in Megadim Bd. I eine faszinierende Lösung auf der Grundlage einer Analyse von Josephs Auffassung des „Bechira“-Prozesses.

In unserem Schiur wollen wir Josephs Verhalten während der ersten zwanzig Jahre mit Hilfe von Raw Bin Nuns Ansatz erklären, d.h. Josephs Verhalten VOR der Ankunft seiner Brüder. Um aber Josephs HAUPTPLAN zu erklären, ziehen wir auch Awrabanels Ansatz in Betracht, und dazu werden wir auch ein klein wenig unseren eigenen ‚Dreh‘ ins Spiel bringen.

Raw Joel beginnt seinen Artikel, indem er sich kritisch mit Rambans Grundannahme auseinandersetzt, wonach Joseph sich für die Verwirklichung seiner Träume verantwortlich fühlt. Er hält Rambans Annahme für undenkbar, nach der die Verursachung solchen Leids beim eigenen Vater bloß aufgrund eines Traums erlaubt sei. Raw Joel bestreitet auch, daß das „Pshat“ dieser Parscha darauf hindeute, daß sich Joseph an seine Träume erst erinnert habe, NACHDEM seine Brüder angekommen waren. In den über zwanzig Jahren vorher scheint er seine Träume einfach vergessen zu haben!

Zur Erklärung von Josephs Verhalten schlägt Raw Joel die Annahme vor, Joseph wisse überhaupt nicht, daß sein Vater ihn für tot hält. Vielmehr sei Joseph sicher, daß die Brüder wissen, daß er verkauft wurde; folglich erwarte er, daß sein Vater (und/oder seine Brüder) zu seiner Rettung eilen würden. Schließlich sind die Jischmaeliten internationale Händler, die oft durch Eretz Kenaan kommen. Sicherlich hofft Joseph, daß sein Vater von seinem Verkauf erfährt und die Brüder nach Ägypten schickt, ihn zu retten. Aber viele Monate verstreichen, und niemand kommt. Josephs Hoffnungen machen einem Gefühl des Abgelehntseins Platz. Nach mehreren Monaten (oder Jahren) kommt er langsam zum Schluß, daß er aus dem „Bechira“-Prozeß ausgeschlossen worden sein muß. Widerstrebend nimmt er sein neues Schicksal an, da er der Meinung ist, in seiner Familie nicht länger ‚erwünscht‘ zu sein.

Die Logik hinter Josephs ‚Fehlschluß‘ läßt sich auf zweierlei Weise erklären – entweder durch eine ‚Verschwörungstheorie‘ oder durch einen konservativeren Ansatz.

DIE VERSCHWÖRUNGSTHEORIE

Werfen wir einen Blick auf die Ereignisse aus Josephs Sicht. 17 Jahre alt, voller Energie, mit den Gefühlen eines Teenagers, wird Joseph von seinem VATER ausgeschickt, um nach den Brüdern zu sehen; sobald sie ihn aber sehen, nehmen sie ihm seinen Rock und werfen ihn in eine Grube. Kurz darauf kommt eine Gruppe von Midjanim (oder aber seine Brüder / siehe Schiur vergangener Woche), um ihn aus der Grube zu holen und an eine Karawane von Jischmaelim zu verkaufen. Joseph schließt daraus, daß seine Brüder ihm einen ‚dummen Streich‘ spielen oder ihn sogar in die Sklaverei verkauft haben. Erinnern wir uns aber, daß Joseph nichts vom Komplott der Brüder weiß. Sehr wahrscheinlich nimmt er an, daß sein Vater der Sache nachgehen (oder jemand ‚auspacken‘) wird, sobald die Brüder nach Hause kommen, und daß Jaakow dann die Spur nach Ägypten verfolgen und Joseph finden wird.

Joseph hat aber keine Ahnung, daß die Brüder den Vater mit dem blutgetränkten Rock getäuscht haben. Er weiß nicht, daß sein Vater annimmt, daß er von einem wilden Tier gefressen wurde.

Die Monate verstreichen, nichts geschieht. Joseph fragt sich langsam, weshalb niemand nach ihm sucht. Macht sich sein Vater gar keine Sorgen um ihn? Weshalb haben ihn die Brüder in die Grube geworfen? Warum hat sein Vater ihn ganz allein auf den weiten Weg zu seinen Brüdern geschickt, die ihn hassen? Allmählich wird Joseph klar, daß Jaakow irgendwie auf göttliche Weisung gehandelt haben muß und daß er selbst, Joseph, verworfen wurde, weil nur Leahs Kinder [und nicht Rachels] ‚auserwählt‘ wurden. Rachel hatte, wie ihr früher Tod zeigt, nicht dieselbe Mutterposition erreicht wie Sarah und Riwka.

In seinem Artikel stellt Raw Bin Nun sogar die Vermutung an, Joseph könnte geglaubt haben, die ganze Verschwörung, die zu seinem Verkauf geführt hat, gehe auf seinen Vater zurück. Statt Joseph direkt vor die schreckliche Wahrheit zu stellen, hat der Vater vielleicht die Brüder die ‚Schmutzarbeit‘ tun lassen. Nur so lasse sich die bizarre Abfolge der Ereignisse erklären.

JOSEPH ‚HATTE‘ EINEN TRAUM

Auch ohne daß wir von einer solchen ‚Verschwörungstheorie‘ ausgehen, mag Joseph angenommen haben, daß die Brüder bei ihrer Rückkehr nach Hause ihren Vater davon überzeugt haben, daß Josephs Verschwinden ein göttliches Zeichen für seine Verwerfung war. So oder so kam Joseph zum Schluß, von seiner Familie verstoßen worden zu sein. Er nimmt sein Schicksal an, entschließt sich, sein eigenes Leben zu führen, abgeschnitten von seiner Familie und von seinen Kindheitsträumen. Genau wie Esaw Edom aufbaute, wird Joseph sich nun in Ägypten einen Namen machen. Er kann sogar auf seine Weise den Namen Gottes in diese Gesellschaft bringen, auch wenn er nicht zum Auserwählten Volk gehört.

Folgende Tabelle verdeutlicht Josephs Auffassung des Ergebnisses des „Bechira“-Prozesses (auf der Grundlage seines ‚Mißverständnisses‘):

Dieses tragische Mißverständnis erklärt, weshalb Joseph selbst nach seinem Aufstieg in Ägypten keinen Kontakt zu seiner Familie aufnahm. Das alles ändert sich zwanzig Jahre später, als Joseph seine Brüder erkennt, die nach Ägypten gekommen sind, um Getreide zu kaufen. Als sie sich vor ihm verneigen, erinnert sich Joseph plötzlich an seine längst vergessenen Träume. Soll er das nun als bloßen ‚Zufall‘ abtun, oder sollte diese teilweise Erfüllung seines Kindheitstraums ihn dazu bringen, seine früheren Überlegungen noch einmal zu überdenken?

Vor diesem Hintergrund versuchen wir nun, Josephs Plan zu erklären.

JOSEPH HAT EINEN PLAN

Welche Strategie verfolgt Joseph, als er seine Identität verbirgt? Weshalb beschuldigt er seine Brüder der Spionage? Weshalb gibt er ihnen ihr Geld zurück? Und weshalb versteckt er später seinen Becher in Benjamins Tasche?

Man könnte zwar annehmen, Joseph ‚spiele‘ nur mit seinen Brüdern (um es ihnen ‚heimzuzahlen‘), aber diese Ereignisabfolge legt doch eher nahe, daß Joseph eine Art Hauptplan verfolgt.

Raw Bin Nun erklärt Josephs Vorgehen als Versuch herauszufinden, was damals mit Benjamin geschehen ist. Die Tatsache, daß Benjamin das erste Mal nicht bei den Brüdern war, bestärkt Joseph in der Vermutung, daß Bnei Rachel verworfen wurde. Daher muß er Benjamin zunächst von den Brüdern trennen, um herauszufinden, was wirklich geschehen ist.

Diese Erklärung paßt zwar sehr gut zur obigen Darstellung, aber sie sagt uns nichts über andere Details von Josephs Verhalten nach der Ankunft Benjamins. Josephs offensichtlicher Versuch, die Brüder in eine Lage zu zwingen, in der sie Reue zeigen müssen, ist gar nicht zu übersehen (wie Awrabanel erklärt).

Andererseits müssen wir aber auch erklären, weshalb Joseph den Brüdern das Geld zurückgibt, weshalb er sie nach Alter geordnet niedersitzen läßt usw. Das scheint mehr ‚Spiel‘ zu sein als ein Versuch, sie zur „Teschuwa“ (Reue) zu bewegen. Welche Absicht verfolgt Joseph? Wenn die Brüder bloß Teschuwa vollbringen sollen, nun, dann haben sie bereits bei der ersten Begegnung Reue für ihre Sünden gezeigt (siehe 42:21-23)!

Weshalb muß Joseph zudem seine Brüder prüfen, um zu sehen, ob sie bereut haben? Darf Joseph denn Gott spielen? Darf er spielen, Tricks anwenden und andere verwirren, um ihre Seele aufzuwecken? Und rechtfertigt all das weiteres Leid und weitere Sorge für den Vater?

GOTT ODER MENSCH SPIELEN

Man könnte sich folgende Erklärung denken:

Joseph erkennt seine Brüder, und ihm wird klar, daß seine Kindheitsträume doch noch wahr werden könnten. Wenn Benjamin noch zur Familie gehört, wie die Brüder behaupten, dann kann der „Bechira“-Prozeß tatsächlich auch Bnei Rachel eingeschlossen haben. Plötzlich fügt sich alles wie zu einem großen Puzzle zusammen. Die Familie wird wieder zusammenkommen, und er, Joseph, wird ihr Oberhaupt werden. Joseph erkennt nun Gottes Handschrift auf jedem Puzzleteilchen, aber noch kann er sich seinen Brüdern nicht offenbaren, und zwar aus einem ganz einfachen Grund. Er würde damit eine Wunde aufreißen, die nie mehr zu heilen wäre. Erklären wir das.

Joseph muß gar nicht GOTT spielen, um seine Brüder zur Teschuwa zu bringen; Gott ist ihm immer einen Schritt voraus. Joseph muß aber den FÜHRER spielen. Hätte er angesichts der durch „Mechirat Joseph“ geschaffenen Situation zu diesem Zeitpunkt seine Identität enthüllt, hätten seine Brüder ihm nie und nimmer gegenübertreten können. Was hätten sie ihm auch sagen sollen? Auch wenn alle Brüder weiter ‚auserwählt‘ geblieben wären, hätte es keine Einheit der Familie und keine Brüderlichkeit mehr geben können. Joseph mußte etwas unternehmen, um die Familie wieder zusammenzuführen. Er mußte eine Lage schaffen, die die Familie sowohl geistig wie physisch zusammenbinden konnte. [Genau das ist die Aufgabe eines wahren Führers.]

Hätte Joseph zudem jetzt seinen Vater informiert (bevor er die Brüder aufklärte), dann hätte Jaakow sie in seinem Zorn sicher verflucht. Und das wäre für die Zukunft von Am Jisrael mit Sicherheit katastrophal gewesen. Joseph muß also seine Gefühle zügeln, wenigstens für einige Wochen, um die Familie wirklich einen zu können.

Josephs wichtigstes Ziel ist die Schaffung einer Lage, in der die Brüder sich selber von ihrer Schuld erlösen können – und zwar, indem sie einer schwierigen Prüfung unterworfen werden: die Brüder müssen ihr Leben verwirken, um Benjamin zu retten. [Joseph verwirrt die Brüder noch auf viele andere Arten, um sie ein wenig durchzuschütteln / „Cheschbon ha’Nefesch“.] Indem er seinen Becher in Benjamins Tasche versteckt, wird Joseph nicht nur herausfinden, ob die Brüder Teschuwa vollbracht haben, sondern die Brüder erhalten auch Gelegenheit, SICH SELBST ZU BEWEISEN, daß sie Teschuwa g?leistet haben! Erst wenn sie bereit sind, ihr Leben für Benjamin hinzugeben, können sie Joseph als ihrem Bruder gegenübertreten und kann die Familie ihre Einheit wiederfinden.

Mit Abschluß dieser ganzen Episode hat Gott eine Lage geschaffen, die das schließliche Überleben von Am Jisrael sichert. Joseph selbst hat in der Zwischenzeit eine Situation herbeigeführt, die Am Jisrael zusammenhält.

Durch die Generationen hindurch überblickt Gott unsere Geschichte und sorgt für unser Überleben. WIR SELBST sind aber für unsere Einheit verantwortlich.

Schabbat Schalom,
Menachem

Ein Projekt der Synagoge Fraenkelufer-Berlin